Venezuela vor den Wahlen: „Wir leben in einer Diktatur“

Heute wird in Venezuela gewählt. Nicolas Maduro, Nachfolger der linken Ikone Hugo Chávez, kann sich seiner Wahl als Präsident sicher sein. Doch das liegt nicht an der Unterstützung durch die Bevölkerung. Im Land herrschen Hunger, Armut und Gewalt, Maduro herrscht mit autoritären Mitteln. Was ist aus dem „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ geworden? Ulrich Brand sprach darüber mit dem venezolanischen Soziologen Edgardo Lander.

mosaik: Eigentlich hätte Venezuela erst Ende 2018 einen neuen Präsidenten wählen sollen. Warum hat Nicolas Maduro die Präsidentschaftswahlen vorgezogen?

Edgardo Lander: Es geht der Regierung um den Erhalt der totalen politischen Kontrolle. Maduro nützt die Tatsache aus, dass die Opposition aktuell sehr gespalten ist.

Letztes Jahr, Ende Juli 2017, hat er die verfassungsgebende Versammlung durch fragwürdige Wahlen eingesetzt. Unter den 535 Mitgliedern ist kein einziges von der Opposition. Direkt nach ihrer Einsetzung hat sie sich als „über der Verfassung stehend“ erklärt. Sie kann über alle öffentlichen Angelegenheiten entscheiden, Gesetze machen und hat de facto die Verfassung von 1999 (die „bolivarische“ Verfassung wurde unter Hugo Chavez bei einer Volksabstimmung angenommen, Anm. d Red.) ausgesetzt. Damit gibt es eigentlich keine Möglichkeit, als Opposition bei Wahlen anzutreten.

Maduro wird die Wahlen also gewinnen?

Das ist absolut sicher. Wenn es ein Risiko gäbe, dass er nicht gewinnt, würde die verfassungsgebende Versammlung einfach ein neues Gesetz verabschieden. Wir leben in einer Diktatur, weil es keine Wahlmechanismen gibt, in denen die Bevölkerung entscheiden kann, wer Venezuela regiert. Das entscheidet Maduro, die verfassungsgebende Versammlung oder die nationale Wahlbehörde.

Wie sieht die wirtschaftliche Situation aus?

Es gibt einen unglaublichen ökonomischen Einbruch. Ende der 1990er Jahre wurden 3,3 Millionen Barrel Öl pro Tag gefördert, heute sind es 1,6 Millionen. Und das in einem Land, das vollständig von den Ölexporten abhängig ist. Die Gründe liegen in fehlender Modernisierung, Korruption und Missmanagement. Dadurch fehlen der Regierung die Einnahmen.

Inzwischen ist der Ölpreis ja wieder gestiegen, das Problem ist nun die fehlende Fördermenge. Was aus ökologischen Gründen ja gut wäre (lacht).

Dazu kommt eine enorme Auslandsverschuldung von geschätzt 180 Milliarden Dollar. Die Regierung bezahlt Zinsen und Tilgung. Das verringert die Möglichkeiten, Nahrungsmittel bereitzustellen oder die Krankenhäuser am Laufen zu halten. Dazu kommt eine nie dagewesene Korruption.

Wie wirkt sich das auf den Alltag der Menschen aus?

Der Alltag ist unglaublich schwierig. Umgerechnet beträgt der Mindestlohn heute wenige US-Dollar. Die Einkommen reichen nicht und die Preise erfüllen nicht ihre Funktion. Einige Lebensmittel werden subventioniert, aber es sind viel zu wenige. Für mein Telefon bezahle ich in fünf Jahren so viel wie für eine Tasse Kaffee. Es gibt Programme der Regierung für subventionierte Lebensmittel, die unregelmäßig verteilt werden. Das Benzin wird praktisch an die Bevölkerung verschenkt.

Das Gesamtbild könnte man so beschreiben. Die Regierung verwendet einen Teil der Öleinnahmen für die Bezahlung der Auslandsschulden und einen anderen Teil für den Import von Lebensmitteln, insbesondere aus Mexiko, teilweise aus Brasilien. Es gibt kaum interne Nahrungsmittelproduktion, überhaupt keine Investitionen in Produktion, öffentliche Dienstleistungen, Infrastruktur. Das Transportwesen, das Gesundheitswesen kollabieren.

Die Regierung agiert total kurzfristig. Durch die Knappheit an Lebensmitteln gibt es einen Tauschhandel und Warteschlangen, in denen die Menschen ihre Energie aufbringen müssen. Man schätzt außerdem, dass in den letzten drei Jahren etwa drei Millionen Menschen ausgewandert sind, also ca. zehn Prozent der Bevölkerung.

Auch die enorme Inflation erschwert das Leben im Alltag, oder?

