Ein linker Fuß in der Tür: Analyse der Wien-Wahl

Warum das LINKS-Ergebnis bei der Wien-Wahl kein Durchbruch, aber ein wichtiger Schritt nach vorne ist, weshalb den Grünen ihr Rechtsruck nicht schadet und wie die SPÖ mit Schweigen zum Erfolg kam, analysieren Martin Konecny, Sonja Luksik, Lukas Oberndorfer, Mahdi Rahimi und Valentin Schwarz.

Der Artikel wurde nach Auszählung der Briefwahlkarten aktualisiert.

1. LINKS: Ein Auftrag für die nächsten Jahre

Eine linke Opposition für Wien: Mit diesem Ziel ist LINKS angetreten, darunter ehemalige und aktive mosaik-Redakteur*innen. Die Partei hat einiges anders gemacht als frühere Kandidaturen: Sie hat sich bereits Anfang des Jahres gegründet statt erst kurz vor der Wahl. Sie hat hunderte Aktivist*innen an sich gebunden, viele von außerhalb der linken Szene. LINKS ist außerdem weniger weiß und männlich als bisherige Kandidaturen.

Mit beeindruckendem ehrenamtlichem Einsatz war LINKS in der Lage, kurzfristig hochkochende Themen wie die Moria-Aufnahmekrise oder die Proteste gegen das Lueger-Denkmal aufzugreifen, statt nur Vorbereitetes abzuspulen. Auch mit länger geplantem Aktionismus hat LINKS spektakuläre Bilder produziert, wie es sie bisher selten gegeben hat. Ihre Social Media-Auftritte sind lebendig und humorvoll. Auch die Außenbedingungen waren gut: Anders als 2015 standen Platz 1 für die SPÖ und die rot-grüne Mehrheit nie in Frage.

Erfolge auf Bezirksebene

Trotz allen genannten Vorteilen war der Sprung über die 5-Prozent-Hürde in den Gemeinderat bei dieser Wien-Wahl stets unrealistisch. Die erreichten 2 Prozent stellen immerhin eine Verdoppelung gegenüber 2015 dar und sind ein Achtungserfolg.

Den größten Grund zur Freude hat LINKS allerdings auf Bezirksebene. Im Vergleich zu Wien Anders 2015 konnte die Partei im gesamten Stadtgebiet zulegen, ihre Bezirksratsitze von 6 auf 23 beinahe vervierfachen und in sieben Bezirken sogar Klubstärke erreichen. Nach Auszählung der Briefwahlkarten liegt LINKS in vierzehn Bezirken vor dem Team Strache, in sechs vor der FPÖ und in einem vor den Neos – und das mit viel geringeren Mitteln.

Die Erfolge auf Bezirksebene bringen mehr Sichtbarkeit und auch mehr Geld. Diese Ressourcen kann LINKS in den nächsten Jahren nützen, um die eigenen Strukturen auszubauen und lokale Aufbauarbeit zu machen. Denn der Wahlkampf zeigt auch: Ohne eine starke Basis und finanzielle Mittel ist es für eine Linke kaum möglich, den medialen Quasi-Boykott zu durchbrechen.

Über Stammpublikum hinauskommen

Die starken Ergebnisse rund um den Westgürtel legen nahe, dass LINKS vor allem sein Stammpublikum erreicht hat, etwa prekäre Studierende oder migrantische Akademiker*innen. In Flächenbezirken wie Floridsdorf und Simmering konnte LINKS kaum Fuß fassen. Um über das eigene Milieu hinauszukommen, war manches an Auftritt und Sprache zu szenig. Auch fehlten erkennbare Schwerpunkte aus dem umfassenden Programm und konkrete stadtpolitische Forderungen, die die Vision einer „Stadt für alle“ vorstellbar machen. Klare Ankündigungen, was die Wähler*innen von einem LINKS-Einzug konkret hätten – etwa eine aus Abgeordnetengehältern finanzierte Mieter*innenhilfe, wie sie die KPÖ in Graz bietet, oder lokale Organizing-Angebote – hätten das Ergebnis vermutlich weiter verbessert.

Der Weg zu einer starken Linken in Wien ist lange – und diese Wahl war ein wichtiger Schritt.

2. SPÖ: Wenig über Migration reden, viel über Verwaltung

2015 gewann die SPÖ die Wien-Wahl dank Mobilisierung für ein stark übertriebenes „Duell um Wien“ zwischen Häupl und Strache. Auch ohne dieses Gespenst gewann die SPÖ diesmal dazu – und erstmals seit vielen Jahren nicht auf Kosten der Grünen. Am stärksten konnte sie in Flächenbezirken wie Floridsdorf oder Favoriten (jeweils plus 8 Prozentpunkte) zulegen. Zugleich verlor sie in den grün-lastigeren Innenbezirken nur wenig.

