Welche Sehnsüchte hinter dem Häupl-Hype stecken

Michael Häupls Rückzug als Wiener Bürgermeister und SPÖ-Chef setzt ungeahnte Kreativität frei. Michi Häupl-Ultras organisieren öffentliche Umtrunke und produzieren Pickerl („Michi Häupl – Die Stadt gehört dir“). Eine Wiener Parteisektion plant einen Abschieds-Rave unter dem Titel „Man bringe den Spritzwein“. Und am 1. Mai johlte die Menge am Rathausplatz, wenn der Name des Noch-Bürgermeisters nur erwähnt wurde. Benjamin Opratko fragt: Woher kommt diese ungewöhnliche Liebe?

Der regierende Politiker rangiert im Beliebtheitsindex der Berufsstände meist irgendwo zwischen Immobilienmaklern, Waffenschiebern und U-Bahn-Kontrolleurinnen. Wenn sich einer von ihnen zurückzieht, quittiert das Volk den Vorgang nicht selten mit Erleichterung. Dass ein gewählter Volksvertreter und Parteipolitiker noch im Moment seines Abgangs die Massen mobilisiert, ist ungewöhnlich. Michael Häupl gelingt das.

Tatsächlich sagen Hypes immer mehr über die Zeit und die Gesellschaft aus, in der sie geschehen, als über den Gegenstand des Hypes. Die Frage ist also nicht: Was ist so toll an Michael Häupl? Sondern: Welche Leidenschaften drängen im Volk an die Oberfläche, die sich an Häupls Person verfangen?

1. Die Sehnsucht nach Stabilität

Wenn PolitikerInnen verehrt werden, dann in der Regel für große politische Errungenschaften. Kreisky stand für eine „Demokratisierung aller Lebensbereiche“, Johanna Dohnal für die Einführung elementarer Frauenrechte. Doch Michael Häupl? Die am meisten geliebten und gehassten Projekte seiner Amtszeit, wie die Fußgängerzone auf der Mariahilfer Straße oder die Ausdehnung des Parkpickerls, werden eher seinem grünen Koalitionspartner zugerechnet.

Häupls unspektakuläre Bilanz ist aber kein Manko, sondern der Schlüssel zu seiner Beliebtheit. Es ist kein Zufall, dass gerade jüngere WienerInnen, zwischen Mitte Zwanzig und Mitte Dreißig, ihre Liebe für den urigen Bürgermeister entdecken. Das ist eine Generation, die politische Veränderungen nur als Verschlechterungen erlebt hat.

Das Wort „Reform“ verspricht nicht mehr, wie noch zu Kreiskys Zeiten, die Ausweitung der Zone des Erträglichen im Kapitalismus. In unseren Ohren, nach einem Vierteljahrhundert Neoliberalismus, Privatisierungswahn und Rechtsrutsch („Reform“ des Fremdenrechts, anyone?), klingt es nach gefährlicher Drohung. In einer Stadt wie Wien sind wir schon froh, wenn sich nichts ändert. Zumindest solange wir halbwegs gut ausgebildete, Deutsch sprechende, österreichische StaatsbürgerInnen sind. Und Eltern haben, die aus der Kreisky-Dohnal-Ära ein kleines Rücklagepolsterl für uns ansparen konnten.

2. Die Sehnsucht nach dem guten König

Zu den legendären Häupl-Geschichten gehört ein Auftritt am Brunnenmarkt im Jahr 2008. Ein türkischer Vater soll dem Bürgermeister erklärt haben, dass er seine Tochter nicht in die Schule schicken wolle. Häupl las ihm vor versammeltem Publikum die Leviten: „Wenn Sie Ihre Tochter nicht in die Schule lassen, dann reiß ich Ihnen die Ohrwascheln aus!

Häupl selbst erzählte die Geschichte in Interviews, ob sie stimmt ist zweitrangig. Ihren besonderen Charme erhält sie, weil sie wie jedes Märchen eine Moral transportiert. In diesem Fall: Komplizierte gesellschaftliche Konflikte lassen sich mit etwas Hausverstand und gütiger Autorität lösen. In Zeiten allgemeiner Überreiztheit, in der jedes Kopftuch zum Ausweis eskalierender Kulturkämpfe gerät, sehnen sich viele nach dieser Form der Konfliktlösung: Der gerechte Patriarch führt mit ruhiger Hand, er kennt seine Pappenheimer und zieht ihnen, wenn sie nicht brav sind, auch einmal die Ohren lang. Dass das weniger mit demokratischer Selbstregierung als mit Kaiser Robert Heinrich I. zu tun hat, scheint nur wenige zu stören.

3. Die Sehnsucht nach Entschleunigung

Die verehrte Figur Häupl und der Wiener Bürgermeister Häupl haben nur am Rande miteinander zu tun. Das zeigt die Rezeptionsgeschichte eines weiteren Sagers: „Wenn ich 22 Stunden die Woche arbeite, bin ich Dienstagmittag fertig.“ Der Satz amüsierte die WienerInnen köstlich, mit Ausnahme der Lehrerinnen und Lehrer. Auf sie war die Aussage nämlich gemünzt. 22 Stunden betrug die vorgeschriebene Unterrichtszeit, die Stadt Wien wollte sie im Rahmen von Kürzungsmaßnahmen erhöhen.

Der Witz ging auf Kosten jener, die sich gegen die Verschlechterung der Arbeits- und Unterrichtsbedingungen wehrten (und natürlich mehr arbeiten als die 22 Stunden, die sie im Klassenzimmer verbringen). Häupl wollte damit auch sagen, dass er selbst eben auch mal 15 Stunden am Tag für sein Wien arbeite. Doch diese subtile Botschaft kam nur bei den wenigsten an.

