Kompromisslos: Polnische Proteste gegen Kirche und Regierung

Seit Mitte Oktober protestieren in ganz Polen hunderttausende Menschen gegen eine Verschärfung des Abtreibungsgesetzes. Trotz eines Zwischenerfolgs ist die Bewegung noch lange nicht am Ziel. Denn mittlerweile geht es ihr um mehr als nur ein Gesetz, erklärt Clara Moder.

Noch ist die Verschärfung  des Abtreibungsgesetzes nicht fixiert. Um den Spruch des polnischen Verfassungsgerichts, der Abtreibungen faktisch verbietet, endgültig zu machen, müsste ihn die Regierung publizieren. Andernfalls kann das Gesetz nicht in Kraft treten. Doch die Regierung zögert und braucht eine Nachdenkpause, um über einen weiteren Kompromiss zu verhandeln.

Die Nachdenkpause ist hart erkämpft. Seit der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs sind Hunderttausende in Polen auf die Straßen gegangen. Alleine am vergangenen Wochenende waren es fast eine halbe Million Menschen. Es sind die größten Proteste gegen die rechtskonservative PIS-Regierung (Prawo i Sprawiedliwość – Recht und Gerechtigkeit) seit deren Regierungsantritt 2015.

Faktisches Verbot

In Polen gilt eines der restriktivsten Abtreibungsgesetze Europas. Abtreibung ist nur in drei Fällen erlaubt: Bei Schwangerschaften durch Vergewaltigung oder Inzest, bei Gefahr für das Leben der Mutter und bei schweren Missbildungen am Fötus. Die Regelung ist ein „Kompromiss“ zwischen der Kirche und politischen Machthabern aus den 1990er Jahren, der ein relativ liberales Abtreibungsgesetz der sozialistischen Volksrepublik ersetzte. Aktivist*innen für Frauenrechte waren nicht in die Entscheidung einbezogen.

Am 22. Oktober diesen Jahres entschied der polnische Verfassungsgerichtshof, dass der dritte Fall – Abtreibung bei schweren Missbildungen – der Verfassung widersprechen würde und daher ebenfalls untersagt werden sollte. Zwischen 95 und 97 Prozent der Abtreibungen, die legal in Polen vorgenommen werden, fallen in diese Kategorie. Die Zahl der legalen Abtreibungen ist mit rund 1.000 pro Jahr bei 40 Millionen Einwohner*innen, ohnehin schwindend gering. In Deutschland beispielsweise waren es 2019 mehr als 100.000. Damit kommt die Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichtshofs de facto einem Verbot von Abtreibungen gleich. Seit dem 23. Oktober protestieren deswegen Pol*innen im ganzen Land und im Ausland.

Vom „schwarzen Protest“ zu „Verpisst euch!“

Die Proteste haben eine längere Vorgeschichte. Bereits 2016 versuchte die national-konservative PiS-Regierung, das bestehende Abtreibungsgesetz zu verschärfen. Eine massive Protestbewegung formierte sich, die Plattform „Strajk Kobiet“ (Frauenstreik) wurde ins Leben gerufen und organisierte dezentral Protestaktionen in ganz Polen. Der Hashtag der Bewegung war #czarnyprotest, „schwarzer Protest“. Am 3. Oktober 2016 gingen mindestens 200.000 Menschen auf die Straße. Europaweit gab es Solidaritätskundgebungen. Die Regierungspartei sah sich gezwungen, die Ankündigung zurückzunehmen und das Gesetz (vorerst) nicht zu verschärfen.

Die PiS, die seit Herbst 2015 mit absoluter Mehrheit regiert und auch den Präsidenten stellt, hat seit ihrem Regierungsantritt nicht nur die staatlichen Medien unter ihre Kontrolle und den öffentlichen Diskurs weit nach rechts gebracht, sondern reformiert auch kontinuierlich das polnische Justizsystem. Der Verfassungsgerichtshof, der mittlerweile überwiegend mit konservativen Richter*innen besetzt ist, ist dabei eine der zentralen Institutionen.