Die Strategie der SPÖ war relativ einfach: Möglichst wenig über das Thema Migration, Geflüchtete und Rassismus reden – und möglichst viel darüber, wie gut verwaltet Wien doch ist. “Wien ist leiwand”, könnte man die rote Strategie zusammenfassen, “vor allem dank uns. Und das wissen alle außer den Wienhassern von der ÖVP.” Diese Botschaft kam sichtlich an.

Corona verdrängt unangenehme Themen

Die Corona-Epidemie verdrängte viele für die SPÖ unangenehme Themen – darunter auch, unter welchen Bedingungen Geflüchtete an den EU-Außengrenzen hausen müssen. Wie unangenehm Michael Ludwig das Thema ist, zeigte er unfreiwillig in der ZiB 2. Auf die Frage Armin Wolfs nach dem Wahlrecht für alle wollte er zuerst gar nicht antworten – um sich schließlich dagegen auszusprechen.

Bereits Ludwigs Wahl zum Wiener SPÖ-Chef brachte eine – oft falsch verstandene – Rechtsverschiebung der Partei. Das aktuelle Wahlergebnis verfestigt sie. Ludwig ist weder offen migrationsfreundlich noch -feindlich. Wer in der SPÖ eine offensive antirassistische Linie einfordern will, wird es künftig noch schwerer haben. Auf den unteren Ebenen ist das anders: Die SPÖ war mehr als andere Parteien an den Black Lives Matter-Demos beteiligt, Mireille Ngosso ist aktiv und sichtbar.

Mit dieser Linie und gegen schwache Gegner*innen konnte die SPÖ die Wien-Wahl locker gewinnen. Die großen Fragen bleiben aber offen: Wofür steht die SPÖ? Welche Vorstellungen hat sie von einer modernen, linken Metropole? Wie will sie die Konsequenzen der Klimakrise in Wien abfedern? Den Mythos der eigenen Vergangenheit zu pflegen wird nicht ewig ausreichen.

3. Den Grünen schadet ihr Rechtsruck im Bund nicht

Fehlende Durchsetzungskraft und feiges Mittragen von menschenverachtender ÖVP-Politik auf Bundesebene? Das hat den Grünen in Wien offensichtlich nicht geschadet. Ganz im Gegenteil: Sie konnten sogar um ein paar Prozentpunkte zulegen. Die Botschaft „Wer Rot-Grün will, muss Grün wählen“ ist bei den Wähler*innen offenbar angekommen.

Die Grünen haben heute im bürgerlich-liberalen Milieu die politische Führungsrolle. Diese Menschen wählen die Regierungspartei nicht, damit sie das Ende einer mörderischen Asylpolitik und die Aufnahme von Geflüchteten aus Höllenlagern wie Moria erreicht. Das ist unrealistisch, sagen ihnen die Grünen, und sie akzeptieren das. Schlimmer geht schließlich immer, siehe das Schreckgespenst Türkis-Blau. Die zynische Logik des “kleineren Übels” – über Jahrzehnte von der Sozialdemokratie perfektioniert – ist mittlerweile fixer Bestandteil grüner Politik.

Lifestyle statt Alternative

Das verändert auch die Grün-Wähler*innen. Die Aufnahme von Flüchtlingskindern ist ihnen mittlerweile messbar egaler als Neos-Anhänger*innen. Wichtiger sind ihnen offenbar klimapolitische Slogans, verkehrsberuhigte Grätzel und genügend Radwege. Grün-Wählen ist bei vielen zum Lifestyle geworden. Die Stimmabgabe bestätigt in der eigenen Identität und sorgt für das reine Gewissen, zumindest irgendwas gegen den drohenden Klimakollaps zu tun. Die Vision einer gerechten Stadt? Gar Alternativen zum Katastrophen-Kapitalismus? Das gibt es bei den Grünen nicht mehr – und wird von ihren Wähler*innen auch nicht mehr verlangt.

4. Das rechtsextreme Lager ist abgestürzt wie noch nie

Die FPÖ war schon öfter am Boden, aber so tief unten wie heute war sie noch nie. Nach Eintritt in die schwarz-blaue Regierung 2000 und der folgenden Parteispaltung fiel sie in Wien von knapp 28 auf 15 Prozent – und das im Lauf von zwei Wahlen. Nun ist sie an einem Sonntag von 30 auf knapp 8 Prozent abgestürzt.

