Das Video ging um die Welt: Als die belgische Premierministerin Sophie Wilmès das Brüsseler Saint-Pierre-Krankenhaus besuchte, drehte ihr die Belegschaft demonstrativ den Rücken zu. Im Interview spricht ein beteiligter Krankenpfleger über die geheime Vorbereitung der Aktion, königliche Dekrete und Ausbeutung während der Corona-Krise.
Marc García* ist Krankenpfleger und Gewerkschaftsaktivist im Krankenhaus Saint-Pierre und war letzte Woche bei dem Protest dabei. Neva Löw hat mit ihm über die Gründe für und den Erfolg der Aktion gesprochen und erfahren, wie das Krankenhauspersonal die Corona-Krise erlebt.
Eure Protestaktion hat international für Schlagzeilen gesorgt. Das Video wurde millionenfach gesehen, geteilt und hat es von Al Jazeera bis in die japanischen Medien geschafft. Wie ist es zu dieser Aktion gekommen?
Marc García*: Die Aktion wurde im Geheimen vorbereitet. Es haben nur ganz wenige gewusst, dass Premierministerin Wilmès das Krankenhaus Saint-Pierre besuchen wird. Einige Kolleg*innen haben dann in einer kleinen Gruppe die Aktion vorbereitet. Erst am Freitag um zehn Uhr abends haben sie den anderen Kolleg*innen Bescheid gegeben. Die Aktion fand dann am nächsten Tag statt.
Der Grund für unsere Aktion war der Umgang der Regierung mit der Corona-Krise. Für die Pfleger*innen waren besonders die sogenannten „königlichen Dekrete“ Anlass zum Protest. Die Erlässe sahen eine Dienstverpflichtung des medizinischen Personals und den Einsatz von nicht-qualifiziertem Personal vor.
Grundsätzlich haben sich viele Kolleg*innen von der Politik gering geschätzt gefühlt. Obwohl für das Krankenhauspersonal geklatscht wurde, mangelt es an konkreter Unterstützung und Entlastung. Nach zweieinhalb Monaten Corona-Krise, in der alle enorm viel gearbeitet, Überstunden angehäuft und viel mitgemacht haben, ist das sehr schlecht aufgenommen worden. Durch die Aktion wollten die Kolleg*innen ihren Unmut zum Ausdruck bringen.
Wichtig ist, dass nicht nur Krankenpfleger*innen mitgemacht haben. Administrative Kräfte, Ärzt*innen und das Sicherheitspersonal waren auch dabei. Das war wirklich eine breite Aktion.
Was war die Rolle der Gewerkschaften bei dem Protest?
Gewerkschaftsaktivist*innen haben natürlich an der Aktion teilgenommen, wir waren aber in die Vorbereitung gar nicht involviert. Die Organisator*innen wollten explizit keine „Gewerkschaftsaktion“ daraus machen und sie wollten auch keine klassische Demonstration organisieren. Sie meinten sogar, dass es keine politische Aktion werden soll – obwohl sie natürlich zutiefst politisch war.
Die Teilnehmer*innen wollten sich gegen „die Politik“ wenden, also gegen diejenigen, die die Politik in diesem Land bestimmen. Sie wollten deutlich machen: „Wir kehren der Premierministerin, der Politik, euch allen, den Rücken zu. Ihr habt uns vergessen und wir kehren euch jetzt den Rücken zu. Ihr habt bei uns zuerst jahrelang gespart und jetzt schlecht auf die Krise reagiert.“
Was hat deiner Meinung nach zum Erfolg der Aktion geführt?
Man muss wissen, dass seit einem Jahr vielfältige Mobilisierungen im Gesundheitssektor in Belgien und vor allem auch im Krankenhaus Saint-Pierre stattfinden. Die Forderungen sind vielfältig und reichen von einer besseren Finanzierung des Sektors bis zur Erhöhung der Löhne und einer Arbeitszeitverkürzung für das Krankenhauspersonal.