Denn die Inszenierung als Arbeitstier passt so gar nicht zum Wiener Gemütlichkeits-Image, das Häupl sich über die Jahre zugelegt hat. Und weil sich die Popularkultur Unpassendes stets passend macht, interpretierten die Häupl-Ultras den Satz flugs um: Wären wir nicht alle gerne am Dienstagmittag fertig, um mit einem Weißen Spritzer ins nächste (sehr) lange Wochenende zu gleiten? Im Häupl-Hype ist die Kritik am beschleunigten Leben aufgehoben.

4. Die Sehnsucht nach einem lustvollen Leben

Apropos Spritzwein: Was Häupl so sympathisch macht, ist auch sein öffentlich zelebrierter Alkoholgenuss, sein Sinn fürs Kulinarische und die sich daraus ergebende Physiognomie. Als lebenslustiger (mit Verlaub) Blader verkörpert er schon figürlich das Gegenmodell zur neoliberalen Selbstoptimierung, die uns rundum aufgeherrscht wird.

Wer sich zwischen Austria’s Next Topmodel und (Ex-)Kanzlern im Slim Fit-Anzug aufgerieben sieht, dem sagt der Bürgermeister: Alles nicht so tragisch, man kann nach der Hackn statt ins Fit-Inn auch zum Heurigen gehen. Sein schlagfertiger Schmäh im Wiener Fiakerfahrer-Dialekt schlägt die überzüchteten Kommunikationsprofis, denen jede Kante in hunderten Mediencoaching-Stunden aus der Persönlichkeit gefräst wurde.

Wie Käfigkicker unter Fußballprofis (vgl. Arnautovic) oder saufende Rockstars (vgl. Wanda) lässt sich Häupl als aussterbende Spezies inszenieren. Er wirkt damit – schlimmes Wort – authentisch. Im hyperpersonalisierten Politikbetrieb ist das eine harte Währung. Auch, weil immer mehr Menschen vom überbeherrschten, durchgeskripteten, in zweiundrölfzig Fokusgruppen abgetesteten Politikertypus die Nase voll haben.

5. Die Sehnsucht nach einer verlässlichen Linken

Die SPÖ, das war einmal die Partei der Zukunft. „Wir sind das Bauvolk der kommenden Welt“, sangen die GenossInnen einst. Das war 1927, das Lied hieß „Die Arbeiter von Wien“. Doch anders als im Roten Wien des frühen 20. Jahrhunderts fehlt der SPÖ heute jede Vision. Die Perspektive, den Kapitalismus zu überwinden, hat sie aufgegeben. Das Fernziel des Sozialismus hat sie ersetzt durch – nichts. Die SPÖ hat heute keine Utopie und nicht einmal parteiinterne Flügel, die um die politische Visionen streiten. Nur Seilschaften und Clans, die sich um Macht, Geld und Posten befehden.

Die SPÖ verwaltet Errungenschaften früherer Generationen – sozialen Wohnbau, Sozialversicherung oder Arbeiterkammer – und verteidigt sie zaghaft gegen Angriffe von rechts. Doch auf die großen Fragen unserer Zeit, wie Klimakrise, Digitalisierung oder autoritäre Wende, hat sie keine Antworten. Die real existierende Sozialdemokratie ist 2018 kein Bauvolk einer neuen Welt, sondern der keppelnde Hauswart im abgewohnten Gemeindebau. Sie verspricht keine Zukunft, nur dass die Gegenwart langsamer vergeht: „Mit uns wird es auch schlechter, aber weniger schnell“.

Wie anderswo in Europa hat auch in Österreich die Sozialdemokratie ihren Anteil an der Offensive des Kapitals, die Neoliberalismus genannt wird. Zuletzt legte Christian Kern einen „Plan A“ vor, der perfekt ins neoliberale Modernisierungskonzept passt.

Umgeben vom Elend seiner Partei wirkt Michael Häupl wie ein prinzipienfester Titan. Dafür muss er gar nicht allzu viel tun: Es reicht beispielsweise, eine Koalition mit Rechtsextremen kategorisch auszuschließen („Mit der Partei mach ma einen Dreck!“) und mit einer Anti-Strache-Linie ein passables Wahlergebnis einzufahren. Das und manch andere Position kann man Häupl zu Gute halten. Dass ausgerechnet er zur Projektionsfläche vieler junger Linker geworden ist, sagt aber vor allem etwas über den Zustand der Linken in Österreich aus.

Michi Häupl Superstar

Wie jeder interessante Popstar vereint „der Michl“ widersprüchliche Sehnsüchte auf sich. Demokratische und autoritäre, konservative und progressive. Er taugt als Held einer Generation, die jede Hoffnung auf gesellschaftlichen Aufbruch fahren gelassen hat. Der Donaustädter Nuschel-Rapper Yung Hurn gehört zu dieser, er widmet sich der genial-entschleunigten Vertonung des Lebensgefühls „Scheiß drauf“ und hat folgerichtig „Michi Häupl“ auf dem linken Schlüsselbein tätowiert. Die post-ironische Attitüde – ist das noch Schmäh oder doch ernst gemeint? – teilt er mit den Häupl-Ultras.

Als Politiker bleibt Häupls Vermächtnis unspektakulär. Als Entertainer, als Protagonist im Ensemble der Wiener Folklore, werden wir ihn vermissen. Baba, Bürgermeister – wir trinken einen Gspritzten auf dein Wohl. Aber in der Politik, im Aufbau der kommenden Welt und im Kampf gegen die verkommene alte, haben sich unsere Sehnsüchte etwas Besseres verdient.

Autor

 
Nach oben scrollen