Mangelberufsliste: Müssen wir den Arbeitsmarkt vor Zuwanderung schützen?

Schwarz-Blau will „150.000 Zuwanderer ins Land holen“, warnt die SPÖ. Sie wirft der FPÖ „Arbeiterverrat“ vor, weil diese plant, die Mangelberufsliste auszuweiten. Ist das nun blanker Rassismus?

Oder nur Schutz vor „zusätzlichem Druck am Arbeitsmarkt“, wie SPÖ-Chef Kern meint? Und wie können Gewerkschaften und Linke mit Migration anders umgehen als der rechte Mainstream? Diese Fragen besprach Martin Konecny mit der langjährigen Gewerkschaftsaktivistin und Mosaik-Redakteurin Sandra Stern. 

 

Sandra, viele Diskussionen drehen sich gerade um die sogenannte Mangelberufsliste. Worum geht es dabei eigentlich?

Sandra Stern: Die Mangelberufsliste entscheidet, in welchen Berufen Unternehmen Menschen aus Nicht-EU-Ländern im Rahmen der sogenannten Fachkräfteverordnung für zwei Jahre beschäftigten dürfen.

In welchen Berufen ein Mangel besteht, entscheidet das Sozialministerium. Es geht also um ein kurzfristiges Abdecken eines Arbeitskräftemangels in bestimmten Branchen.

Die SPÖ meint, die Pläne der Regierung bedrohen österreichische ArbeiterInnen. Sinken die Löhne, wenn die Mangelberufsliste ausgeweitet wird?

Warum sollten sie? Löhne sinken dann, wenn Gewerkschaften sich nicht durchsetzen können.

Aber stimmt es nicht, dass Unternehmen versuchen, mittels Migration die Löhne zu drücken?

Natürlich. Gerade im Dienstleistungssektor ist es kaum möglich, die Produktion bzw. Dienstleistung global zu verlagern. In diesem Bereich ist es eine Strategie von Unternehmen, MigrantInnen anzuwerben. Weil sie davon ausgehen, dass MigrantInnen unter schlechteren Bedingungen arbeiten werden.

Das liegt aber nicht daran, dass sie MigrantInnen sind, sondern daran, dass sie oft nicht die gleichen Rechte haben, ihre Qualifikationen nicht anerkannt werden, oder sie gar keinen legalen Arbeitsmarktzugang haben. Und es liegt schließlich auch an Gewerkschaften, die MigrantInnen nicht entschieden genug organisieren.

Soll man die Regierung dafür kritisieren, wenn sie jetzt die Mangelberufsliste ausweitet?

Wir müssen endlich damit anfangen, schlechte Arbeitsbedingungen und Unternehmen zu kritisieren, die davon profitieren. Aber wir können nicht kritisieren, dass Menschen nach Österreich oder Europa kommen, wenn westliche Politik und transnationale Konzerne ihnen ihre Lebensgrundlage vor Ort entziehen.

Wer so argumentiert, hat was am Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit nicht verstanden. Löhne sinken nicht, wenn Menschen hier arbeiten, sondern wenn Unternehmen schlechter zahlen.

Aber warum kritisiert dann der Bundesgeschäftsführer der SPÖ die Regierung dafür, dass sie angeblich 150.000 Menschen ins Land holt?

Im konkreten Fall ist es natürlich auch ein grausliches Kalkül, aber es gibt noch einen tieferliegenden Grund. SozialdemokratInnen, viele GewerkschafterInnen und Linke ganz allgemein haben die Illusion, dass man Migration steuern kann.

Bei den vergangenen Wahlen haben diejenigen gewonnen, die am besten glaubhaft gemacht haben, dass sie wissen, wie das geht.

Die gesellschaftliche Perspektive der heutigen Sozialdemokratie endet häufig an der Grenze in Nickelsdorf oder Spielfeld. Daran hat auch der EU-Beitritt Österreichs nichts Grundlegendes geändert.

Da die SPÖ sich nicht mit dem Kapital anlegen will, ist es einfacher, MigrantInnen zu kritisieren, als die Unternehmen, die Löhne drücken.

Ist Migration wirklich nicht steuerbar?

Bis zu einem gewissen Grad schon. Beispiele sind die Politik Viktor Orbáns in Ungarn. Oder die Toten im Mittelmeer. Natürlich schreckt das Menschen ab, aber es kann die Migration nicht stoppen.

Es wird aber immer so getan, als könnten wir Migration wie mit einem Hebel einfach an- oder abschalten. Doch zeigt sich schon geschichtlich, dass das nicht geht. Migration gibt es, seit es Menschen gibt. Erst im Kapitalismus entwickelte sich der Bedarf nach sesshaften Arbeitskräften. Menschen, die sich frei bewegen können, haben ja schließlich die Möglichkeit, Ausbeutung und Unterdrückung zu entkommen.

Migration wird weiter zunehmen. Durch globale Ungleichheit, durch die Klimakrise und durch moderne Transport- und Kommunikationsmittel. Menschen werden sich bewegen. Darauf brauchen wir pragmatische und vor allem solidarische Antworten.

Heißt das, dass wir den Arbeitsmarkt gar nicht schützen können?

Auch wenn PolitikerInnen so tun: Der Arbeitsmarkt ist nicht geschlossen. Wenn Menschen keinen Arbeitsmarktzugang haben, dann weichen sie auf noch prekärere Alternativen aus, wie etwa Scheinselbstständigkeit oder andere Formen der undokumentierten Arbeit.

