“Der Großteil der Bevölkerung hat keine gefestigten politischen Überzeugungen”

Lassen sich in Österreich Mehrheiten durch einen strikten Fokus auf Umverteilungspolitik gewinnen, oder ist das angesichts des grassierenden Rassismus eine Illusion? Der Weg liegt dazwischen, sagen die Autor_innen von „Umkämpfte Solidaritäten – Spaltungslinien in der Gegenwartsgesellschaft“ (Promedia Verlag). Solidaritätsvorstellungen sind ambivalent, die Übergänge politisch gestaltbar.

Das Buch Umkämpfte Solidaritäten will in einem Streit vermitteln. In einem Streit, der Österreichs Linke seit einiger Zeit beschäftigt. Da gibt es auf der einen Seite Stimmen, die meinen, man müsse endlich wieder Politik für die Vielen machen, linke Mehrheiten in wirtschafts- und sozialpolitischen Themen ausnutzen und weniger über kulturelle Fragen streiten. Sinnbildlich steht dafür der Gastkommentar von Barbara Blaha im Profil aus dem vergangenen Herbst. Andere wiederum vertreten den Standpunkt, dass ein Fokus auf Sozialpolitik zu wenig ist. Eine linke Sozialpolitik muss auch benennen für wen sie da ist: für alle, unabhängig von Pass und Aufenthaltsdauer. Angesichts des Rassismus in Österreich ist es aber eine Illusion zu glauben, so eine Sozialpolitik sei mehrheitsfähig.

Dritter Weg

Umkämpfte Solidaritäten bietet einen dritten Vorschlag: Politische Orientierungen sind ambivalent. Mehrheiten sind weder in sozialpolitischen noch in kulturellen Fragen starr. „Es gibt Gruppen, die gefestigte politische Überzeugungen haben. Aber das sind nicht viele, beim Großteil der Bevölkerung ist es nicht so eindeutig“, sagt Ulrike Papouschek, Senior Researcher an der Forschungs- und Beratungsstelle Arbeitswelt und eine der Autor_innen.

Auf Basis dutzender Interviews zeigen die Autor_innen, dass es sehr wohl Spaltungslinien in der Gesellschaft gibt. Diese Spaltungslinien sind aber vielfältig und weniger polar, als es bisherige Thesen in der Debatte darstellen. „Wir haben da mit den unterschiedlichsten Menschen gesprochen, bei Alter, Beruf, Bildungstand, politischer Orientierung oder Erwerbsstatus eine enorme Breite“, sagt Papouschek. Umkämpfte Solidaritäten bietet einen Einblick in verschiedene Typen von Solidaritätsvorstellungen und rekonstruiert diese aus den spezifischen Lebensrealitäten, anschaulich dargestellt mit Zitaten und Fallbeispielen.

„Die machen das aus unterschiedlichen Motiven“

Die Autor_innen beschreiben die Vielfältigkeit am Beispiel jener Menschen, die sich 2015 für geflüchtete Menschen engagiert haben. Die einen taten es, weil sie sich dadurch kämpferisch für eine Veränderung der Gesellschaft einsetzen. Die anderen wiederum, weil sie die moralische Notwendigkeit sehen, etwas für Bedürftige zu tun. Geflüchteten Menschen müsse man eben helfen. „Die wollen eigentlich unterschiedliche Dinge erreichen, aber in ihrem Engagement haben sie sich getroffen. Geht es aber dann um eine generelle Einstellung zu armen Menschen, schauen die Gemeinsamkeiten schon wieder ganz anders aus“, sagt Jörg Flecker, Co-Autor und Professor für Allgemeine Soziologie an der Universität Wien.

Wo die einen es aus einer politischen Solidarität machen, machen es die anderen aus einer paternalistischen Haltung heraus. Auch in den Gruppen, die nicht aktiv in der Unterstützung von geflüchteten Menschen beteiligt waren, gibt es oftmals keine grundsätzliche Ablehnung von Zuwanderung. Aber es werden Bedingungen gestellt. Vor allem sollen sich die Geflüchteten Arbeit suchen. „Wenn sie sich anstrengen“, würden sie es schon schaffen, so der Tenor. Denn viele ihrer Vertreter_innen sehen sich als Leistungsträger_innen, Erwerbsarbeit ist für sie eine moralische Verpflichtung. „Der Leistungsbegriff hat auch seine Schattenseiten, aber darüber sind weite Bereiche zumindest ansprechbar“, sagt Flecker. Denn immerhin würden diese Leute sich sehr wohl auch gegen die Abschiebung von Lehrlingen und das Arbeitsverbot für Geflüchtete im Asylverfahren einsetzen.

„Die Verteilungsfrage, die war für viele Gruppen relevant“

Eine Ambivalenz zeigt sich auch bei den Positionen zu sozialpolitischen Themen. Österreich ist zwar im europäischen Vergleich im Spitzenfeld, wenn es um die Zustimmung zu den positiven sozialen Effekten des Sozialstaats geht. Doch die Zustimmung ist ambivalent, die generelle Einstellung zum Sozialstaat nämlich sehr viel geringer. Denn der Sozialstaat mache die „Menschen ja auch faul“ und „kostet Unternehmen zu viele Abgaben“.

Auch die Autor_innen kommen zu dem Schluss, dass es einen stabilen Rückhalt für den Sozialstaat gibt. „Aber das ist sehr uneindeutig“, sagt Papouschek. „Sozialstaat ist nicht Sozialstaat.“ Die interviewten Personen unterscheiden sich in ihren Vorstellungen, für wen der Sozialstaat überhaupt da sein soll, wie weit sein Handlungsspielraum reichen soll und welche Bedingungen Menschen erfüllen müssen, um Sozialleistungen beziehen zu können. Die grundsätzliche Zustimmung beginnt „beim fördernden und endet beim fordernden Sozialstaat“, sagt Papouschek. Sein exkludierender Endpunkt ist bei jenen, die einen Schutz der „Einheimischen“ fordern, Zuwanderung begrenzt sehen wollen und für eine Limitierung von Sozialleistungen sind. Und auf der anderen Seite des Spektrum dann die, die für einen bedingungslosen Zugang zu sozialstaatlichen Leistungen sind.

Schon verloren oder nicht?

Die Solidaritätskonzepte in Österreich haben viele Schattierungen. Der Wert von Umkämpfte Solidaritäten liegt darin, sie offenzulegen. Die Trennlinien zwischen „uns“ und den „anderen“ verlaufen nicht immer eindeutig, Menschen sind in ihren Vorstellungen ambivalent und widersprüchlich. Ausgrenzende Haltungen verbinden sich mit solidarischen. Die Übergänge sind politisch ansprechbar, denn die Menschen sind hartnäckiger in ihren Ansprüchen an einen sorgenden Sozialstaat. „Es ist ein Irrglaube, dass die Menschen nach jahrzehntelanger neoliberaler Prägung gleichgeschaltet sind“, sagt Flecker. Menschen sind für Klassensolidarität über kulturalisierte Spaltungslinien hinweg offen. Dafür braucht es aber auch ein offenes Bekenntnis zu einem universalen, also alle umfassenden Sozialstaat als Gegenkonzept zu gesellschaftlichen Unsicherheiten.

Veranstaltungshinweis: Die Autor_innen stellen das Buch heute, dem 14. November, in der Skylounge (Oskar-Morgensternplatz 1, 1090 Wien) vor

Autor

 
Nach oben scrollen