Was hat Kolonialismus mit Österreich zu tun?

Schülerinnen im Museum

Kritische Erinnerungskultur in Österreich zu unterstützen und zu fördern, ist wichtig. Wissenschafter*innen von EDUCULT taten das gemeinsam mit Schüler*innen im Rahmen des Projekts „Kolonialismus heute!?“ im Naturhistorischen Museum Wien. Elena Ritschard und Anna Gaberscik berichten von den Ergebnissen.

Wir können Geschichte nicht als etwas Abgeschlossenes, in der Vergangenheit Verhaftetes sehen, sondern als etwas, mit dem unsere Gegenwart strukturiert ist. Eine kritische Erinnerungskultur ist wichtig. Sie ermutigt uns, die weniger berücksichtigten Aspekte unserer Vergangenheit zu erkennen und zu verstehen. Dazu gehört auch die jahrhundertealte Kolonialgeschichte Österreichs und ihre politischen, sozialen und ökologischen Auswirkungen in der Gegenwart. Denn obwohl Österreich-Ungarn im 18. und 19. Jahrhundert im Gegensatz zu anderen Kolonialmächten nahezu kein Staatseigentum außerhalb Europas besaß, profitierte es immens vom Kolonialsystem und der herrschenden Gewalt gegenüber versklavten Menschen aus Afrika und indigenen Völkern.

In diesem Zusammenhang gelangten viele ethnografische und natürliche Objekte in die musealen Sammlungen. Sie werden heute in verschiedenen österreichischen Museen aufbewahrt und ausgestellt. In die Museen kamen die Objekte durch Expeditionen. Diese verfolgten neben einem wissenschaftlichen Zweck hauptsächlich das Ziel der Erkundung von Ressourcen zur weiteren Bereicherung des K.u.K.-Reiches. Objekte mit kolonialer Geschichte finden sich daher nicht nur in ethnographischen und anthropologischen Sammlungen, sondern auch in naturwissenschaftlichen.

„Kolonialismus heute?!“ am Naturhistorischen Museum

Aber wie können wir koloniale Erwerbskontexte und deren aktuelle Folgen in einem naturwissenschaftlichen Museum interaktiv und kritisch vermitteln? Diese Frage leitete das Sparkling Science Projekt „Kolonialismus heute?! Was hat das mit mir zu tun?”. Im Rahmen des einjährigen Projekts untersuchten ein interdisziplinäres Forschungsteam von EDUCULT, das Naturhistorische Museum Wien (NHM), und Schüler*innen der 7. Klasse eines Wiener Gymnasiums das koloniale Erbe im NHM wissenschaftlich. Anstelle Kolonialismus im Bereich der Ethnographie zu reflektieren, schlug das Projekt einen neuen Weg ein und reflektiert die kolonialen Konsequenzen auf naturwissenschaftliche Sammlungen. Die Schüler*innen erkundeten interaktive Möglichkeiten zur Vermittlung kolonialer Zusammenhänge im Kontext der temporären Brasilien-Ausstellung (2022-2023) im NHM. In Anbetracht dieser Ergebnisse, hat das Forschungsteam bislang Empfehlungen für eine dekoloniale Praxis für das Museum vorgelegt.

Geschichte anders erzählen

Im Projektverlauf untersuchten Schüler*innen die Potentiale bislang unerzählter Narrative zu kolonialem Erwerb. Dabei waren die Beschreibungen der Sammlungsobjekte Ausgangspunkt der Recherche. Diese Etiketten der Exponate tragen in der Regel die Namen der Wissenschaftler*innen, die sie gesammelt haben – eine Art, ihre Autor*innenschaft zu beweisen. Die Tatsache, dass versklavte Begleiter*innen der Kolonialherren Tiere jagten und sogar präparierten, hört man in Museen nur selten. Dies ist z.B. der Fall bei einem Manati (ein pflanzenfressendes Meeressäugetier) und bei Vögeln, die während der österreichischen Brasilienexpedition 1817 gesammelt wurden und deren Herkunftsgeschichte zwei Schüler*innen im Rahmen des Projekts mittels eines Audio Guides erzählten.

