Historischer Sieg in Ecuador: Es geht um viel mehr als Benzinpreise

Nach zwölf Tagen Aufstand hat die ecuadorianische Regierung am Abend des 13. Oktober eingelenkt. Sie hat ein Dekret zurückgezogen, das auf Verlangen des Internationalen Währungsfonds die Treibstoffpreise liberalisieren sollte. Angeführt wurden die Proteste in Ecuador von der indigenen Bewegung. Ihr geht es um viel mehr, berichtet Miriam Lang aus Quito.

Die Übereinstimmung der Zahlen ist frappierend: Einen Kredit von vier Milliarden und 200 Millionen Dollar wollte die ecuadorianische Regierung unter Präsident Lenin Moreno vom Internationalen Währungsfonds (IWF). Genau vier Milliarden und 295 Millionen Dollar hat dieselbe Regierung in den letzten Jahren Banken und großen Unternehmen an Steuerzahlungen erlassen.

Um den Kredit zu bekommen, sollte die Regierung Strukturanpassungsmaßnahmen durchführen. Auf Wunsch des IWF sollte sie staatliche Subventionen für Treibstoffe streichen und die Diesel- und Benzinpreise dem Weltmarkt anpassen, aber auch Rechte von ArbeiterInnen einschränken. Es handelt sich um eine eindeutige Umverteilungsmaßnahme von unten nach oben. 554 Millionen Dollar Profit haben die ecuadorianischen Banken allein 2018 gemacht, während die Gehälter von Staatsangestellten mit Gelegenheitsverträgen pauschal um 20 Prozent gekürzt werden sollten. Zehntausende sollten aus dem Staatsapparat entlassen werden, in eine Wirtschaft, die stagniert und kaum Arbeitsplätze zu bieten hat.

Alles wird teurer, nicht nur das Benzin

Eine Erhöhung der Benzin- und vor allem Dieselpreise bedeutet eine unmittelbare Verteuerung der allgemeinen Lebenshaltungskosten. Die Busfahrkarten im öffentlichen Stadtverkehr werden um zehn Cent teurer, aber auch Lebensmittel und Dienstleistungen. Nicht nur, weil die Transportkosten steigen, sondern weil Transportunternehmen und Zwischenhändler obendrein die Gelegenheit nutzen, ihre Gewinnspanne zu erhöhen. Das ist der Hauptgrund für die massiven Proteste in Ecuador, die am 3. Oktober ausgebrochen sind und seither das Land lahmgelegt haben.

Es geht nicht etwa um eine umweltfreundliche Politik, die die Menschen von der privaten PKW-Nutzung auf öffentliche Verkehrsmittel umlenken soll. Das bräuchte Investitionen in einen sauberen öffentlichen Nahverkehr, um eine reale Alternative zu schaffen. Der Effekt ist vielmehr eine weitere Vertiefung der Ungleichheit. Auch die Ökologiebewegung hat sich den Protesten in Ecuador angeschlossen. Eine konsequente Umwelt- und Klimapolitik, so die Organisation Acción Ecológica, würde eine Rücknahme der vielfachen Subventionen und Steuerausnahmen für Erdölfirmen, Bergbau- und Palmölunternehmen erfordern. Die dürfen ihre zerstörerischen Tätigkeiten im Land jedoch immer mehr ausweiten.

Indigene führen die Proteste an

Seit einer Woche brennen in allen Teilen des Landes Barrikaden. Die wichtigsten Verkehrsadern sind blockiert. Zehntausende Menschen sind auf den Straßen und haben mehrere Präfekturen besetzt. Einige Tage lang waren auch drei der wichtigsten Ölfelder im Amazonasgebiet lahmgelegt, was den Staat an seiner empfindlichsten Stelle traf.

TaxifahrerInnen und TransportarbeiterInnen haben die Proteste begonnen. Doch nun führt sie die indigene Bewegung an, mit Unterstützung der Gewerkschaften und Teilen der Mittelschichten. Als die Regierung den Ausnahmezustand verkündete und tausende Militärs und schweres Gerät auf die Straßen brachte, rief auch der Indigene Dachverband CONAIE in seinen Territorien den Ausnahmezustand aus. CONAIE kündigte an, Polizisten und Soldaten festzunehmen, die ohne Erlaubnis indigene Territorien betreten. Dies geschah auch prompt in der Provinz Chimborazo in den Anden, wo knapp 50 Uniformierte für mehrere Tage festgesetzt wurden.