Das ist die Realität. Das ist dann tatsächlich ein Faktor, der Arbeitsbedingungen und Löhne unter Druck setzt. Hier helfen nur gleiche Rechte und gemeinsame Organisierung, um sie auch durchsetzen zu können.

Haben ArbeiterInnen denn kein Interesse an nationalen Grenzen?

ArbeiterInnen haben ein Interesse an der Einhaltung von Kollektivverträgen, sozialer Absicherung im Krankheitsfall und bei Jobverlust.

Nationalstaatliche Grenzen nutzen nur dem Kapital. Die Annahme, dass sich das Kapital für offene Grenzen einsetzen würde, ist falsch. Grenzen produzieren soziale, rechtliche und räumliche Spaltungen. Das Kapital braucht diese Unterschiede, um sie zu seinem Vorteil ausnutzen zu können.

Manchmal versuchen bestimmte Kapitalfraktionen, ausgewählte Grenzen zu lockern. Das ist aber etwas Anderes als offene Grenzen. Da geht es genau darum, diese Unterschiede auszunutzen.

Für ArbeiterInnen geht es um Bewegungsfreiheit. Menschen müssen sich frei bewegen können. Alles andere spielt dem Kapital in die Hände. Alles andere macht es möglich, Menschen gegeneinander auszuspielen.

Wie können Gewerkschaften anders mit Migration umgehen?

Österreichische Gewerkschaften haben in den vergangenen Jahrzehnten viel dazugelernt. Gerade durch den europäischen Arbeitsmarkt hat sich etwas an der Einstellung geändert.

Es gibt eine ganze Reihe spannender Projekte, wie etwa Beratungsangebote in Grenzregionen, die Sezonieri Kampagne oder die UNDOK Anlaufstelle. Weltumspannend Arbeiten versucht seit zwanzig Jahren, den Diskurs zu globalen Ungleichheiten in den Gewerkschaften zu beeinflussen. Aber da ist noch viel Luft nach oben.

Internationale Beispiele zeigen, was alles möglich ist. In der Schweiz organisiert die Gewerkschaft Unia sehr offensiv MigrantInnen und gibt ihre Mitgliederzeitschrift in sechs Sprachen heraus.

Auf welche Forderungen sollten die Gewerkschaften setzen, wenn es um Migration geht?

Wir müssen gleiche Rechte in den Mittelpunkt stellen, das verhindert die Spaltung.

Gewerkschaften müssen dafür sorgen, dass alle Beschäftigten ihre Rechte kennen. Das erfordert ein Umdenken. MigrantInnen dürfen nicht als Bedrohung der bestehenden Mitglieder gesehen werden, sondern als Basis der Zukunft.

Wichtig ist nicht, wer in dem Job arbeitet, sondern zu welchen Bedingungen. Darüber müssen wir auch mit langjährigen Gewerkschaftsmitgliedern diskutieren und gegebenenfalls auch streiten. Denn letztlich müssen wir gemeinsam dafür kämpfen.

Wie können wir anders über Migration und Arbeitsmarkt reden, als das derzeit meist der Fall ist?

Zunächst müssen wir anerkennen, dass Migration eine Tatsache ist. Wir müssen mehr über soziale Ungleichheiten reden, und zwar im globalen Kontext.

Wir müssen Ausbeutungsmechanismen benennen und klar machen, was die Unterdrückung der einen mit der Unterdrückung der anderen zu tun hat. Wir müssen Rassismus aufzeigen und zugleich gemeinsame Interessen betonen.

Meinst du, dass die Gewerkschaften in Österreich so einen neuen Ansatz entwickeln können?

Gewerkschaften in Österreich verfolgen eine Doppelstrategie. Einerseits nutzen sie jene Einflusskanäle, die sie in den Institutionen haben. Sie setzen aber auch auf die Gewinnung und Organisierung von neuen Mitgliedern. Angesichts von Schwarz-Blau werden die Einflusskanäle weniger. Das ist eine Chance das Gewicht zu verschieben und stärker auf die eigene Basis zu setzen.

Gewerkschaften sollten beginnen, die Verantwortung für eine ganze Reihe von Fragen zurückzuweisen. Gewerkschaften müssen sich nicht um die Mangelberufsliste kümmern. Sie müssen sich nicht um Beschäftigungswachstum um jeden Preis kümmern.

Warum finden wir als Gewerkschaft eine dritte Landepiste am Flughafen Wien-Schwechat gut, wenn wir wissen, dass sie die Klimakrise verschärft? Warum finden wir es gut, wenn prekäre Jobs geschaffen werden, die keiner machen will? Das sollte nicht unsere Problemstellung sein.

Ob es um gute Arbeitsbedingungen, mehr Respekt von Vorgesetzten oder höhere Löhne geht, Gewerkschaften sollten sich für die konkreten Anliegen von Beschäftigten einsetzen.

Und auch für die Linke insgesamt gilt: Es kann nicht darum gehen ein kaputtes Entwicklungsmodell zu verteidigen. Was bringen „Jobs, Jobs, Jobs“, wenn wir daran kaputt gehen? Wir müssen neue und solidarische Antworten finden, nicht nur in Österreich. Schließlich geht es um ein gutes Leben für Alle.

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