2020 und Hoffnung: Das ist wohl nicht das erste, was einem einfällt. Doch trotz und auch wegen der Corona-Krise gingen vergangenes Jahr Millionen Menschen auf die Straße, organisierten sich und erkämpften soziale Errungenschaften.
Hoffnung ist kein frommer Wunsch, keine Illusion, sondern – wie die britische Feministin Laurie Penny schreibt – ein Muskel, den man trainieren muss. Dort, wo Menschen massenhaft zusammenkommen, um für eine bessere Zukunft zu kämpfen, entsteht die Hoffnung auf einen Ausweg aus der kapitalistischen Dauerkrise. Wir haben daher 10 Erfolge und Bewegungen ausgewählt, die zeigen was möglich wird, wenn wir gemeinsam Hoffnung schaffen.
1) Argentinien: Feministische Bewegung erkämpft Abtreibungsrechte
Freude und Erleichterung stehen ihnen ins Gesicht geschrieben: Frauen kämpften jahrelang für Selbstbestimmungsrechte – nun legalisiert Argentinien als erstes südamerikanisches Land Schwangerschaftsabbrüche.
Die Bewegung, zu erkennen an den grünen Tüchern, erlebte 2018 einen herben Rückschlag. Damals wurde ein Gesetzesentwurf zur Entkriminalisierung von Abtreibung im Senat knapp abgelehnt. Im konservativen Argentinien waren Abtreibungen bis heute nur erlaubt, wenn die Schwangerschaft durch Vergewaltigung zustande kam oder wenn das Leben der Mutter in Gefahr war.
Am 30. Dezember stimmte der Senat nach 12-stündiger Debatte endlich für eine Legalisierung von Abbrüchen bis zur 14. Woche. Im Idealfall werden diese sobald als möglich kostenlos und sicher im öffentlichen Gesundheitswesen angeboten.
Während die Frauenbewegung in Argentinien feiert, geht der Kampf um Abtreibungsrechte in Polen weiter. Mit Unterstützung der katholischen Kirche plant die rechtskonservative PIS-Regierung eine Verschärfung des ohnehin schon enorm restriktiven Abtreibungsgesetzes. In Zukunft soll es ein komplettes Verbot von Abtreibungen geben, ohne jegliche Ausnahmen. Dagegen formiert sich seit Mitte Oktober Widerstand im ganzen Land. Bleibt zu hoffen, dass die Bewegung auch hier Erfolg hat.
2) „Black Lives Matter“: Kampf gegen Rassismus, der tötet
Sie begannen in Minneapolis und erstreckten sich schon bald über den ganzen Erdball: Proteste gegen Rassismus und Polizeigewalt. Die Ermordung des US-Amerikaners Georg Floyd durch vier Polizisten im Mai war der Ausgangspunkt für eine soziale Explosion und das Aufflammen der „Black Lives Matter“-Bewegung. Diese ist seit 2013 regelmäßig auf der Straße – so regelmäßig, wie Polizisten in den USA schwarze Menschen ermorden.
2020 erreichten die Proteste aber eine neue Qualität. Der massenhafte Aufstand von Schwarzen und ihren Verbündeten drängte die Herrschenden in die Defensive. Forderungen nach Kürzungen oder gar Abschaffung der Polizei wurden Mainstream. Dutzende Städte begannen unter dem Druck der Bewegung zum Teil tiefgreifende Reformprozesse.
„Black Lives Matter“ ist längst eine globale Bewegung und machte auch vor Österreich nicht halt: Im Juni prangerten 50.000 Menschen in Wien strukturellen Rassismus an. Vor allem Junge nahmen an einer der größten und beeindruckendsten Demonstrationen der letzten Jahre teil. Viele Teilnehmer*innen brachten selbstgebastelte Schilder mit, stimmten Sprechchöre an und hatten von eigenen Erfahrungen mit Rassismus zu berichten.
„Black Lives Matter“ warf außerdem die Frage auf, wie Antirassismus im eigenen Handeln gestärkt werden kann. Es fand einer reger und solidarischer Austausch über antirassistische Strategien und Praxistipps statt. Die Bewegung hat den Kampf gegen und die Diskussion über Rassismus jedenfalls nachhaltig verändert.
