Anarchokapitalismus: Was es mit dem Konzept auf sich hat

Javier Milei

mosaik-Redakteurin Sarah Yolanda Koss stolpert seit Jahren über den eigenwilligen Begriff „Anarchokapitalismus”. Spätestens seit sich der neue Präsident Argentiniens, Javier Milei, als Anarchokapitalist bezeichnet, sind Erklärungen ausständig. Was steckt hinter dem Konzept, warum eignet Milei es sich an und was hat Österreich mit dem Ganzen zu tun? Politikwissenschaftler Tobias Boos liefert Antworten im mosaik-Interview.

mosaik: Anarchokapitalismus, das ist ein Begriff, der erst einmal für Irritation sorgt. Wie definierst du den Ansatz?

Die Theorie erklärt sich ganz gut in Abgrenzung zu wirtschaftsliberalen Ideen. Im Wirtschaftsliberalismus sollen möglichst viele gesellschaftliche Bereiche dem Markt überlassen werden. Kernfunktionen, die Sicherheit bieten, wie eine öffentliche Infrastruktur, bleiben aber in der Hand des Staates. Das wird oft mit dem Begriff „Nachtwächterstaat” umschrieben.

Die anarchokapitalistische Position radikalisiert diese Ansichten. Alle gesellschaftlichen Funktionen sollen dem Markt übereignet werden. Die zentrale Aufgabe des Staats besteht nur noch darin, das Privatrecht zu garantieren. Javier Milei polemisiert zum Beispiel die Gehsteige zu privatisieren und erklärt, Organhandel wäre auch nur eine Form des Markts. Der Markt wird zum Organisierungsprinzip der Gesellschaft erhoben.

Das klingt weniger nach anarchistischen Theorien. Wieso steckt der Begriff dann im Namen des Konzepts?

Anarchokapitalismus verbindet zwei Konzepte: Anarchie und Kapitalismus. Das wirft Fragen auf. Hier geht es um Anarchie im vulgärsten Sinne, in Form eines entfesselten Marktes, der die Gesellschaft ordnen soll. 

Die Anarchie des Marktes ist ursprünglich als kritischer Begriff eingeführt worden und wurde dann umgedeutet. Das geht teilweise auf die Österreichische Schule der Nationalökonomie zurück. Sie hat den Begriff positiv besetzt. Die Idee: Der Staat und das, was sie „Kollektivismus“ nennt, sind das schlechteste Organisierungsprinzip. Stattdessen soll der Markt die Gesellschaft ordnen.

Ich höre immer wieder, der Anarchokapitalismus sei durch die Österreichische Schule der Nationalökonomie entstanden. Wie viel haben die Theorie und die Denkrichtung tatsächlich miteinander zu tun?

Die Österreichische Schule der Nationalökonomie kommt Ende des 19. Jahrhunderts auf. Sie bezieht sich auf Carl Menger und andere österreichische Nationalökonomen, die sich vor allem gegen die deutsche Schule der Nationalökonomie wendeten und politisch von Antimarxismus geprägt waren. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts entwickelte sich die Denkschule weiter, es entstanden heterogene Ausrichtungen. 

Wenn heute gesagt wird, Anarchokapitalisten bezögen sich auf die Österreichische Schule der Nationalökonomie, sind damit vor allem Friedrich Hayek und Ludwig Mises und die Entstehung des Neoliberalismus gemeint. Es gibt aktuell viele spannende Arbeiten zur Ideengeschichte, dem politischen Agieren und zu den Netzwerken dieser Denkschule. Darin wird die Allianz mit den anarchokapitalistischen politischen Kräften der USA und Lateinamerikas sichtbar. Hayek- und Mises-Institute gründen Netzwerke und halten Kaderausbildungen ab. Milei selbst schimpft gerne über „den Kollektivismus” und „die Marxisten”, das erinnert wiederum stark an Mises und Hayek.

Inwiefern können wir Anarchokapitalismus von neoliberalen Strömungen abgrenzen?

Anarchokapitalismus ist die Radikalisierung einer Position, die den Markt als gesellschaftliches Orientierungsprinzip sieht. Erhellend ist der Begriff paleolibertär, der den Unterschied zu wirtschaftsliberalen Positionen deutlich macht. Zentral ist hier die Figur von Murray Rothbard, auf den sich Milei bezieht. Der US-amerikanische Ökonom schlug in den 90er Jahren vor, marktradikale Positionen mit konservativen und rechten politischen Ansichten zu vereinen.

Schauen wir uns nicht nur die markt- und wirtschaftspolitischen Perspektiven von Milei an, sondern auch seine gesellschaftlichen Positionen, wird sein Paläolibertarismus deutlich. Die Bewunderung für Donald Trump oder Jair Bolsonaro und die Zusammenarbeit mit der Vox (rechtsextreme Partei in Spanien, Anm. d. Red.) sprechen Bände. Diese Kombination von Wirtschaftstheorie und Politik ist ein Unterschied zu neoliberalen Strömungen. 

Allerdings gibt es eine ideengeschichtliche Auseinandersetzung darum, inwieweit autoritäre Tendenzen über Gesellschaft oder das Individuum bereits in den Grundannahmen der Österreichischen Schule der Nationalökonomie angelegt sind.

Warum eignet sich Milei dieses Konzept nun an? Was verspricht er sich von der Selbstdefinition als Anarchokapitalist”?

Einerseits ist er Teil einer globalen Entwicklung. Libertäre Ideen spielen auch eine Rolle bei Trump und Bolsonaro. Milei setzt einen weiteren Schritt Richtung Radikalisierung.

Andererseits geht es hier um argentinische Innenpolitik. Mileis Partei heißt „Die Freiheit schreitet voran” (La Libertad Avanza, Anm. d. Red.). Er macht einen individuellen Freiheitsbegriff stark, in den der Staat bitte nicht hineinregieren soll. Wahlanalysen zeigen, dass dieser Zugang auf fruchtbaren Boden fällt. Seine Wähler:innenbasis besteht vor allem aus informellen Beschäftigten im Servicesektor, die den Staat als korrupten Steuereintreiber sehen. Gewerkschaften und politische Institutionen sind, in Mileis Worten, Teil dieser Kaste.

Dem gegenüber steht das Versprechen, sich durch harte Arbeit Wohlstand zu verdienen. Dieses Versprechen gibt Milei durch die Anarchie des Marktes: Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied. Was dabei verkannt wird, ist, dass dieser Ansatz meistens zur Freiheit des Stärkeren verkommt.

Interview: Sarah Yolanda Koss
Foto: Ilan Berkenwald

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