Abstimmen in der Pandemie: Wie Bolivien um die Wahlen kämpft

Nach der Absetzung Evo Morales’ im November bildete sich in Bolivien eine Übergangsregierung. Doch demokratisiert hat sie das Land nicht, im Gegenteil. Und während Bolivien auf die Wahlen wartet, steigen die Corona-Fallzahlen immer weiter. Bolivien ist ein Land vieler Krisen, schreibt Marie Jasser.

Schon vor der Pandemie befand sich Bolivien in einer multiplen Krise. Seit dem Staatsstreich im Oktober 2019 ist eine Übergangsregierung an der Macht. Anfang März wurden strenge, teils vom Militär durchgesetzte Ausgangssperren verhängt. Im August 2020 haben indigene, bäuerliche und Arbeiter*innenbewegungen mit landesweiten Straßenblockaden und einem Generalstreik gegen die erneute Verschiebung des Wahltermins protestiert.

Krise ‚al día‘

Boliviens Bevölkerung ist stark von der COVID-19 Pandemie betroffen. Laut einem Bericht der New York Times sind seit Juni 20.000 Menschen mehr verstorben als im vergangenen Jahr zur gleichen Zeit. Das Gesundheitssystem – öffentlich und privat – ist bereits vor Monaten kollabiert. Die politische und gesundheitliche Krise verschärft sich durch eine wirtschaftliche: Große Teile der Bevölkerung Boliviens leben ‚al día‘ – das heißt, vom informalisierten Tagesgeschäft wie Straßenverkäufen oder Tagelohnarbeiten. Vor allem in der Stadt können sich von Armut betroffene Bevölkerungsgruppen ihren Lebensunterhalt nicht länger verdienen.

Die Übergangsregierung steht nicht nur wegen der Verlängerung des Mandats in der Kritik. Neben der klaren Überforderung mit der Pandemie wurden Korruptionsvorwürfe laut, zum Beispiel weil Beatmungsgeräte durch Regierungsbeamte zu einem überhöhten Preis eingekauft wurden. Die Bereicherung an staatlichen Mitteln, der strategische Einsatz gerichtlicher Verfahren gegen oppositionelle Politiker*innen und die Maßnahmen wie Privatisierungen oder Landverteilung an Großgrundbesitzer*innen rufen gesellschaftlichen Widerstand hervor.

Die Zusammenarbeit mit Großgrundbesitzern und die Intensivierung von Landgrabbing für Monokulturen, die es auch schon unter der Regierung des linken Präsidenten Evo Morales gab, wird nun noch sichtbarer. Trotz der schweren Amazonas-Waldbrände im vergangenen Jahr, wurden heuer in Bolivien wieder Brandrodungen durchgeführt, die ihrerseits Waldbrände im Amazonasgebiet verursacht haben. Besonders betroffen sind Naturschutzgebiete. Die Brandrodungen im Jahr 2020 begannen, als die Regierung Ausgangssperren verhängte.

Vor diesem Panorama hat die aktuelle, nicht gewählte Übergangsregierung die geplanten Wahlen nun zum dritten Mal verschoben. Laut der bolivianischen Verfassung müssen nach dem Rücktritt einer Regierung innerhalb von 90 Tagen Neuwahlen durchgeführt werden. Die eigentlich für Mai geplanten Wahlen sollen nun am 18. Oktober stattfinden. Die Verschiebungen wurden mit dem möglichen Anstieg von Corona-Erkrankungen begründet.

Straßenblockaden gegen die Regierung

Die Wahl-Verschiebungen haben in breiten Teilen der Bevölkerung zu Widerstand geführt. In den ersten Augustwochen wurden aus Protest über 100 Straßenblockaden errichtet und der Regierungssitz La Paz von der Versorgung mit Nahrungsmitteln und Treibstoff abgeschnitten. Teilweise wurden auch Lieferungen von Medikamenten und Sauerstofflieferungen oder Krankentransporte blockiert. Sie waren allerdings schon vor den Blockaden knapp.

Straßenblockaden sind ein gängiges Protestmittel in Bolivien. Während der aktuellen Krise werden sie aber zu einem zweischneidigen Schwert, weil viele Bolivianer*innen durch die Blockaden eine Verschlechterung der vorher schon unzureichenden Gesundheitsversorgung erwarten. Auch die Regierung, die die Blockaden als Verletzung der Menschenrechte bezeichnete, bestärkt dieses Narrativ.

Bewegungen und Morales-Partei uneins

Die Blockierenden warfen der Regierung vor, ihr Mandat unrechtmäßig zu verlängern und die Staatsmacht nicht wieder abgeben zu wollen. Das Ausmaß der Blockaden und Demonstrationen vor allem in ländlichen Gebieten zeigt, dass die indigenen, bäuerlichen und Arbeiter*innenbewegungen weiterhin großes Mobilisierungspotenzial besitzen. Viele Demonstrant*innen stehen der entmachteten Partei Movimiento Al Socialismo (MAS, auf deutsch Bewegung zum Sozialismus) des ehemaligen Präsidenten Evo Morales nahe.

Während der Verhandlungen um das aktuell festgelegte Wahldatum wurden aber auch Unterschiede zwischen der Partei und den Bewegungen deutlich: Die Forderungen der sozialen Bewegungen waren radikaler als die der MAS. Darunter waren die Forderung nach dem sofortigen Rücktritt der konservativen Übergangspräsidentin Jeanine Áñez und Entschädigungszahlungen für nach dem Amtsantritt bei Protesten in den Städten Senkata und Sacaba getötete Demonstrant*innen.

Rechte Paramilitärs formieren sich

In den Städten Santa Cruz de la Sierra und Cochabamba – im östlichen Tiefland bzw. dem Zentrum von Bolivien gelegen – formieren sich außerdem faschistoide Parapolizeigruppen, die gewaltsam gegen die Blockaden vorgehen: Die Unión Juvenil Cruzeñista wird als paramilitärisch eingestuft und hat eine jahrzehntelange Geschichte organisierter rassistischer Übergriffe. Die Motorradgruppe Resistencia Juvenil Cochala (RJC) aus Cochabamba ist erst im vergangenen Jahr entstanden und ebenfalls für rassistische Übergriffe und ihr martialisches Auftreten bekannt geworden. Beide Gruppen stehen verschiedenen rechten und konservativen Gruppen und Parteien nahe. Im Gegenzug formieren sich auch auf Seiten der MAS militante Gruppen. So sind während der Proteste acht Personen über mehrere Stunden entführt worden.

Die bolivianische Gesellschaft ist nach wie vor stark polarisiert. Die Pandemie vertieft die gesellschaftliche Ungleichheit, die Probleme in der Gesundheitsversorgung und die Gräben in der (Partei-)Politik. Die multiplen Krisen – wirtschaftlich, politisch, gesundheitlich und ökologisch – sind eine große Belastung für das Land. Dabei wird besonders die politische Krise auf Kosten der Bevölkerung ausgetragen.

Autor

 
Nach oben scrollen