Letzten Juni und November gab es wichtige Streiks der Krankenhäuser in Brüssel und eigentlich war ein Aktionstag für Mitte März geplant. Den haben wir nun auf September verschoben. Wir haben eine Koordinierungsgruppe „La Santé en Lutte“ (Die Gesundheit im Kampf) für das medizinische Personal gegründet. Darin sind alle möglichen Sparten des medizinischen Personals vertreten, von Krankenhäusern zu medizinischen Versorgungszentren bis zur Psychiatrie. Über diese Gruppe haben wir die Aktionen und Proteste koordiniert.
Warum sind die Bilder der Aktion um die Welt gegangen?
Ich denke, sie waren sehr medienwirksam. Sie bringen die aktuelle Haltung der Krankenhäuser, der Pfleger*innen, der medizinischen Welt gegenüber der Politik zum Ausdruck.
Nirgendwo sonst ist es gelungen, eine so medienwirksame Aktion gegen ein*e Regierungschef*in während der Corona-Krise durchzuziehen. Es gab zwar schon in vielen anderen medizinischen Einrichtungen in Europa während der letzten Monate Proteste und Aktionen. Normalerweise tun Staats- und Regierungschefs alles dafür, um nicht auf diese Art überrascht zu werden.
Auch hier in Saint-Pierre wollte die Premierministerin eigentlich den Besuch absagen, nachdem sie kurzfristig erfahren hatte, dass eine Protestaktion stattfinden wird. Es war dann jedoch schon sehr knapp und schlussendlich hat sie zugestimmt, trotzdem zu kommen. Ihre Bedingung war, dass sie die Teilnehmer*innen treffen kann, um mit ihnen zu diskutieren. Sie dachte wohl, dass ihr das gute PR bringen würde. Aber sie hat nicht damit gerechnet, dass die Aktion so groß wird und so viel Aufmerksamkeit erregen wird. Sie bereut jetzt sicherlich, dass sie trotzdem gekommen ist. Mittlerweile sind auch die beiden problematischen Dekrete zurückgezogen worden.
Wie habt ihr, das Krankenhauspersonal von Saint-Pierre, die Corona-Krise bisher erlebt?
Man muss wissen, dass das Krankenhaus Saint-Pierre auf stark ansteckende Krankheiten spezialisiert ist. Das Krankenhaus war das einzige in ganz Belgien, das genügend Ausrüstung auf Lager und einen Plan hatte, wie man bei einer extrem ansteckenden Krankheit die Krankenhausräumlichkeiten umfunktionieren kann und auch wie man mit einem plötzlichen Anstieg an Patient*innen umgeht.
In allen anderen Spitälern und auch in Altersheimen fehlten Ausrüstung und Plan. Daher gab es auch so viele Ansteckungen und Tote, gerade in den Altersheimen. Das war wirklich eine Katastrophe. Das medizinische Personal in diesem Land hatte nicht das Gefühl, dass es in der Politik jemanden gibt, der*die ihre Gesundheit und ihr Wohlbefinden ernst nimmt.
Gerade am Anfang der Krise war es sehr stressig für das Krankenhauspersonal. Die Corona-Fälle in Brüssel wurden in erster Linie in Saint-Pierre behandelt und viele Kolleg*innen hatten Angst, sich selbst anzustecken und ihre Familien zu gefährden. Jetzt erleben viele Kolleg*innen posttraumatischen Stress. Es wurden sehr junge Kolleg*innen eingesetzt, die mit vielen Todesfällen konfrontiert wurden. Das war schon sehr hart. Zu sehen, wie so viele Menschen leiden und es dann nicht schaffen. Irgendwann hat das alle berührt.
Auch wenn es nationale Unterschiede im Umgang mit der Corona-Krise gibt, steht auch in vielen anderen europäischen Ländern das Krankenhauspersonal an der Spitze der Bekämpfung der Pandemie. Seid ihr international vernetzt?
Wir sind mit französischen Gruppen vernetzt und möchten für unseren Aktionstag im September auch noch darüber hinaus Kontakte knüpfen. Schließlich sind die Herausforderungen und das Leiden des medizinischen Personals in vielen Ländern aufgrund der Sparmaßnahmen der letzten Jahrzehnte ähnlich.
Danke und viel Erfolg, Energie und Kraft für den weiteren Protest.
*Weil der Krankenpfleger Sorge um seinen Arbeitsplatz hat, haben wir seinen Namen redaktionell geändert.