Rojava: Vom Aushungern einer Revolution

Zerbombtes Elektrizitätskraftwerk in Rojava

Abseits der Öffentlichkeit weitet der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan seinen Krieg auf die Gebiete der Demokratischen Autonomen Verwaltung in Nord- und Ostsyrien/Rojava aus. Lina aus Wien ist in der Region und berichtet von den Auswirkungen auf die Bevölkerung.

Am Morgen des 15. Jänner ist das Elektrizitätskraftwerk Suwaydiyah im Kanton Cizîrê zerstört. Teile des Kraftwerks sind ausgebrannt, Turbinen und Aufbereitungsanlagen sowie zivile Gebäude schwer beschädigt. Mehr als zehn türkische Luftangriffe hatten das Areal am Vortag getroffen. Das Kraftwerk war zentral für die Versorgung der Bevölkerung. Es war aber nicht nur das, sondern auch ein Symbol für den Widerstand der Menschen. Bereits der Islamische Staat (IS) hatte Jahre zuvor versucht, die Anlage unter seine Kontrolle zu bringen. Damals schlossen sich die Bewohner*innen aus den umliegenden Dörfern zusammen, um sich den Islamisten in den Weg zu stellen. Dieses Bild wiederholte sich kurz vor Weihnachten: Angesichts der wieder aufflammenden Angriffe des türkischen Staates auf zivile Infrastruktur versammelten sich täglich 300 bis 500 Menschen, um die Anlage als menschliche Schutzschilde vor Luftschlägen zu bewahren. Über die Weihnachtstage blieb sie weitestgehend verschont.

Strom- Wasser- und Gasknappheit

Knapp drei Wochen später ist das Kraftwerk Suwaydiyah nicht mehr funktionsfähig. Die gesamte Demokratische Autonome Verwaltung in Nord- und Ostsyrien (DAANES) wurde durch die Angriffswillen der Türkei ab dem 23. Dezember und 14. Jänner schwer getroffen. Der türkische Staat bombardiert gezielt Kraftwerke, Ölraffinerien und Lagerhallen und damit lebensnotwendige Infrastruktur. Die Stromversorgung für die knapp zwei Millionen Menschen in der Region ist größtenteils zusammengebrochen. Wasser und Gas sind zusehends knapp. In den Tagen nach den Angriffen hat die Verwaltung über das Radio verkündet, dass die Bevölkerung ihre Vorräte wohlüberlegt nutzen soll. Eine Verbesserung der Situation ist nicht absehbar. Reparaturarbeiten sind herausfordernd: Rojava ist von einem umfassenden Embargo betroffen. Das macht den Import benötigter Baumittel fast unmöglich.

Çiwan Hesan ist Ko-Vorsitzender der Stadt Dêrik/Al-Malikiya im Osten der Autonomieregion. Er berichtet, dass die Versorgung mit Strom und Wasser die größten Probleme seien. Die Wasserversorgung sei um 50 Prozent eingebrochen. Normalerweise wird die Stadt von 23 Brunnen versorgt, deren Pumpen mit Strom angetrieben werden. Dieser ist momentan nicht vorhanden. Behelfsmäßig stehen elf Generatoren zur Verfügung, die nur für einen Teil der Brunnen Strom liefern können. Die Wasserkommission arbeitet mit Hochdruck daran, alle Brunnen wieder in Betrieb nehmen zu können. Auch die Haushalte in Dêrik werden aktuell durch Generatoren mit Strom versorgt. Das Ziel ist, jede Nachbarschaft zumindest acht Stunden pro Tag mit Elektrizität zu versorgen. Darüber hinaus versucht ein Notfallkomitee 24/7, die dringendsten weiteren Versorgungsengpässe zu beheben.

Çiwan Hesan (c) Privat

 „Wir hangeln uns von Tag zu Tag weiter“

Dass gerade Winter ist, mache es etwas einfacher, sagt Çiwan. Doch sobald der Sommer komme, werde die Landwirtschaft wieder mehr Wasser benötigen. Angesprochen auf die humanitäre Krise, erzählt Çiwan von großen Herausforderungen und begrenzten Möglichkeiten. Am liebsten würde die Kommune langfristig planen und alles schrittweise wieder aufbauen. Doch das ist nicht möglich: „Wir sind nicht illusorisch, wir befinden uns im Krieg. Wir hangeln uns von Tag zu Tag weiter“.