Dezentral und überall in Polen

Seit dem 23. Oktober wird nun wieder im ganzen Land demonstriert. Manches ist ähnlich wie vor vier Jahren, vieles ist anders. Organisiert werden die Proteste wieder über die unabhängige, dezentrale soziale Bewegung Strajk Kobiet – auch und besonders in kleinen Städten und Ortschaften. Es gibt keine Zentrale und keine formale Organisation, nur einen Helpdesk, der bei der Organisation von Protestaktionen unterstützt. Anders als noch 2016 gibt es jetzt im Sejm, dem polnischen Parlament, eine Linke. Sie besteht aus einem Wahlzusammenschluss unterschiedlicher Parteien, hält 49 der 460 Sitze und unterstützt die Proteste auf der Straße sowie durch Aktionismus im Sejm. So hielten beispielsweise schwarz gekleidete Abgeordnete Symbole und Hashtags der Protestbewegung im Plenarsaal hoch und verwendeten diese auch während ihrer Reden.

Deutlich anders sind auch Tonfall und Anzahl der Protestierenden. War es 2016 noch vorwiegend #czarnyprotest, so sind die Hashtags im Jahr 2020 unter anderem #ToJestWojna („Das ist Krieg“) und #wypierdalać („Verpisst euch“). Bis zu 400.000 Menschen beteiligten sich an Aktionen in der letzten Oktoberwoche, doppelt so viele wie 2016. Und nicht zuletzt sind die äußeren Umstände deutlich anders. Die Corona-Pandemie hat Polen fest im Griff, die täglichen Neuinfektionen steigen rasant an. Umso problematischer ist es, dass die Regierung keine politische Verantwortung übernommen und stattdessen die Entscheidung dem – nur vordergründig unabhängigen – Verfassungsgerichtshof überlassen hat.

Der lange Weg zur Wahlfreiheit

Doch auch wenn die Regierung und Präsident Andrzej Duda nun einen Kompromiss anstreben: Ein wirklich liberales Abtreibungsgesetz ist in Polen in weiter Ferne. Der überwiegende Teil der polnischen Bevölkerung befürwortet das bestehende Gesetz. Nur wenige wollen eine Verschärfung, aber auch für eine Liberalisierung gibt es keine Mehrheit. Das hat nicht zuletzt mit der Rolle der katholischen Kirche zu tun, die großen Einfluss auf die Politik hat und eine gewichtige Stimme im öffentlichen Diskurs ist. Rechtskonservative bis nationalistische Positionen sind in Polen die Regel, nicht die Ausnahme. Feminismus und die LGBTIQ-Community wurden über Jahre von der Regierung und den von ihr kontrollierten öffentlichen Medien diskreditiert. Gender wurde als „Ideologie“ aus dem Westen bezeichnet, die polnische Werte untergraben solle.

In Polen geht es um mehr

Der Einfluss der Institution Kirche in dieser Debatte wurde durch die Zuschreibung der symbolischen Bedeutung von Kirchen deutlich. Jarosław Kaczyński rief zuletzt die Bevölkerung zum Schutz der Kirchen gegen die Protestierenden auf. Er ist als Vorsitzender der PiS der mächtigste Mann in Polen, ohne ein offizielles Amt innezuhaben. Rechte Gruppierungen wie die Allpolnische Jugend (Młodzież Wszechpolska) und Hooligans kamen seinem Aufruf vielerorts nach. Das führte zu teilweise gewaltsamen Auseinandersetzungen in den ansonsten friedlichen Protesten. Der Vorsitzende der polnischen Bischofskonferenz bedankte sich für die Verteidigung der Kirchen und führte die Proteste auf den Konsum von Netflix zurück. Die Seite des Medienunternehmens sei voll von Hedonismus und Werbung für Homosexualität.

Der Kampf der polnischen Aktivist*innen ist ein Kampf an vielen Fronten. Gegen die Verschärfung des bestehenden Abtreibungsgesetzes, für eine Liberalisierung, gegen den großen Einfluss der katholischen Kirche und für eine offene, tolerante Gesellschaft. Es geht im Kern also um mehr, als „nur“ um das Aufhalten einer weiteren Verschärfung, des eigentlich schon kaum mehr zu verschärfenden Gesetzes. Für viele der Protestierenden, wenn auch nicht für alle, sind die Ziel der Proteste vielfältig. Sie wollen reproduktive Rechte ohne Kompromisse, das Ende der PiS-Regierung und die Verringerung des Einflusses der katholischen Kirche auf Politik und das öffentliche Leben. Bis dorthin ist es noch ein langer Weg.

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