Die größten Demonstrationen von bis zu 40.000 Menschen gibt es in der Hauptstadt Quito. In Lastwagen kommen Indigene, Bauern und Bäuerinnen aus den umliegenden Provinzen. Sie schlagen ihr Lager im zentralen Parque el Arbolito und in Universitäten auf. Die Bevölkerung der Hauptstadt heißt sie mit Decken, warmer Kleidung, Lebensmitteln und Medikamenten willkommen. Großküchen werden spontan eingerichtet.

Die massiven Protestmärsche wurden von heftigen Krawallen begleitet, an denen sich vor allem Studierende und andere junge Männer aus der Stadt beteiligten. Die Indigenen distanzieren sich davon deutlich. Polizei und Armee antworten mit einem Ausmaß an Repression, wie sie das kleine Andenland bisher kaum kannte. Selbst Krankenhäuser und Unis werden angegriffen. Zuletzt bilanzierte der ecuadorianische Ombudsmann landesweit fünf Tote, über achthundert Verletzte und über tausend Festnahmen.

Linke Regierung gegen Gewerkschaften und Indigene

Die Bewegung konnte die Regierung dazu zwingen, das neoliberale IWF-Paket rückgängig zu machen. Doch inzwischen geht es um viel mehr. Zum ersten Mal seit zwölf Jahren erhebt die Bevölkerung Ecuadors wieder den Kopf. Sie zieht mit den Massenmobilisierungen eine rote Linie gegenüber den Mächtigen. „Einmal mehr gibt die indigene Bewegung uns unsere Würde zurück“, bewertet der Intellektuelle Jaime Breilh die Situation.

Im Jahr 2007 hatte die progressive Regierung Ecuadors unter Rafael Correa die Weltbank und den IWF in einem Akt widerständiger Souveränität des Landes verwiesen. Sie erklärte einen Großteil der Auslandsschuld für unrechtmäßig. Gleichzeitig hatte ausgerechnet Correa den Indigenen und Gewerkschaften den Krieg erklärt. Seine Regierung wollte, dass Veränderung nur durch den Staat organisiert wird, nicht durch soziale Bewegungen. Sie kriminalisierte systematisch Proteste, verschärfte das Strafrecht und stufte Straßenblockaden als Terrorismus ein. Der Staat gründete gelbe Gewerkschaften, spaltete soziale Organisationen und baute einen umfassenden Propagandaapparat auf. Schließlich hatte die Exekutive in der Zivilgesellschaft kein nennenswertes Gegenüber mehr.

Kapitalistische Modernisierung statt Transformation

Ab 2013 verfügte Correas politische Strömung im Parlament über eine Zweidrittelmehrheit und konnte durchregieren. Correa münzte die anfangs versprochene Transformation schlicht in kapitalistische Modernisierung um. Er öffnete das Land weiter für das transnationale Kapital. Der Yasuni-Nationalpark, einer der Hotspots der Biodiversität weltweit, wurde für die Ölförderung freigegeben. Erstmals kam es auch zu Verträgen für industriellen Bergbau im großen Stil.

Nachdem ab 2014 die internationalen Ölpreise sanken, kehrte die Regierung Correa auf die internationalen Finanzmärkte und zum IWF zurück. Das trieb die Auslandsschulden in die Höhe, sie liegen heute bei 38 Milliarden Dollar. Schließlich wurde nach Correas Abgang im Jahr 2017 bekannt, dass seine Regierung Korruption in historischen Dimensionen betrieben hatte. Vor allem aber hinterließ sie ein Land ohne nennenswerte soziale Organisierung. Als Correas Nachfolger Lenin Moreno die Oligarchie direkt in die Ministerien holte und die Außenpolitik wieder an die USA anlehnte, gab es kaum jemanden, der ihm die Stirn hätte bieten können.