Der Krieg, in dem sich Dêrik/Al-Malikiya und die DAANES befinden, ist einer, der größtenteils abseits der Öffentlichkeit geführt wird. Das zunächst überwiegend kurdische Projekt Rojava auf syrischem Staatsgebiet war dem türkischen Staat seit seiner Ausrufung 2012 ein Dorn im Auge. Das Regime rund um Recep Tayyip Erdoğan versuchte, die demokratische Selbstbestimmung in der Region – die sich zusehends auch auf arabische und weitere Gebiete ausdehnte – zu schwächen. Dazu unterstützte es reaktionär-islamistische Kräfte (wie den IS) mit Waffen, Logistik und Informationen. Den kurdischen Militärverbänden YPG und YPJ gelang es, als Teil der Syrian Democratic Forces (SDF) und unterstützt durch die internationale Koalition (insbesondere die USA), den IS zurückzuschlagen. Angesichts dessen griff das türkische Regime selbst aktiv in die Region ein. Völkerrechtswidrig und unter Duldung der in der Region präsenten Großmächte, USA und Russland, besetzte es die Gebiete Afrîn (2018) und Serêkaniyê (2019).

Krieg der niedrigen Intensität

Weitere Besetzungspläne Erdoğans und die Einrichtung einer ‚Sicherheitszone‘ entlang der Grenze scheiterten bislang. Dafür führt das Regime einen umso schmutzigeren Krieg der niedrigen Intensität. Mit gezielten Schlägen gegen die kurdische Bewegung – durch tödliche Drohnenangriffe auf leitende Figuren der SDF – sollte das demokratische Projekt von innen geschwächt werden. Zusätzlich zu seinem anhaltenden Wasserkrieg zielt das türkische Regime seit November 2022 mit seinen Luftangriffen auf die gesamte Bevölkerung ab und versucht  die grundlegende Infrastruktur für Elektrizität, Gas, Öl, Wasser und Brotproduktion zu vernichten. Das Ziel ist es, das Leben für die Bevölkerung zu verunmöglichen, sie zu demoralisieren und zur Flucht zu zwingen.

Trotz alldem findet das gewöhnliche Leben noch statt. Menschen trinken am Markt Kaffee – so wie Ihsam. Er führt zusammen mit seinem Bruder ein Bekleidungsgeschäft. Wie Çiwan sehnt er sich nach ruhigen Zeiten. Er erzählt davon, wie nach dem Sieg gegen den IS die Straßen und Städte schnell wieder aufgebaut wurden – genauso wie zentrale gesellschaftliche Institutionen. Die Wirtschaft habe sich langsam erholt und Löhne stiegen. Er berichtet auch von Fortschritten im Bildungssystem: Von der Grundschule bis zu den Universitäten werde nun auf Arabisch, Kurdisch und in manchen Orten auch Assyrisch gelehrt und Lehrer*innen für ihre Tätigkeit angemessen bezahlt. Heute sei er ratlos. Es fehle an allem und keiner wisse, wie es weitergehen soll, erzählt er.

Weitermachen

Nach außen hin scheint der türkische Staat sein Ziel zu erreichen. Die Verwaltung spricht offen davon, dass es Schwierigkeiten gibt, die Brotversorgung aufrechtzuerhalten. Die Revolution wird ausgehungert. Durch die Erzählungen der Menschen zeichnet sich aber ein anderes Bild. Ihsam betont: „Die Willenskraft der Bevölkerung ist da. Viele gehen weg von hier, aber es kommen auch viele wieder zurück, weil sie sehen, dass hier etwas aufgebaut wurde.“

Çiwan weiß, dass viel von den internationalen Akteurinnen in der Region abhängt. Die USA kontrolliert den Luftraum über der DAANES, es würde an ihr liegen, ihn nicht freizugeben. Gleichzeitig gibt er sich keinen Hoffnungen hin. Die USA, Russland und der Iran sind für ihre eigenen Interessen in Syrien, nicht um der Bevölkerung in Rojava, dem demokratischen Aufbau oder der Revolution zu helfen. Am Ende des Tages liege es weiter an den Menschen widerständig zu bleiben, nach Lösungen zu suchen und hungrig nach Freiheit zu sein.

Foto: Das Elektrizitätskraftwerk Suwaydiyah, (c) Rojava Information Centre

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