Anti-Polizei-Proteste in Nigeria: „Der durchschnittliche Polizist ist gewalttätig”

Seit Wochen demonstrieren in Nigeria Tausende gegen Polizeigewalt. Wo die Gewalt der Polizeieinheiten herkommt, wie die Proteste sein gespaltenes Land einen und was sich die Demonstrierenden für die Zukunft erhoffen, erklärt der Investigativjournalist Patrick Egwu im Interview.

Angefangen hat alles mit einem Video. Es zeigt einen jungen Mann, der auf offener Straße von einer Einheit des nigerianischen Polizeikommandos SARS (Sondereinsatzkommando gegen Raubüberfälle) erschossen wird. Danach heißt es, sei die Einheit mit dem Auto des Mannes davongefahren. Das Video wird zum Symbol willkürlicher Polizeigewalt. Seit Wochen gehen in Nigeria tausende Menschen unter dem Motto „EndSARS“ auf die Straße und fordern flächendeckende Reformen. Mindestens 69 von ihnen kamen dabei ums Leben. Die Sondereinheit SARS ist mittlerweile abgeschafft, aber die Proteste gehen weiter.

Mosaik-Blog: Polizeibeamt*innen der SARS-Einheit sind im Zivil unterwegs, sie tragen keine Uniformen und fahren keine Polizei-Autos. Warum?

Patrick Egwu: SARS wurde 1992 gegründet, um gegen bewaffnete Raubüberfalle und Entführungen vorzugehen. Durch unscheinbare Kleidung und Autos sollte die Einheit bei Zugriffen den Überraschungsmoment nutzen können. Diesen Überraschungsmoment verwendet sie jetzt zu ihrem eigenen Vorteil. Anstatt Kriminalität zu bekämpfen, belästigt sie junge Nigerianer*innen, führt unbegründete Verhaftungen durch und bereichert sich durch Kautionszahlungen. Weil die Beamt*innen keine Uniformen tragen und keine registrierten Polizeiautos fahren, ist es beinahe unmöglich sie nach gewalttätigen Vorfällen ausfindig zu machen und zur Verantwortung zu ziehen.

Ist diese Anonymität einer der Gründe für die Gewaltbereitschaft von SARS?

In Afrika wurzelt jegliche Form von Polizeigewalt im Kolonialismus. Kolonisatoren nutzten die Polizei, um Menschen zu unterdrücken. Die afrikanischen Länder haben sich diesen Zugang angeeignet. Deswegen ist die Polizei ein Instrument des Staates, das mächtige Menschen wie Politiker*innen beschützt und Journalist*innen und Zivilist*innen, die für mehr Rechte kämpfen, schikaniert.

SARS schikaniert vor allem junge Menschen mit teurer Kleidung, Handys oder Autos. Sind die Proteste gegen die Polizei ein Aufbegehren der verärgerten nigerianischen Elite?

Nein, an den Protesten sind alle beteiligt, die über die Polizeigewalt entrüstet sind. Ich schätze, Polizeigewalt betrifft in Nigeria neun von zehn Familien. SARS verhaftet Menschen mit teuren Wertgegenständen, um Kautionen zu erpressen. Die Beamten begründen das damit, dass die Person kriminell sein muss, um sich das Handy oder Auto leisten zu können. Aber sie verhaften Menschen auch willkürlich aus anderen Gründen, zum Beispiel weil sie tätowiert sind oder Dreadlocks haben. Die meisten Betroffenen sind jung, zwischen 18 und 35.

Die NGO Amnesty International hat seit 2017 mindestens 82 Fälle von Polizeigewalt durch SARS-Einheiten gezählt. Ein wiederkehrendes Wort in der Debatte ist „Verantwortlichkeit“. Gibt es Institutionen, an die sich Opfer der Gewalt wenden können?

Niemand übernimmt Verantwortung, denn es existiert keine unabhängige Institution, um Kriminalität vonseiten der Polizei zu untersuchen. Natürlich ist eine Polizeieinheit, die gegen eine andere Polizeieinheit ermittelt, voreingenommen. Die einzige Möglichkeit für Opfer von Polizeigewalt ist, sich in den sozialen Medien zu beschweren. Wenn die Beiträge viel Aufmerksamkeit erregen, tweetet die Polizei zwei Wochen später, sie würde den Fall untersuchen. Dann passiert im Normalfall nichts. Die Situation ist dem gesamten Polizeiapparat bis zum obersten Polizeichef bekannt. Die Vermutung, dass höhere Polizeioffiziere von den SARS-Bestechungen profitieren und deswegen nichts dagegen tun, ist naheliegend.

Die Protestierenden fordern unter anderem die strafrechtliche Verfolgung gewalttätiger Beamter, Kompensationszahlungen für Betroffene und professionelle Ausbildungen für Polizeieinheiten. Eine auf den ersten Blick eher ungewöhnliche Forderung ist die Erhöhung von Polizeigehältern.

