„Fiktion der Nicht-Einreise“ – Wie sich die EU ihre eigene Asyl-Realität schafft

Banner einer Demonstration mit Aufschrift "Freedom of Movement"

Am 10. April 2024 hat das EU-Parlament die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) beschlossen. Sie stellt ein einschneidendes Ereignis in der Europäischen Asylpolitik dar. Hannah Sommer schreibt, was die GEAS-Reform und das rechtliche Instrument der „Fiktion der Nicht-Einreise“ für den Zugang zum Recht auf Asyl bedeutet.

Im September 2020 brennt das Geflüchteten-Lager Moria auf der griechischen Insel Lesbos ab. Kurze Zeit später stellt die EU-Kommission ihren „New Pact on Migration and Asylum“ vor. Sie greift damit die Reform des GEAS wieder auf. Ihr Ziel: Möglichst schnelle Verfahren an den EU-Außengrenzen. Als Vorbote werden 2021 auf den griechischen Inseln „Closed Controlled Access Centres“ errichtet. Menschenrechtsorganisationen erinnern die Komplexe, in denen Geflüchtete nunmehr untergebracht werden, an Hochsicherheitsgefängnisse. 2024 ist die Reform des GEAS endgültig beschlossen und baut den rechtlichen Rahmen für die Abschottungspolitik der EU weiter aus.

„Die Fiktion der Nicht-Einreise“

Zentral ist dabei ein besonderes rechtliches Instrument – die „Fiktion der Nicht-Einreise“. Menschen, die sich bereits auf europäischem Boden befinden, gelten bis zum Abschluss bestimmter Verfahren, als juristisch nicht eingereist. Sie befinden sich in einer Art supranationalen Transitzone, in der sie festgehalten werden. Um die Fiktion aufrechtzuerhalten, müssen die Menschen de facto inhaftiert werden.

Zur Anwendung kommt die „Fiktion der Nicht-Einreise“ zunächst beim sogenannten Screening-Verfahren. An sich nicht neu, wurde es in Kombination mit der „Fiktion der Nicht-Einreise“ unter der GEAS-Reform als verpflichtend beschlossen. Es gilt für alle Personen, die an den Außengrenzen der EU ankommen, ohne die Einreisevoraussetzungen zu erfüllen – etwa Menschen, die aus Seenot gerettet werden und die, die an den Außengrenzen oder in einer Transitzone einen Asylantrag stellen wollen.

Nach offizieller Darstellung dient dieses Screening zur Identifizierung, einer Gesundheits- und Sicherheitsüberprüfung und der Registrierung der Personen samt Fingerabdrücken in der Eurodac-Datenbank. Die Erfassung der biometrischen Daten gilt nun bereits ab einem Alter von sechs Jahren (bisher 14 Jahre). Außerdem erhalten Migrations- und Polizeibehörden erweiterte Zugriffsrechte auf die Datenbank und auch eine Verknüpfung mit anderen Datenbanken ist vorgesehen. Das Screening soll bis zu einer Woche dauern und im Anschluss werden die Menschen in andere Verfahren weitergeleitet.

Bild eines Demonstrationszugs.
Aktivist*innen protestieren am 10.04.2024 in Wien gegen die GEAS-Reform | (c) privat

Grenzverfahren: Schnellverfahren unter haftähnlichen Bedingungen

Eines dieser Verfahren ist das Grenzverfahren. Seine Ausweitung ist eine zentrale Neuerung der GEAS-Reform. Das Grenzverfahren wird in bestimmten Fällen verpflichtend. Es handelt sich dabei um ein Schnellverfahren zur Vorprüfung, ob Personen ein Anrecht auf ein vollumfängliches Asylverfahren haben. Auch das Grenzverfahren findet unter der „Fiktion der Nicht-Einreise“ statt und wird also mit de facto Inhaftierung einhergehen. Es kann bis zu drei Monate dauern.

Verpflichtend werden Grenzverfahren für Menschen, die aus Ländern kommen, für die die EU-weite durchschnittliche Schutzquote bei unter 20% liegt, Personen, denen vorgeworfen wird, Informationen zurückgehalten oder falsche Angaben gemacht zu haben oder die als „Sicherheitsrisiko“ eingestuft werden. Zudem können Mitgliedsstaaten zusätzlich Personengruppen ins Grenzverfahren nehmen, so z.B. Menschen aus bestimmten Ländern, die eine Verbindung in einen „Sicheren Drittstaat“ haben. Auf diese Weise können Asylanträge als unzulässig abgelehnt werden. Das heißt, in diesen Fällen werden die individuellen Fluchtgründe gar nicht erst geprüft. Allgemein wird im Rahmen der Grenzverfahren das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf stark eingeschränkt, indem zum Beispiel die Einreichfristen verkürzt werden.

