Ein Jahr nach dem Staatsstreich in Bolivien gewinnt Evo Morales‘ Partei MAS die Präsidentschafts- und Parlamentswahl. Nun hat die MAS die Möglichkeit, sich neu auszurichten und Beziehungen zu Bewegungen des Landes auszuverhandeln. Trotz zahlreicher interner Konflikte ist das Ergebnis der Wahlen vorerst eine klare Absage an Militarisierung und faschistische Tendenzen, schreibt Marie Jasser.
„Wir werden wiederkommen und wir werden Millionen sein“. Mit diesen Worten schloss der damalige bolivianische Vizepräsident Álvaro García Linera seine Rücktrittsrede am 10. November 2019. Kurz darauf flohen er und Evo Morales nach Mexiko. Das Zitat wird ursprünglich dem indigenen Widerstandskämpfer Túpac Katari zugesprochen, der 1781 über sechs Monate lang im anti-spanischen Widerstand die Belagerung der Stadt La Paz in Bolivien anführte.
MAS gewinnt Wahlen
Am 18. Oktober 2020, ein Jahr nach dem Staatsstreich in Bolivien, gewann Evo Morales´ Partei MAS (Movimiento al Socialismo) mit 55,1% der Stimmen die Präsidentschafts- und Parlamentswahl. Der neue Präsident Boliviens, Luis Arce, und sein Vizepräsident David Choquehuanca sollen Anfang November ihr Amt antreten. Der stärkste Gegenkandidat, Carlos Mesa (Comunidad Ciudadana), kam auf 28,9%. Der faschistische Regionalpolitiker Luis Fernando Camacho (Creemos) erlangte 14% der Stimmen; und das obwohl in seiner Heimatstadt Santa Cruz ein echter Personenkult um ihn betrieben wurde.
Ende der Übergangsregierung
Dieses klare Wahlergebnis beendet die fast einjährige Übergangsregierung der ultra-konservativen Präsidentin Áñez. Diese zog ihre eigene Kandidatur noch vor den Wahlen zurück. Sie übernahm im November 2019 die Präsidentschaft. Ihr Mandat als Interimspräsidentin sollte laut Verfassung nur 90 Tage dauern. Vorher war Evo Morales unter Wahlbetrugsvorwürfen nach wochenlangen Auseinandersetzungen, einem Polizeiaufstand und schließlich dem ‘Vorschlag’ des Militärs das Amt niederzulegen zurückgetreten. Dem Rücktritt und der Flucht von Evo Morales nach Mexiko folgten Rücktritte der gesamten Regierung und zahlreicher Funktionäre der MAS. Über zwei Tage lang war das Land nicht nur ohne PräsidentIn, sondern ohne jegliche Regierung.
Absage an faschistische Parteien
Die MAS und besonders Morales hatten in den Wahlen 2019 Stimmen aus der städtischen Mittelschicht eingebüßt. Eine breitere Basis zur Mobilisierung fand die Opposition der MAS, indem sie den umstrittenen Antritt zur Wiederwahl von Evo Morales politisch für sich nutzte. Die Wahlen in diesem Jahr zeigten, dass die MAS weiterhin über eine breite und mobilisierungsfähige WählerInnenschaft verfügt. Die überraschend klare Entscheidung für die MAS ist auch eine Reaktion auf die repressive Übergangsregierung von Jeanine Áñez. Und eine klare Absage an rechtskonservative und faschistische Parteien. Das vergangene Jahr war von Militarisierung, Korruption und dem ständigen Wechsel der MinisterInnen geprägt. Dazu kommt ein katastrophaler Umgang mit der COVID-19-Pandemie. Bolivien hat derzeit weltweit die dritthöchste Sterblichkeitsrate bei Corona-Erkrankungen und befindet sich in einer tiefen wirtschaftlichen Krise. Unter dem Vorwand der Pandemie wurden die Wahlen immer wieder verschoben.