Ja. Im letzten Jahr betrug die Inflation 1.600 Prozent. Dieses Jahr könnte sie in den fünfstelligen Bereich gehen, Schätzungen zufolge auf 14.000 Prozent. Unternehmer und Beschäftigte können einfach nicht kalkulieren. Dazu kommt, dass die Regierung plötzlich Preisgrenzen einführt, etwa auf Fleisch. Doch der liegt unter den Produktionskosten, was bedeutet, dass plötzlich die Produkte vom Markt verschwinden.

Welche Rolle spielt das Militär in dieser Situation?

Die Militärführung steht weitgehend auf Seiten der Regierung. Ideologisch, aber auch materiell, weil in der Führung und auf mittlerer Ebene eine unglaubliche Korruption herrscht. Sie haben viel zu verlieren bei einem Regierungswechsel.

In den unteren Reihen gibt es viel Unmut. Der Lohn reicht bei Weitem nicht zum Leben. Inwieweit dieser Unmut aber in einen Militärcoup münden könnte, ist unklar. Wenn es aber zu einem Aufstand seitens des Militärs kommt, dann wird der ziemlich sicher nicht demokratisch ablaufen, sondern das Land nach rechts führen.

Die Regierung hat vor zwei Jahren versucht, in einem großen Gebiet im Süden des Landes internationales Kapital für den Bergbau anzuziehen. Dieses Gebiet, der „Minenbogen von Orinoco“, ist deutlich größer ist als Österreich. Was hat sich dort getan?

Das Kapital kommt nicht, weil es keine politische Stabilität gibt. Doch es gibt eine andere Dynamik: Der kleine Bergbau hat seit 2008 stark zugenommen und in der aktuellen Krise noch mehr. Man spricht von 100.000 BergarbeiterInnen.

Dabei wird giftiges Quecksilber eingesetzt, die Arbeitsbedingungen sind katastrophal, es gibt Korruption, Prostitution, viel Gewalt, Rechtlosigkeit. Die einzelnen Territorien werden von Mafias kontrolliert, bei denen auch staatliche Sicherheitskräfte mitmachen. Die Umweltauswirkungen des kleinen Bergbaus sind noch katastrophaler als von den großen Bergbaufirmen.

Der Soziologe Fernando Coronil hat Venezuela 1997 als „Estado Mágico“ beschrieben, als magischen Staat, der durch die Erdölförderung den Weg in die Erste Welt ebnet. Was ist davon übrig geblieben?

Dieses Bild hat sich durch die ineffektive und autoritäre Politik des Staates und aufgrund der Korruption grundlegend verändert. In der Krise hat sich der Alltagsverstand nach rechts entwickelt. Er ist zwar nicht neoliberal, aber die negativen Erfahrungen haben das Bild des „magischen Staates“ schon sehr grundlegend erschüttert.

Was müsste denn unmittelbar geschehen, um die schlimmsten Auswirkungen der Krise zu bekämpfen?

Erstmal müsste anerkannt werden, dass es eine humanitäre Krise in Venezuela gibt. Doch das ist ambivalent, weil so etwas ja auch eine Intervention von außen rechtfertigen könnte. Deshalb spricht die Regierung von „Problemen“, aber nicht von einer „Krise“.

Voraussetzung für eine Lösung wäre eine Neuverhandlung der Auslandschulden. Zweitens braucht es mehr Transparenz und eine Kontrolle der öffentlichen Schulden durch die Bevölkerung, um der Korruption zu begegnen. Drittens bedarf es dringend internationaler Lieferungen von Lebensmitteln und Medikamenten. Menschen mit Diabetes können nicht behandelt werden, es sind keine Bluttransfusionen möglich und vieles andere.

Eine Studie der Caritas hat gezeigt, dass rund 50 Prozent der Kinder Merkmale von Unterernährung aufweisen. Die Caritas hat Unterstützung angeboten, doch die Regierung will das nicht. Ähnlich war es bei Ärzte ohne Grenzen, die Unterstützung bei der sich ausbreitenden Malaria anboten.

Wie könnten langfristige Alternativen für Venezuela aussehen?

Die Szenarien sind schwierig. Die US-Regierung deutet an, dass sie sich eine Intervention von außen vorstellen könnte. Das wäre eine Katastrophe mit der Gefahr eines Bürgerkriegs. Möglich ist auch eine umfassende soziale Explosion mit unübersichtlichen Folgen: Plünderungen, Gewalt, eine sich in der Unübersichtlichkeit formierende Mafia. Auch die venezolanische Rechte mischt mit und versucht, den Unmut anzufachen.

Das Problem ist, dass es überhaupt keine politische Artikulation gibt, um diese Situation zu verändern: kein Programm, keine politische Organisation, keine integre Führungsfiguren.

 

Edgardo Lander ist emeritierter Professor für Soziologie an der Zentraluniversität von Venezuela in Caracas und Mitglied des Internationalen Beirats des in Amsterdam ansässigen „Transnational Institute“.

Interview: Ulrich Brand

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