Genau ein Jahr ist es her, als die Gelbwesten erstmals Frankreichs Straßen säumten. Der Staat antwortete mit gnadenloser Repression, Präsident Emmanuel Macron hält an seiner neoliberalen Linie fest. Doch warum konnte die Bewegung so groß werden? Und was kann aus ihr entstehen? Eine Bilanz von Sebastian Chwala.
Obwohl es in den letzten Monaten um die Gelbwesten in Frankreich stiller geworden ist, geht die Mobilisierung weiter. So trafen sich Ende Oktober mehr als 200 Delegationen aus ganz Frankreich zu einer vierten Basisversammlung in Montpellier. Am Wochenende begehen die Gelbwesten an den Kreisverkehren und mit zahlreiche Demonstrationen ihr einjähriges Jubiläum. Am 17. November 2018 kam es zu ihren ersten, großen Demonstrationen. Sie halten damit dem faktischen Ausnahmezustand stand, den Staatspräsident Emmanuel Macron und die französische Regierung über das Land verhängt haben.
Macrons Krieg gegen die Zivilgesellschaft
Mag der Ausnahmezustand auch seit Ende 2017 formal nicht mehr ausgerufen worden sein, zeigt sich anhand der Repression von Polizei und Justiz gegen die Gelbwesten-Bewegung ein anderes Bild. So wurden seit dem November 2018 hunderte Menschen bei Demonstrationen durch Polizeigranaten, Gummigeschosse und Tränengas teils schwerst verletzt und lebenslang entstellt.
Zusätzlich ergoss sich eine Flut von Gerichtsprozessen über die Aktivist*innen. Bis heute fanden mehr als 3.000 Prozesse gegen Teilnehmer*innen an den Aktionen der Bewegung statt. Mehr als 2.000 Menschen wurden zu Haftstrafen verurteilt. Die Aufarbeitung des brutalen Vorgehens der Einsatzkräfte der Polizei verweigert der französische Staat dagegen konsequent. Es ist offensichtlich: Der marktautoritäre Staatspräsident Macron und sein Innenminister Christophe Castaner führen einen Krieg gegen die Zivilgesellschaft.
Jahrhundertealte Unterdrückungs-Strategie
Doch die gesetzlichen Grundlagen dieser Repression sind nicht neu, sie bestehen seit dem vorletzten Jahrhundert. Damals wurde der Straftatbestand der „kriminellen Vereinigung“ geschaffen, um den aufkeimenden Anarchismus, der über relevanten Rückhalt unter Arbeiter*innen verfügte, politisch auszuschalten. Politische Aktivist*innen wurden zu Verbrecher*innen gemacht. Allein die Sympathie für die politische Linke reichte, um vor Gericht gestellt und mit Gefängnisstrafen belegt zu werden. Zahlreiche linke Zeitungen mussten aufgrund staatlicher Zwangsmaßnahmen ihr Erscheinen einstellen.
Als ohnmächtige Reaktion darauf griffen die Aktivist*innen des 19. Jahrhunderts vermehrt zum Mittel der Militanz. Auch vor Bombenattentaten schreckten sie nicht zurück. Freilich verlor der Anarchismus in dem Moment an Attraktivität, als es der organisierten Arbeiter*innenbewegung mehr und mehr gelang, institutionell an Einfluss zu gewinnen. Die Eliten waren gezwungen, Zugeständnisse zu machen. Der französische Sozialstaat wurde aus der Taufe gehoben und mit der Gründung der IV. Republik nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs verfassungsrechtlich verankert. Ergänzt wurde er durch eine stark staatlich beeinflusste Industriepolitik, die erst ab den späten 1970ern schrittweise in Frage gestellt wurde.
Neu entstandene Armut
Die schrittweise Privatisierung und Deregulierung großer Industrieunternehmen samt Stärkung des Finanzsektors führte in den 1980ern und 1990ern zum Verlust mehrerer hunderttausend Industriearbeitsplätze. Gleichzeitig wuchsen auch in Frankreich Leih- und Zeitarbeit an. Die Milieus der Linken zerfielen, ihre Organisationen gerieten in die Krise. Gleichzeitig versuchte der französische Staat, einen Teil der neu entstanden Armut aufzufangen. Die Grundsicherung für Erwerbslose, die keinen Anspruch auf Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung hatten, oder das Anrecht auf eine staatliche garantierte medizinische Versorgung kommen aus dieser Zeit.
Kurz gesagt, der Sozialstaat blieb bis in die 2000er Jahre hinein weitgehend unangetastet. Erst ab 2010 unterwarf sich der französische Präsident Sarkozy endgültig dem neoliberalen Mantra der Europäischen Union. Über allem stand in Frankreich nun Haushaltssanierung durch strikte Austerität und Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit. Macron treibt diese nun noch weiter voran.