Mitgliedsstaaten mit mehr Möglichkeiten zur Willkür

Die Möglichkeit, Länder als sicher einzustufen, steigt für die Mitgliedstaaten durch die Ausweitung des Konzepts des „Sicheren Drittstaates“. Bisher musste in einem sogenannten „Sicheren Drittstaat“ die Genfer Flüchtlingskonvention gelten. Durch die GEAS-Reform reicht es, wenn in dem Land lediglich „wirksamer Schutz“ besteht. Das stellt eine Absenkung des Schutzstandards dar. Die Einstufung kann sich außerdem nur noch auf bestimmte Landesteile des vermeintlich „Sicheren Drittstaats“ und/oder bestimmte Personengruppen beziehen. Wenn die EU ein Migrationsabkommen mit einem Staat geschlossen hat, genügt dies zur Sicherheitsvermutung. Dies bedeutet, dass die Möglichkeit, Menschen in einen Drittstaat abzuschieben, ohne ihren Asylantrag inhaltlich zu prüfen, ausgeweitet wird.

Mitgliedsstaaten dürfen außerdem von den bestehenden Regelungen in Situationen von „Krise“, „Höherer Gewalt“ oder „Instrumentalisierung“ abweichen. So können z.B. Fristen für die Registrierung von Asylanträgen verlängert werden. Grenzverfahren können auf bis zu 18 Wochen verlängert und hinsichtlich der Schutzquoten-Regelung ausgeweitet, aber auch reduziert oder ausgesetzt werden. Die genannten Situationen sind dabei so vage definiert, dass Mitgliedstaaten sehr weitreichend davon Gebrauch machen können.

Reform führt zu eingeschränktem Zugang zu Schutz…

Die GEAS-Reform zielt durch verpflichtende Screening- und Grenzverfahren unter der „Fiktion der Nicht-Einreise“ darauf ab, den Zugang zu einem normalen Asylverfahren zu erschweren. Insbesondere die – willkürlich festgelegte – unter 20%-Schutzquoten-Regelung soll legitimieren, warum die betroffenen Personen ein Schnellverfahren erhalten. Es wird argumentiert, dass sie ohnehin keinen Anspruch auf Schutz hätten. Hier arbeitet die EU jedoch mit der nächsten Fiktion – diesmal einer statistischen. Eine niedrige Anerkennungsquote für eine bestimmte Nationalität sei gleichzusetzen mit einer niedrigen Anerkennungswahrscheinlichkeit für ein Individuum.

Die starke Begrenzung von Rechtsmitteln im Screening- und Grenzverfahren macht sie anfällig für Fehlentscheidungen und schränkt den Zugang zu Schutz ein. Zur Verdeutlichung: Gerichte entscheiden über ein Drittel der Klagen gegen negative Asylbescheide letztlich positiv und die Verfahren enden mit der Zuerkennung eines Schutzstatus‘.

Bild eines Demonstrationszugs.
Die Demonstration am Weg zum Haus der EU, Wien | (c) privat

… und rechter Normalisierung

Die GEAS-Reform bietet den rechtlichen Rahmen für viele Praktiken, die schon seit Langem zu beobachten sind. Ein Beispiel: die Krisenverordnung ermöglicht es, Asylanträge im Ersteinreiseland erst später zu registrieren. Dies geht erfahrungsgemäß mit einem erhöhten Risiko von gewaltvollen Pushbacks (illegalen Zurückschiebungen über die Grenze) einher. Für das Jahr 2023 wurden mehr als 300.000 illegale Pushbacks an den EU-Außengrenzen gezählt. Aber auch die Grenzverfahren unter der Fiktion der Nicht-Einreise spielen hierbei eine Rolle. In „Pilotprojekten“ in Bulgarien werden Grenzverfahren im Sinne der GEAS-Reform bereits umgesetzt. Die offizielle Seite spricht davon, „unerlaubte Einreisen verhindert zu haben“. Die Zivilgesellschaft weist hingegen darauf hin, dass Menschen keinen Asylantrag stellen konnten und von gewaltsamen Pushbacks betroffen sind. Mit dem nun beschlossenen GEAS werden sich diese Entwicklungen verstetigen.

Wie die komplette Umsetzung der Reform, die auch als „Bürokratiemonster“ bezeichnet wird, tatsächlich ablaufen wird, wird sich in Zukunft zeigen. Befürworter*innen rechtfertigten die Reform oft mit dem „Versprechen“, Migration zu begrenzen. Angesichts der Krisen weltweit und einer imperialen westlichen Lebensweise ist jedoch nicht abzusehen, dass weniger Menschen flüchten werden. Sie betonten außerdem immer wieder, die GEAS-Reform könne den politischen Rechtsruck einhegen. Die Reform ist allerdings keine Einhegung rechter Politik, sondern in weiten Teilen die Übernahme ihrer Narrative und Positionen. Sie trägt damit zu ihrer Legitimierung und Normalisierung bei.

Es ist also abzusehen, dass das durch die GEAS-Reform beschlossene europäische Asylsystem sein repressives „Versprechen“ nicht hält. Das lässt befürchten, dass die Reform mit ihrer Politik der Abschottung und Entrechtung nur zu einer weiteren Stärkung von autoritären und faschistischen Kräften in Europa führen wird.

Titelbild: The Left/Quentin Bruno

Autor

  • Hannah Sommer

    Hannah Sommer war 2016/17 auf der griechischen Insel Chios und in Nordgriechenland und promoviert derzeit an der Universität Wien zu territorialen Konstruktionen in der aktuellen europäischen Grenzpolitik.

 
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