MOSAIK-PODCAST #6 – Globale Revolte? – Der Rote Oktober 2019 und die Zukunft der globalen Aufstände

Gegenwärtig brennen weltweit Straßen. Irak, Chile, Ecuador, Hong Kong, Libanon, Algerien – die Liste ließe sich fortführen. In der sechsten Ausgabe des Mosaik-Podcasts setzt sich Julia Brandstätter in ihrem Essay mit Ursachen, Gemeinsamkeiten und Zukunft der gegenwärtigen Aufstände auseinander.

Der Beitrag zum Anhören:

Im Jahr 1848 beschworen Marx und Engels ein Gespenst, das in Europa umging. Fast siebzig Jahre später erschütterte die russische Oktoberrevolution den europäischen Kontinent. Heute erleben wir einen vergleichbaren Sturm der Entrüstung, der über viele Teile der Welt fegt und im „Roten Oktober“ seinen vorläufigen Höhepunkt erreicht hat.

Donnergrollen der Weltrevolution

Die eigentliche Zäsur markierte bereits die nicht abreißen wollende Protestwelle in Frankreich, die genau vor einem Jahr losgetreten wurde. Bald darauf erhoben sich die Massen im Sudan und stürzten den Präsidenten Omar al-Baschir im Frühjahr 2019.

Fast zur selben Zeit wurde der Rücktritt des algerischen Präsidenten Abd al-Aziz Bouteflika erzwungen. Die Proteste in Algerien erreichten erst kürzlich einen neuen Höhepunkt, als am 1. November zehntausende Menschen eine „neue Revolution“ forderten. Aber auch in Hongkong, Honduras, Haiti, im Iran und in Ägypten prasselte der Zorn der Massen auf die Herrschenden nieder.

Brennende Barrikaden im „Roten Oktober“

Pünktlich am Monatsersten begann der „Rote Oktober“ im Irak, als tausende Iraker und Irakerinnen auf den Tahrir Platz zogen. Seitdem reißen die Proteste nicht mehr ab. Nur einen Tag später strömten die Menschen in Ecuador auf die Straßen. Indigene, Gewerkschaften und Studierende solidarisierten sich und die Bewegung entwickelte sich bald zu einem Aufstand gegen die Regierung.

Mitte des Monats folgte der Libanon. Mindestens ein Viertel der Bevölkerung soll allein am 20. Oktober an den Protesten teilgenommen haben. In Sprechchören fordern sie die „Revolution! Revolution!“ und den „Sturz des Regimes“. In Chile erreichten die Massenmobilisierungen am 25. Oktober ihren Höhepunkt. Allein in den Straßen von Santiago de Chile drängten sich 1,2 Millionen Menschen dicht aneinander.

Ursachen der Aufstände

Es waren scheinbar Kleinigkeiten, die diese Massenproteste auslösten: eine Erhöhung der Benzinsteuer in Frankreich, eine Einführung von Whatsapp-Gebühren im Libanon, eine Kürzung der Subventionen für Benzin und Diesel in Ecuador und eine Preiserhöhung der Öffi-Tickets in Chile. Aber all diese Verschlechterungen sind stets nur der sprichwörtliche Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Der angestaute Unmut, der sich plötzlich auf den Straßen entlädt, brodelt schon länger unter der Oberfläche.

Die Zahlen sprechen für sich. Im Irak lebt fast ein Viertel der Bevölkerung von weniger als 1,90 Dollar pro Tag. Die Ungleichverteilung der Einkommen in Chile ist eine der haarsträubendsten weltweit. Im Libanon dominieren sieben Milliardäre die gesamte Wirtschaft. Fast alle entstammen den Familien Hariri oder Makti, die das Land seit Jahrzehnten regieren. Dazu kommt eine Jugendarbeitslosigkeit von 37 Prozent. Und Ecuador ist eines der ärmsten Länder in Lateinamerika. Allgemein gilt: Die soziale Infrastruktur bröckelt, Löhne und Sozialleistungen schrumpfen, während die Lebenshaltungskosten steigen.

Maßlose Polizeigewalt

Überall liefern sich die Protestierenden Straßenschlachten mit der Polizei, die Tränengas, Wasserwerfer und teilweise scharfe Munition gegen die Demonstrierenden einsetzen. In Chile verkündete Präsident Sebastián Piñera: „Wir sind im Krieg!“ Die Bilanz: mindestens 20 Tote, über tausend Verletzte, willkürliche Verhaftungen, Foltermethoden aus Pinochets Zeiten und sexuelle Gewalt.

Auch die irakische Polizei geht mit gesteigerter Brutalität gegen die jungen Demonstrierenden vor, die mehrheitlich zwischen 15 und 25 Jahren alt sind. Berichten zufolge schießen die Polizisten mit Tränengasgranaten gezielt in die Menge. Die Granaten durchbohren Schädel und hinterlassen klaffende Wunden am Körper, aus denen weißer Rauch aufsteigt. Bisher wurden laut Medienberichten mehr als 260 Menschen getötet und über 11.000 verletzt. Trotz grausamer Gewaltexzesse vonseiten der Exekutive ebben die Proteste nicht ab – und erzielen erste Erfolge.