Selbst wenn man das Team Strache einrechnet, ist das der größte Verlust des rechtsextremen Lagers in der Geschichte. Mit dem Scheitern des Ex-Parteichefs sind zudem 3,6 Prozent rechter Stimmen gestrandet und bringen zumindest keine zusätzlichen Hetzer in den Landtag. Das Ergebnis zeigt auch, dass der Anteil jener Wähler*innen, die so stark an die FPÖ gebunden sind, dass sie sie (oder Strache) unter allen Umständen wählen, gut 11 Prozent beträgt.

Natürlich besteht die Gefahr, dass sich die FPÖ rasch wieder erholt. Aber erstmal hat das rechtsextreme Lager weniger Ressourcen, Raum und Redezeit – und das ist eine gute Nachricht.

Führende Kraft des Rechtspopulismus ist die ÖVP

Die Führungsrolle im rechten Lager hat die ÖVP. Sie konnte 9,5 Prozentpunkte dazugewinnen. Während die FPÖ nach der Ibiza-Affäre immer noch mit sich selbst beschäftigt ist und sich eine Schlammschlacht mit dem Ex-Chef lieferte, bietet die Bundes-ÖVP rechten Wähler*innen das, was sie wollen, etwa Kälte gegen Geflüchtete und Kriminalisierung von Muslim*innen. Zusätzlich übernahm Spitzenkandidat Gernot Blümel im Wahlkampf alte FPÖ-Wordings und sprach etwa davon, dass sich „2015 nicht nicht wiederholen dürfe“.

Dennoch kam es zu keinem Durchmarsch der ÖVP. Sie konnte weit weniger dazugewinnen als erwartet und weniger als die Hälfte der Ex-FPÖ-Wähler*innen an sich binden. Insgesamt fiel der rechte Block aus ÖVP, FPÖ und Strache im Vergleich zu 2015 von 40 auf 30 Prozent – eine Seltenheit in ganz Österreich.

Zwei Erklärungen bieten sich an: Erstens hat Corona wirtschaftliche und soziale Sorgen in den Vorder- und rassistische Hetze in den Hintergrund gedrängt. Zweitens hat die oben beschriebene Strategie der SPÖ, über Flucht und Rassismus so wenig wie möglich zu sprechen, funktioniert. Vor allem in den lange blau geprägten Flächenbezirken war sie es, die von der FPÖ-Implosion profitieren konnte.

5. Koalition: Wer macht’s am billigsten?

Die SPÖ hat alle Optionen. Michael Ludwig wird wohl Verhandlungen mit ÖVP, Grünen und auch den Neos starten und sich am Ende für jenen Partner entscheiden, der sich am billigsten hergibt.

Eine Koalition mit der ÖVP wäre für die SPÖ attraktiv, weil sie damit die Angriffe aus der Bundesregierung neutralisieren könnte. In der Verkehrs- und Klimapolitik könnte sie in die Tiefen des 20. Jahrhunderts zurückkehren. Zudem befindet sich die SPÖ ohnehin bereits in einer De-Facto-Koalition mit der Wirtschaftskammer Wien (WKW). Gleichzeitig wird die ÖVP wohl wichtige Ressorts verlangen, etwa für Finanzen. Selbst wenn die ÖVP einen „schwarzen“ Vizebürgermeister wie WKW-Präsident Walter Ruck vorschickt, gäbe es im Hintergrund jede Menge türkiser Quertreiber*innen. Auch die Ankündigung Blümels, bei einer Regierungsbeteiligung jedenfalls nach Wien zu wechseln, dürfte Ludwig eher abschrecken.

Die Neos haben sich der SPÖ offensiv angedient. Dafür spricht, dass sie der schwächstmögliche Partner wären. Noch ist nicht einmal klar, ob die Neos im Wiener Proporzsystem überhaupt einen Stadtratssitz erhalten. Eine Koalition ist dennoch unwahrscheinlich, weil die Neos gegen Sozialpartnerschaft, Korruption und Vetternwirtschaft stehen – mit klar neoliberaler Schlagseite.

Am wahrscheinlichsten ist Rot-Grün III

Die besten Chancen haben wieder die Grünen. Dazu müssten sie sich wohl trotz Zugewinnen billiger hergeben als zuletzt. Vermutlich gelingt ihnen das ohne Gesichtsverlust, da konkrete Forderungen im Wahlkampf ohnehin kaum vorhanden waren. Ihre Linie, um jeden Preis zu regieren, wurde bislang kaum wo von den Wähler*innen bestraft.

Egal, für wen sich die SPÖ schließlich entscheidet: Sie wird ihren Kurs des guten Verwaltens, ohne Lösungen für die großen Krisen wie Arbeitslosigkeit, Klima und Rassismus oder gar eine Vision für die Stadt der Zukunft, weiterführen können. Angesichts dieser Perspektive ist es gut, dass es nun quer durch die Stadt linke Bezirksrät*innen gibt, die aufzeigen können, was wirklich nötig ist.

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