Koloniale Kontextualisierung spielt auch bei der architektonischen Verzierung im NHM eine wichtige Rolle. Dies ist z.B. bei historischen Deckengemälden der Fall. Sie stellen die diverse Lebenswelten mit rassifizierten Begriffe dar und fördern Stereotype, die heute einen Einfluss auf die Ausgrenzung von BiPOCs (Black, Indigenous, People of Color) im Museum haben können.

Der zeitgenössische, antikoloniale und antirassistische Diskurs ist abhängig von den historischen Perspektiven, die in den Museen ihren Platz finden und von den Narrativen, die in ihnen erzählt werden. Die Unsichtbarmachung von Teilen der Geschichte, in denen Österreich Gewalt und Unrecht begangen hat, wie z.B. die koloniale Vergangenheit, erleichtert das Verschweigen von Täter*innenschaft. Dem entgegenzuwirken, erfordert ein aktives Bemühen um die Analyse und Aufarbeitung der Geschichte aus verschiedenen Perspektiven. Dies verlangt eine drastische Verlagerung der Aufmerksamkeit und der Ressourcen. Beispiele dafür sind die Einbeziehung von Communites of Origin und nicht-westlicher Wissenssysteme sowie die ernsthafte Berücksichtigung der Bedürfnisse und Wünsche eines vielfältigeren Publikums. Solche Bemühungen fördern Inklusionsprozesse in kulturellen Räumen.

Schüler:innen wird das Projekt "Kolonialismus heute!?" vorgestellt.
Vermittlung des Projekts „Kolonialismus heute!?“ im NHM, (c) Christina Rittmannsperger

Verlernen kolonialer Denkweisen durch aktive strukturelle Veränderungen

In den Handlungsempfehlungen des Projekts stellen Deiß und Ritschard fest: „[D]ie Öffnung des Museums für breite und diverse Bevölkerungsgruppen und die Überwindung von Ungleichheiten in der Zugänglichkeit zum Museum und seiner Wissensproduktion [ist] zentral.“

Diese Handlungsempfehlungen sind Teil einer umfassenderen Bemühung, die Funktionsweise von Museen zu verändern. Dazu gehört ein Umdenken in Bezug auf das Publikum, das sie ansprechen. Ein weiterer Punkt ist das Infragestellen der Narrative, die die Inhalte der Museen reproduzieren. In diesem Sinne sprechen wir von einer „multidimensionalen Öffnung“ des Museums. Der bisherige Ausschluss gewisser Zielgruppen ist als strategische Funktion zu interpretieren. Genau dieses Verständnis bildet die Grundlage für die Handlungsempfehlungen. Sie sind aktive Maßnahmen gegen den exkludierenden Charakter von Museen und die oft barrierereichen Wege, auf denen Wissen produziert wird. Es geht darum, die Narrative zu hinterfragen, die Ungleichheiten, die sie reproduzieren können, ans Licht zu bringen und mit Geschichte zu interagieren.

Foto: Christina Rittmannsperger

Autoren

  • Elena Ritschard

    Elena A. Ritschard ist aktuell wissenschaftliche Mitarbeiterin am EDUCULT – Institut für Kulturpolitik und Kulturmanagement. Nachdem sie ihre Forschungslaufbahn der Biodiversität und Evolution von Tintenfischen gewidmet hat, konzentriert sie sich nun auf interdisziplinäre wissenschaftliche Ansätze, die auf eine Entkolonialisierung der Naturwissenschaften abzielen und zu einem Dialog zwischen verschiedenen Wissenssystemen rund um die Natur beitragen.

  • Anna Gaberscik

    Anna Gaberscik macht Kulturmanagement und Öffentlichkeitsarbeit bei EDUCULT – Institut für Kulturpolitik und Kulturmanagement. Sie ist eine US-amerikanisch-österreichische Anti-Rassismus-Beraterin, Performerin, Autorin und Regisseurin. Anna ist auch die Gründerin von "Through Our Eyes", einem interdisziplinären Projekt, das Antirassismus, Intersektionalität und Empowerment in verschiedenen kreativen Formen erforscht.

 
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