Macrons Hauptfeind: der Sozialstaat
Als Staatspräsident hat Macron den Sozialstaat zu seinem Hauptfeind erklärt. Das Wohngeld senkte er bereits. Alle weiteren Sozialleistungen erhöhte die Regierung nicht einmal mehr um die Inflation. Nun steht eine „Reform“ der Arbeitslosenversicherung an. Sie soll das Anrecht auf Leistungen deutlich erschweren und wird selbst für jene, die Leistungen beziehen, deutliche finanziellen Einbußen zur Folge haben. Das nationale Statistikamt INSEE hat bereits festgestellt, dass die Armut in Frankreich allein im letzten Jahr um 0,6 Prozent gestiegen ist. Fast 15 Prozent der Menschen in Frankreich gelten aktuell als arm.
Macron ist ein Anhänger von „workfare“-Konzepten. Die Aufgabe des Sozialstaates besteht für ihn nicht in der Abfederung sozialer Härten und der Ermöglichung gesellschaftlicher Teilhabe. Im Gegenteil, scharfe Sanktionen und Arbeitszwang sollen dafür sorgen, dass sich die Französ*innen dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stellen und jede Form von Arbeit annehmen. Präsident Macron schwebt die Schaffung eines großen Niedriglohnsektors nach deutschem Vorbild vor.
Elitäre Regierung gegen die „Volksklasse“
Deshalb gehen die Proteste weiter. Die Angst des Staats vor den Gelbwesten ist nicht unberechtigt. Und der elitäre autoritäre Kern der französischen Republik wird wieder deutlich. Alle Spitzenposten sind von großbürgerlichen Abgänger*innen der „Elitenschulen“ besetzt, die demokratische Prozesse ohnehin mit Verachtung betrachten. So sehen sich die gesellschaftliche Eliten in Frankreich nicht nur als Besitzbürgertum, sondern sie definieren sich auch als Bildungselite, die über einen intellektuelle Wahrheitsanspruch verfügt. Die soziale Distanz zu den Mittel- und Unterklasse, in Frankreich die „Volksklasse“ genannt, potenziert sich damit.
Dabei statten die Rechtsregierungen der letzten Jahrzehnte die „gesellschaftliche Mitte“ mit kleinen Privilegien aus. Ein Großteil der Volksklasse besitzt inzwischen ein Eigenheim am Stadtrand. Aus der mobilisierbaren Arbeiter*innenklasse, für die einst der soziale Wohnungsbau geschaffen worden war, wurden individualisierte Kleinbürger*innen. Sie gaben sich „unpolitisch“ und sympathisierten, aus Angst durch Migration und Globalisierung um ihren kleinen Wohlstand gebracht zu werden, vermehrt mit dem Rechtspopulismus. Doch die Abwertung ihrer Lebensweise und die einseitige steuerliche Bevorteilung der multinationalen Konzerne und Superreichen verletzt allerdings auch den materialistisch ausgerichteten Arbeitsethos der Mittelklasse.
Die „kleinen Leute“ entdecken die soziale Frage neu
Macrons Wille, den französischen Sozialstaat auf ein Minimum zu reduzieren und eine angelsächsisch inspirierte Marktgesellschaft zu etablieren, hat auch die „kleinen Leute“ in Frankreich verändert. Sie, die in den letzten dreißig Jahren der Rhetorik der Rechtsparteien auf den Leim gegangen sind, entdecken die soziale Frage neu.
Doch die Euphorie über den sozialen Fokus der Forderungen der Bewegung darf nicht täuschen. Auch aus den Reihen der Gelbwesten erhielt die rechtspopulistische Partei „Rassemblement National“ (RN) von Marine Le Pen bei den vergangenen EU-Wahlen viele Stimmen. Das zeigt, dass die nationalistische Verkürzung der Kritik am neoliberalen, proeuropäischen Kurs Macrons im Umfeld der Gelbwesten nach wie vor verbreitet ist. Die allgemeine Stimmung ist in erster Linie „dagegen“. Eine gemeinsames kohärentes Aktionsprogramm existiert zwar auf dem Papier, hat aber noch zu keinen Aktionen geführt, die strategisch durchschlagenden Erfolg gehabt hätten.
Potenzielle Energie
Unter den Gelbwesten dominiert ein allgemeines Misstrauen gegen Staat und Wirtschaftsakteure, was Verschwörungstheorien begünstigt. Der harte Kern der Bewegung ist für links-progressive Bündnisse offen. Doch er war immer nur ein Teil der Bewegung und wurde durch die staatliche Unterdrückungspolitik der letzten Monate nicht unbedingt größer.
Dennoch können diese Aktivist*innen in den kommenden Monaten eine Scharnierfunktion einnehmen und linke Akteure aus dem gewerkschaftlichen, politischen und ökologischen Spektrum zusammenführen. Neben dem Protest auf der Straße könnten daraus Bündnislisten für die Kommunalwahlen im kommenden Frühjahr entstehen. Vielleicht bestehen sogar Potenziale für eine starke Bündniskandidatur bei den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2022.
Sebastian Chwala ist Politikwissenschaftler an der Universität Marburg, wo er über die radikale Rechte in Frankreich promoviert. Er publiziert regelmäßig zu aktuellen französischen Themen.