Die meisten Polizeibeamt*innen in Nigeria erhalten sehr niedrige Gehälter. Das rechtfertigt den Umgang mit der Bevölkerung natürlich nicht. Ihre Reaktion auf die schlechte Bezahlung ist, sich das Geld von der Bevölkerung zu holen. Sie drohen Verhaftungen an und geben dann ihre Kontodaten im Online-Banking der Betroffenen ein, um sich direkt Kautionszahlungen auf ihr Privatkonto überweisen zu lassen. Weigern ist zwecklos, denn sie haben Schusswaffen, von denen sie auch Gebrauch machen. Ich hatte Glück, ich wurde noch nie verhaftet. Aber viele meiner Freund*innen wurden von SARS-Einheiten mitgenommen und gefoltert.

Vor zwei Wochen reagierte die nigerianische Regierung auf die Proteste und verkündete, SARS abzuschaffen. Zwei Tage später wurde die SWAT-Einheit (Sondereinsatzkommando) gegründet. Ist SWAT eine Fortführung von SARS?

Es ist nicht das erste Mal, dass die Regierung die Abschaffung von SARS verkündet. Das hat sie bereits 2017, 2018 und 2019 getan. Viele Nigerianer*innen, inklusive mir, sind gegen SWAT. Höchstwahrscheinlich werden die Polizist*innen von SARS in die neue Einheit überführt. Das bedeutet, dass die Brutalität und die illegalen Verhaftungen bestehen bleiben. Die Protestierenden wollen eine Reform des gesamten Polizeiapparats. Das Problem ist: Der durchschnittliche nigerianische Polizist ist gewalttätig. Ein neuer Name ändert daran nichts.

Die EndSARS-Proteste nahmen ihren Anfang mit einem Hashtag im Internet und werden vor allem von jungen Menschen vorangetrieben, die nun auch Reformen im Bildungs- Gesundheits- und Infrastruktursektor fordern. Erleben wir den nigerianischen Arabischen Frühling?

Die Proteste gegen Polizeigewalt haben ein Aufbegehren gegen viele andere systeminhärente Probleme in Nigeria losgetreten. Die Krankenhäuser sind schlecht aufgestellt, seit fünf Monaten sind die Universitäten wegen Streiks geschlossen, die Arbeitslosigkeit ist hoch, es gibt an vielen Orten keine Elektrizität. Die Demonstrierenden nutzen die Chance, um eine Veränderung des Systems zu fordern.

Die Demonstrationen erfahren breite Unterstützung, sowohl im Landesinneren als auch auf globaler Ebene. Woran liegt das?

Im Zuge von „Black Lives Matter“ hat sich ein weltweites Bewusstsein für Polizeigewalt entwickelt. Nigerianer*innen hatten genug vom Machtmissbrauch der Polizei, aber auch von der Unfähigkeit der Regierung im Umgang mit dem Missstand. Deswegen haben sie auf der ganzen Welt mobilisiert und zum Protest aufgerufen. Durch Kundgebungen vor Botschaften wurden die EU und die UN auf das Thema aufmerksam. Berühmte und politisch einflussreiche Personen haben das Thema aufgegriffen und den Hashtag „EndSARS“ weiter verbreitet.

Nigeria ist ein Land, das in der Vergangenheit mit vielen Konflikten innerhalb der Bevölkerung zu kämpfen hatte. Jetzt scheinen alle gemeinsam zu protestieren.

Religion oder Stämme spielen gerade keine Rolle, die gemeinsame Sache steht im Vordergrund. Christen schützen Muslime, während sie auf Demonstrationen beten. Alle sammeln gemeinsam Geld für Krankenhauskosten und organisieren juristische Unterstützung für die Protestierenden. In der Früh, vor den Demonstrationen, wird gemeinsam gekocht. Für einen Mann wurde Geld für eine Beinprothese gesammelt, damit er ungehindert an den Protesten teilnehmen kann. Die Demonstrierenden legen eine Einheit an den Tag, die in Nigeria seit Jahren gefehlt hat.

Wie wird es mit den Protesten weitergehen?

Die Regierung hat eine Ausgangssperre verhängt. Vor einer Woche hat sie Soldaten zum Lekki Toll Gate in Lagos geschickt, um ein Protestcamp aufzulösen, das sich nicht an die Sperre gehalten hat. Dabei wurden mindestens 12 Menschen umgebracht. Deswegen haben die Demonstrierenden die Straßen jetzt verlassen. Präsident Buhari hat unter dem darauffolgenden internationalen Druck in einer Rede viele Versprechen abgegeben. Die Protestierenden geben der Regierung nun etwas Zeit, um ihre Versprechen einzulösen und Verantwortung zu übernehmen. Sollte das nicht geschehen, werden die Leute auf die Straßen zurückkehren. Denn sie sind wütend. EndSars ist zu einer Bewegung geworden, die sich nicht so schnell wieder auflösen wird.

Veranstaltungshinweis: Am 30.10.20 findet in Wien ab 14.30 Uhr eine Solidaritätskundgebung für die EndSARS-Proteste in Nigeria statt. Infos dazu hier.

Interview: Sarah Yolanda Koss

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