3) Kubanische Ärzt*innen zeigen der Welt, was internationale Solidarität bedeutet
Wir erinnern uns an die schrecklichen Bilder aus Bergamo (Italien) im Frühjahr, wo die Pandemie innerhalb kürzester Zeit den Tod von tausenden Menschen mit sich brachte. Das Gesundheitssystem mitsamt seinem Personal stand vor dem Kollaps, eine gesamte Region war fast komplett von der Außenwelt abgeschnitten.
Dann ging eine gute Nachricht um die Welt. Eine jener Nachrichten, die in Pandemiezeiten Hoffnung geben: Mitte März kamen mehr als 50 kubanische Ärzt*innen und Krankenpfleger*innen in Rom an, um zu helfen. Ihr Ziel war die Lombardei. Und es blieb nicht bei Italien. Im Kampf gegen das Corona-Virus schickte Kuba Gesundheitspersonal in rund 60 Länder.
Die medizinischen Brigaden des kubanischen Internationalismus haben eine lange Tradition. Und das, obwohl die US-Sanktionen ihre Arbeit verkomplizieren und Kuba selbst ein relativ armes Land ist. Umso schöner, dass kubanische Ärzt*innen und Pfleger*innen der Welt trotzdem zeigen, was internationale Solidarität bedeutet.
4) LINKS erobert Wiener Bezirksräte
Im Jänner gegründet, im Oktober schon hunderte Aktivist*innen und 23 Bezirksratssitze: Mit beeindruckendem ehrenamtlichem Einsatz machte LINKS auf soziale Ungleichheit und Armut, Rassismus und Ungerechtigkeit am Wohnungsmarkt aufmerksam. An die spektakulärste Aktion im Wahlkampf können wir uns noch gut erinnern: In Großbuchstaben prangte der Satz „Hier ist Platz“ vor sieben Gebäuden. LINKS wollte deutlich machen, dass es in leerstehenden Spekulationsobjekten wie Wohnhäusern sowie in Hotels genügend Platz für Menschen aus dem Flüchtlingslager Moria gibt.
Auch wenn der Sprung über die 5-Prozent-Hürde in den Gemeinderat scheiterte, konnte LINKS immerhin 2 Prozent erreichen – das beste Ergebnis für eine linke Kandidatur in Wien seit Jahrzehnten. Den größten Grund zur Freude hat die neue Partei allerdings auf Bezirksebene. Im Vergleich zu Wien Anders 2015 konnte sie im gesamten Stadtgebiet zulegen, ihre Bezirksratssitze von 6 auf 23 beinahe vervierfachen und in sieben Bezirken sogar Klubstärke erreichen. In einigen Bezirken schnitt LINKS sogar besser ab als das Team Strache, die FPÖ oder die Neos.
Der Einzug in die Bezirksräte bringt mehr Sichtbarkeit und auch mehr Geld. Diese Ressourcen kann LINKS in den nächsten Jahren nützen, um lokale Aufbauarbeit zu machen. Ein erster Erfolg zeigt sich bereits im 20. Bezirk: Dort konnten die zwei Bezirksrät*innen einen Antrag durchsetzen, der das Gelände der Allgemeinen Unfallversicherung (AUVA) der Immobilienspekulation entziehen will. LINKS Brigittenau fordert eine Bausperre, bis die Fläche auf „Gebiet für geförderten Wohnbau“ umgewidmet wird.
In Wien gibt es jetzt eine linke Opposition, von der wir sicher noch viel hören werden.
5) Chile: Die Massen schreiben Geschichte und eine neue Verfassung
Nach Jahrzehnten endlich das Erbe der Pinochet-Diktatur und des Neoliberalismus beseitigen: Das will Chile mit einer neuen Verfassung schaffen. Beinahe 80 Prozent stimmten am 25. Oktober für einen verfassungsgebenden Prozess. Dass es so weit kommen konnte, ist das Ergebnis einer beeindruckenden sozialen Bewegung.
Seit 2019 sind die Menschen auf der Straße. Aus einem Protest gegen die Erhöhung von Ticketpreisen im öffentlichen Verkehr wurde eine Bewegung, die den Status Quo herausfordert – und damit die neoliberale Wirtschaftspolitik, die fortgesetzte Diskriminierung der indigenen Mapuche, den grassierenden Sexismus, die Zerstörung der Natur für Profite und vieles mehr. Eine der zentralen Forderungen der Bewegung war von Anfang an ein verfassungsgebender Prozess, um Staat und Gesellschaft auf neue demokratische und solidarische Beine zu stellen. Angesichts der nicht abflauenden Proteste musste die rechte Regierung schließlich nachgeben.