Es geht nicht um die Rückkehr von Correa

Anders als in einigen Medien behauptet, drücken die aktuellen Proteste keineswegs den Wunsch der Bevölkerung aus, Ex-Präsident Correa an die Regierung zurückzuholen. Seine Partei wurde bei den Regionalwahlen im März 2019 deutlich abgestraft und gewann lediglich zwei von 23 Präfekturen. Correa befindet sich derzeit im belgischen Exil und kann aufgrund mehrerer Strafverfahren nicht nach Ecuador zurückkehren. Doch der Ex-Präsident und ein harter Kern seiner AnhängerInnen versuchten schnell, den Protest für sich zu instrumentalisieren.

Während die Kritik an der Moreno-Regierung zutreffend ist, vertuscht Correa systematisch, dass er selbst den Weg für diese Politik bereitet und ihre ersten Schritte umgesetzt hatte. Beispielsweise durch die Unterzeichnung des Freihandelsabkommens mit der Europäischen Union. Der indigene Dachverband CONAIE distanzierte sich denn auch deutlich von den Vereinnahmungsversuchen. Der Moreno-Regierung liefern sie einen willkommenen Vorwand, um zu behaupten, der Oktober-Aufstand sei lediglich eine von den Correisten aus dem Ausland gesteuerte Verschwörung, und kein Ausdruck echten Unmuts in der Bevölkerung.

Nach Moreno kommt Schlimmeres

Auffällig ist, dass keine der offiziellen Verlautbarungen der CONAIE den Rücktritt von Präsident Moreno fordert, sondern lediglich den seiner Innenministerin und seines Verteidigungsministers. Politischen Analysen zufolge sieht die Moreno-Regierung sich als eine Übergangsregierung, die der expliziten Rechten um den Christdemokraten Jaime Nebot den Weg ebnen soll. Das entspricht auch dem deutlichen Rechtsruck in offiziellen und sozialen Medien. Dort werden die protestierenden Indigenen und ArbeiterInnen vielfach klassistisch und rassistisch diskriminiert.

Ein Rücktritt Morenos könnte den Aufstieg der Rechten zur Folge haben. Der Verbleib dieses relativ schwachen Präsidenten im Amt bietet den zivilgesellschaftlichen Organisationen die Chance, sich wieder stärker in die gesellschaftliche Debatte um die Zukunft des Landes einzumischen.

Es geht um viel mehr

Es geht den Indigenen mehrheitlich um ganz andere Dinge als Wahl- und Parteipolitik. Im Vordergrund steht nicht nur die Rücknahme des IWF-Pakets, sondern auch die Abkehr vom Extraktivismus. Die Ausbeutung von Rohstoffen aus der Erde für den Export dringt immer weiter in die Territorien der Indigenen vor. Das bedroht ihre nackte Existenz, in materieller wie kultureller Hinsicht. Wie die Indigenen aus Chimborazo in einer Erklärung darlegen, verlangen sie Reparation für die seit der Kolonialzeit erlittene Ausplünderung. Und zwar nicht etwa in barer Münze, sondern in Form einer radikal anderen Agrarpolitik.

Diese soll KleinbäuerInnen und kommunitäre Subsistenz-Ökonomie stärken. Im Vordergrund stehen der Zugang zu Bewässerung, nicht patentiertem Saatgut und fruchtbarem Land im Kollektivbesitz. Außerdem fordern sie die systematische Förderung ökologischer Anbaumethoden anstelle von korporativen Saatgut-Kunstdünger-Pestizid-Kits, die die BäuerInnen in die Abhängigkeit des transnationalen Kapitals zwingen.

Eine andere zentrale Forderung der Indigenen ist bereits seit den 90er Jahren die Plurinationalität. Darunter verstehen sie die territoriale Selbstregierung mit eigenem Justiz-, Erziehungs- und Gesundheitssystem, aber vor allem auch eigenen Formen der Versammlungsdemokratie. Das Recht auf eine Lebensweise, die nicht vom globalen Kapitalismus diktiert wird und von der Moderne nur das nimmt, was die Gemeinschaft souverän entscheidet: Das ist es, worum Ecuadors indigene Bewegung im Grunde kämpft.

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