Religiöse FundamentalistInnen fordern Militärputsch
Das überwältigende Wahlergebnis der MAS wird weitgehend anerkannt. Bei den AnhängerInnen Camachos, der eine zentrale Figur während des Staatssteichs im Jahr 2019 war, herrscht dennoch Ungläubigkeit und Wut. Das zeigt, wie groß die gesellschaftlichen Unterschiede im Land sind. Und wie wenig Verständnis die städtische Mittelklasse, vor allem in Santa Cruz, für den Rest der Bevölkerung und seine Lebensrealität hat. Die Jugendorganisation Unión Juvenil Cruzeñista – sie steht Camacho nahe – hat nach der Wahl zu einem erneuten Generalstreik aufgerufen. Dem Aufruf kamen nur wenige Menschen nach. Allerdings fordern nun einige ultra-religiöse und faschistische Gruppen in Santa Cruz sogar einen Militärputsch. Die Radikalisierung dieser Gruppen ist besorgniserregend.
Neuausrichtung der MAS
Die MAS hat nun, nach 14 Jahren an der Regierung und einem Jahr in politischer Unsicherheit und Verfolgung, die Möglichkeit, sich neu auszurichten. In der Debatte um die Rückkehr von Evo Morales nach Bolivien forderte zum Beispiel Eva Copa (MAS, Präsidentin des Senats) einen Generationenwechsel und eine Neuaufstellung der Partei ohne Morales und seinen engen Zirkel. Auch die Beziehung zu den verschiedenen sozialen, indigenen, bäuerlichen und ArbeiterInnenbewegungen des Landes kann neu ausgehandelt werden. Denn die Regierungen unter Morales haben, nachdem zu Anfang viele Ministerien aus den sozialen Bewegungen heraus besetzt wurden, dazu tendiert, diese strategisch zu spalten und sich gegen Kritik abzuschotten. So entstanden für viele indigene Bewegungen Parallelstrukturen: eine staatsnahe und eine in Opposition zur MAS.
Soziale Bewegungen streben nach Einfluss
Während des vergangenen Jahres wurde in den Bewegungsorganisationen viel über das Verhältnis zur MAS als politisches Instrument reflektiert. Nun streben viele soziale Bewegungen wieder nach mehr direktem Einfluss im Plurinationalen Staat. Zum Beispiel verlangt die Zentralgewerkschaft COB, das Arbeitsministerium mit einer Person aus ihren Reihen zu besetzen und die Dachorganisation indigener Landarbeiterinnen fordert die Leitung des Frauenministeriums für sich ein. Nach der Wahl Arces zum neuen Präsidenten werden die nächsten Monate also entscheidend.
Erste Schritte der Regierung
Ein wichtiger erster Schritt der neuen Regierung wird die Aufklärung der kurz nach der Amtsübernahme von der Áñez Regierung begangenen Massaker von Senkata und Sacaba, die Arce bereits in Aussicht gestellt hat. Arce gilt als ehemaliger Finanzminister außerdem als einer der Architekten des bolivianischen Wirtschaftssystems unter der MAS-Regierung und hat bereits eine Steuer auf hohe Vermögen als mögliche erste Maßnahme angekündigt. Der Vizepräsident David Choquehuanca hat eine starke indigene Basis im Hochland Boliviens, steht Evo Morales jedoch nicht besonders nahe.
Starkes Zeichen trotz Krisen
Bolivien steckt aktuell in einer tiefen ökonomischen, gesundheitlichen und ökologischen Krise. Nach der starken und von allen Seiten vorangetrieben Polarisierung der Gesellschaft im letzten Jahr wird die von Arce versprochene Annäherung schwierig – auch weil sich an der materiellen Basis der gesellschaftlichen Konflikte eigentlich nichts geändert hat. Die zentralen gesellschaftlichen Konfliktlinien des kolonialen Staates, patriarchale Strukturen, Rassismus und Regionalismus bleiben bestehen und wurden vor dem Staatsstreich und während der Interimsregierung verschärft.
Das bisherige Wirtschaftssystem der MAS beruht, in starker kolonialer Kontinuität, auf der Extraktion von Bodenschätzen. Ein Unterschied ist die Verteilung der Gewinne aus den Rohstoffexporten an die Gesellschaft. Das extraktivistische Wirtschaftssystem wird wahrscheinlich weiter vorangetrieben. Es stand auch bei diesen Wahlen nur zur Debatte, wer es verwalten soll und wer davon profitiert. Währenddessen brennt der Wald in der Chiquitanía und im Chaco im Departamento Santa Cruz weiter. Das Wahlergebnis ist aber als klare Ablehnung von Militarisierung und faschistischen Tendenzen erst einmal ein Grund zum Aufatmen.