Auch heuer gingen die Menschen wieder zahlreich auf die Straße. Die Organisierung in Nachbarschaften und sozialen Bewegungen ist noch nicht zu Ende. Nach dem Erfolg bei dem Referendum stehen die Türen zu einer besseren Zukunft jetzt weit offen.
6) Gesundheitspersonal organisiert sich in der Corona-Krise
Die Pandemie machte besonders sichtbar, wie kaputt gekürzt der Gesundheits- und Pflegebereich wurde und dass das Personal ständig am Limit arbeitet.
Doch viele Pfleger*innen und Ärzt*innen lassen sich diese chronische Unterfinanzierung und Ausbeutung nicht länger gefallen. Sie organisieren sich, um für bessere Arbeitsbedingungen und einen Stopp von Privatisierungen im Gesundheitsbereich zu kämpfen.
In Belgien drehte die Belegschaft eines Brüsseler Krankenhauses der Premierministerin demonstrativ den Rücken zu. Die Beschäftigten kritisierten, dass in der Corona-Krise zwar für sie geklatscht wurde, konkrete Unterstützung und Entlastung jedoch fehlten. Dieser Protest war nicht der erste im belgischen Gesundheitsbereich: Bereits 2019 gab es wichtige Streiks in Krankenhäusern und es gründete sich die Koordinierungsgruppe „La Santé en Lutte“ (Die Gesundheit im Kampf). Ihre Forderungen reichen von einer besseren Finanzierung bis zur Erhöhung der Löhne und einer Arbeitszeitverkürzung für das Krankenhauspersonal.
In Österreich organisieren sich unterdessen 24-Stunden-Betreuer*innen. Sie wurden im Frühling extra aus Rumänien und Bulgarien eingeflogen, um einen Pflege- und Betreuungsnotstand abzufedern. Ihre Arbeit ist noch immer mies bezahlt und wenig gewürdigt. Einige rumänische Betreuer*innen haben sich nun in der aktivistischen Gruppe „DREPT pentru ingrijire“ organisiert und fordern etwa zusätzliche finanzielle Unterstützung während der Krise und gleiche Schutzmaßnahmen wie für den Rest der Gesellschaft.
7) Indien: Eine Viertelmilliarde streikt gegen Modi und Neoliberalismus
In den meisten Medien weitgehend unerwähnt blieb ein historisches Ereignis in Indien. Am 26. November streikten etwa 250 Millionen Menschen gegen die rechte und neoliberale Regierung von Narendra Modi. Es war der wahrscheinlich größte Streik in der Geschichte der Menschheit. Die Streikenden reagierten damit auf die Verschlechterungen im Arbeitsrecht und solidarisierten sich zugleich mit den ebenfalls kämpfenden Bauern und Bäuerinnen, die sich gegen die Liberalisierung der Agrarmärkte wehren.
Modi und seine hindunationalistische BJP regieren seit 2014 und verbinden eine rassistische und autoritäre Politik mit wirtschaftlichen Maßnahmen, die den Investoren gefällt. Eine gefährliche Mischung, die uns nicht nur aus Indien bekannt vorkommt. Mit gemeinsamen Massenstreiks von Arbeiter*innen und Bäuer*innen haben die Menschen ein Mittel gefunden, um diese Politik zu konfrontieren und die rassistische Spaltung der Gesellschaft zurückzuweisen.
8) Nigeria: Massen protestieren gegen Polizeigewalt
Dieser Hashtag hat nichts mit dem Corona-Virus zu tun, verbreitete sich jedoch genauso schnell: #EndSARS soll auf die Gewalt des nigerianischen Polizeikommandos SARS (Sondereinsatzkommando gegen Raubüberfälle) aufmerksam machen.
Alles fing im Oktober mit einem Video an. Es zeigt einen jungen Mann, der auf offener Straße von einer SARS-Einheit erschossen wird. Das Video wurde zum Symbol willkürlicher Polizeigewalt und tausende Menschen gingen auf die Straße. Polizeigewalt ist in Nigeria kein Einzelfall, sondern betrifft circa neun von zehn Familien.