Erste Erfolge

Die Regierungen setzen nicht nur auf Repression, sie machen auch Zugeständnisse. Diese Strategie geht aber bisher in den meisten Fällen nicht auf, weil die Forderungen der Protestierenden viel weiter gehen. „Wir werden die Straße nicht verlassen, bis die Diebe in der Regierung verschwinden“, sagt ein junger libanesischer Demonstrant. „Die Regierung und der Präsident müssen verschwinden. Alle Libanesen sind hungrig und haben kein Geld und keine Jobs“, berichtet eine andere Demonstrantin. Der Rücktritt des libanesischen Ministerpräsidenten Saad Hariri konnte die Bewegung nicht aufhalten. Die Menschen wollen, wie sie rufen, den „Sturz des Regimes“.

Der ecuadorianische Präsident Lenín Moreno musste nicht nur das gemeinsam mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) geschnürte Sparpaket zurücknehmen. Seine ganze Regierung musste aus der Hauptstadt fliehen, nachdem eine Gruppe von Demonstrierenden das Gebäude der Nationalversammlung erstürmt hatte.

In Chile sah sich der Präsident Sebastián Piñera (der in Umfragen nur mehr 14 Prozent Zustimmung erhält) gezwungen, den Ausnahmezustand und die Ausgangssperre aufzuheben, sein Regierungskabinett umzubilden und Reformen zu versprechen. Nur wenige Tage später strömten die Menschen unter dem Motto #EstoNoHaTerminado (Es ist noch nicht vorbei) wieder auf die Straßen. Sie fordern den Rücktritt des Präsidenten.

Die Massen wollen mehr

Die Peitsche schüchtert die Menschen nicht ein und mit dem Zuckerbrot wollen sie sich nicht zufrieden geben. Der zähe, ungebrochene Kampfgeist treibt die Protestbewegungen voran – und mancherorts beginnen sie mit dem Aufbau ihrer eigenen Institutionen, einer Gegenmacht. Im Sudan bildeten sich im Frühjahr Protestkomitees in Betrieben, in Dörfern und Stadtvierteln.

In Chile wurden „cabildos abiertos“ (offene Räte) gebildet und Regionalversammlungen abgehalten. In Ecuador erklärte die indigene Bewegung ihrerseits den Ausnahmezustand und nahm in der Provinz Chimborazo in den Anden knapp 50 Polizisten für mehrere Tage gefangen, womit die Staatsmacht klar herausgefordert wurde.

Die fragwürdige Rolle linker Parteien

Die globalen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen lassen keine rasche Befriedung der Bewegungen zu. Überall verheddern sich die Regierungen in der Zwangsjacke der Sparmaßnahmen, die ihnen von der Wirtschaft diktiert werden. Ein neuer wirtschaftlicher Aufschwung, der den sozialpolitischen und wohlfahrtsstaatlichen Handlungsspielraum der Politik erweitern würde, ist angesichts der düsteren Prognosen nicht absehbar.

Nichtsdestotrotz bemühen sich die Regierungen, die radikalen Forderungen der Massenbewegungen über Zugeständnisse und Reformen in geordnete Bahnen zu lenken. Ein Abflauen der Proteste ist überall dort wahrscheinlich, wo sich linke Parteien auf Verhandlungen mit den Herrschenden einlassen. In Ecuador vermittelte etwa die UN und die katholische Kirche zwischen der Regierung und dem Nationalen Dachverband der indigenen Bevölkerung (CONAIE). In Chile versucht die Linke, die Massenproteste auf das Ziel einer verfassungsgebenden Versammlung zu orientieren und von der Regierung als Verhandlungspartner akzeptiert zu werden.

An der Schwelle zur Weltrevolution?

Einzelne Personalrochaden und Reformversprechen ändern aber genauso wenig an den kapitalistischen Verhältnissen wie der Rücktritt einer gesamten Regierung. Deshalb entwickelten sich in manchen Ländern aus der bloßen Eigendynamik der Proteste Organisationsstrukturen, die sich gegen das gesamte Regime formieren. Ein grundlegender Wandel des Wirtschaftssystems, das ausschlaggebend für die Misere der Menschen ist, kann nur demokratisch von solchen Komitees organisiert werden, die sich über Stadt- und Landesgrenzen hinaus vernetzen.

Ob eine Überwindung des Wirtschaftssystems und der parlamentarischen Demokratie tatsächlich angestrebt wird oder nicht, ist eine Frage der Durchsetzung von politischen Perspektiven und Strategien, die von den Vielen getragen werden. Der Erfolg oder Misserfolg der heutigen Massenbewegungen wird wie in der Geschichte der großen Revolutionen überhaupt davon abhängen, ob es Parteien gibt, die sich in Fundamentalopposition zum herrschenden Wirtschaftssystem stellen, den revolutionären Prozess vorantreiben und zum Sieg führen können.

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