Die Sondereinheit SARS ist mittlerweile abgeschafft. Die Proteste ebbten deswegen nicht ab, sondern flammten erneut auf. Die Abschaffung von SARS wurde als Pro-Forma-Aktion kritisiert. Denn die neu gegründete SWAT-Einheit ändere nichts an der Brutalität und an den illegalen Verhaftungen, sind die Aktivist*innen überzeugt. Sie fordern weiterhin eine Reform des gesamten Polizeiapparats.
Das nigerianische Militär griff diesmal hart durch und erschoss mehrere Menschen in Protestcamps. Die Regierung machte der Bewegung einige Zugeständnisse und die Protestierenden kündigten an, ihnen bei der Einlösung der Versprechen genau auf die Finger zu schauen und im Zweifelsfall wieder auf die Straße zu gehen. Mit #EndSARS sind in Nigeria Proteststrukturen entstanden, die es davor nicht gegeben hatte und auf die in der Zukunft zurückgegriffen werden kann.
9) Aktivist*innen blockieren Klimakiller-Konzerne
Die Klima-Bewegung lässt auch in der Pandemie von sich hören – und vor allem sehen: Mit spektakulären Blockade-Aktionen prangert sie Konzerne und ihre Lobbys an, die die Klimakrise weiter befeuern.
Im Jänner blockierten Aktivist*innen für einige Stunden den Autozulieferer Magna in Graz. Mit Mitteln des zivilen Ungehorsams protestierten sie für eine umfassende Verkehrswende und einen klimagerechten und sozialen Umbau der Automobilindustrie. Die Aktivist*innen wollten verhindern, dass LKWs, die mit Luxus-SUVs beladen sind, das Fabriksgelände verlassen. Tatsächlich stand die Produktion im Magna-Werk für drei Stunden still – in dieser Zeit konnten keine Neuwagen die Fabrik verlassen.
Neun Monate später in Wien: Aktivist*innen von „System Change not Climate Change“ ketten sich vor der Industriellenvereinigung an. Nicht individuelle Autofahrer*innen sollten blockiert werden, sondern diejenigen, die der dringend notwendigen Mobilitätswende seit Jahrzehnten im Weg stehen. Und das ist die Autolobby, die sich in der Industriellenvereinigung organisiert.
2020 zeigte die österreichische Klimabewegung eindrücklich, wie die Entscheidungen von Klimakiller-Unternehmen und ihren Interessenvertretungen skandalisiert werden können. Das Profitstreben auf Kosten von Natur und Mensch muss endlich ein Ende haben und eine klimagerechte Mobilitätswende vorangetrieben werden.
10) Bolivien: Die Menschen besiegen die Putschist*innen
2019 sah es ganz so aus, als wäre das linke Regierungsprojekt von Evo Morales und seiner Bewegung zum Sozialismus (MAS) an ein Ende gelangt. Nach 13 Jahren an der Regierung und massiven sozialen Verbesserungen für breite Teile der Bevölkerung, aber auch zunehmenden autoritäreren und bürokratischen Tendenzen, hatte sich das Projekt scheinbar erschöpft.
Zwar gewann Morales die Präsidentschaftswahlen im Oktober 2019 knapp im ersten Durchgang, aber Vorwürfe über Wahlfälschung brachten auch Teile der Bevölkerung auf die Straße, die bisher nichts mit der rechten und der alten Oligarchie nahestehenden Opposition zu tun haben wollten. Schließlich kam es zu einem Putsch. Polizei und Militär zwangen Morales zum Rücktritt und ins Exil. Aktivist*innen aus sozialen Bewegungen wurden verfolgt, linke Räume angegriffen und zerstört. Unter dem Vorwand der Pandemie verschob die rechte Putschregierung unter Jeanine Áñez die nötigen Neuwahlen ein ums andere Mal.
Trotz allen Fehlern der MAS-Regierung waren die Menschen nicht bereit, die Zerstörung ihrer Demokratie hinzunehmen. Im August 2020 begannen die sozialen Bewegungen mit Straßenblockaden für demokratische Wahlen zu kämpfen. Die massive Beteiligung von Armen und Landbevölkerung zwangen die Putschregierung schließlich in die Knie. Am 18. Oktober gewann Luis Arce, der Kandidat der MAS, mit überwältigenden 55 Prozent die Wahlen und Evo Morales konnte aus dem Exil zurückkehren. Die Menschen haben den Putsch gestoppt. Jetzt hat die MAS die Chance, ihre Fehler zu korrigieren und gemeinsam mit den sozialen Bewegungen ein neues Kapitel aufzuschlagen.