Die EU setzt in ihrer Migrationspolitik zunehmend auf Rückkehrabkommen und das undurchsichtige „ICMPD“. Bosnien und Herzegowina dient dabei als Testlabor, schreiben Jerko Bakhtin und Nidžara Ahmetašević.
Mitte März dieses Jahres gelang es einer Gruppe von 24 Personen, im Laufe der Nacht in der Nähe von Sanski Most den Fluss Save zu überqueren und so von Bosnien und Herzegowina nach Kroatien zu gelangen. Die Menschen gingen entlang der Bahngleise in Richtung Zagreb. Um fünf Uhr morgens wurden sie von einem Fahrzeug angehalten. Darin saßen zwei Personen in Zivilkleidung, die sich als Polizisten vorstellten und anschließend uniformierte Polizisten als Verstärkung holten. Teil der Gruppe war der Iraner N. (45 Jahre alt), mit seinen zwei Söhnen, einer von ihnen minderjährig.
Die ganze Gruppe wurde in den Keller eines verlassenen Gebäudes gebracht, in dem bloß einige Kartonschachteln standen. Es gab kein WC, man erlaubte ihnen nicht, das Gebäude zu verlassen. In den sechs Tagen, die die Familie in dem Gebäude zubringen musste, war die Versorgung mit Nahrungsmitteln sehr dürftig. N. erzählte später, dass er im Laufe seines Aufenthalts in Kroatien mehrfach vergeblich versucht habe, Asyl zu beantragen und medizinische Hilfe zu bekommen.
Nach mehreren Tagen erhielt die gesamte Gruppe Abschiebebescheide. Diese untersagten ihnen auch, in den folgenden 18 Monaten den Boden der EU zu betreten. Einige von ihnen mussten ihre Unterbringung und den anschließenden Transport selbst bezahlen. Anschließend wurde die Gruppe mit dem Bus an die Grenze zu Bosnien und Herzegowina gebracht. Dort teilten die Internationale Organisation für Migration (IOM) und die lokalen Behörden sie auf Flüchtlingslager auf. Im Bericht von Human Rights Watch vom Mai dieses Jahres wird der immer häufiger stattfindende kollektive Transport von Menschen von Kroatien nach Bosnien und Herzegowina als „Massenvertreibung“ bezeichnet.
Rücknahmeabkommen als neues Element
Rücknahmeabkommen ermöglichen es den EU-Mitgliedstaaten, Menschen nach Bosnien und Herzegowina oder in andere Balkan-Länder abzuschieben. Nicht nur deren Staatsbürger*innen, sondern auch Personen aus Drittländern, die in diesen Ländern registriert wurden. Als sich im Jahr 2017 die Balkan-Fluchtroute in Richtung Bosnien und Herzegowina verschob, beschloss die EU, den dortigen Behörden das „Migrationsmanagement“ nicht mehr zu überlassen. Seitdem kommt die Hauptrolle in diesem Bereich dem Büro des EU-Sonderbeauftragten in Bosnien und Herzegowina (EUSR) und IOM zu. Sie errichten und verwalten Flüchtlingslager und bauen das Meldesystem und den Datenaustausch weiter aus. Die EU und ihre Partner bilden außerdem einheimisches Personal für Abschiebungen aus und finanzieren den gesamten Prozess.
Die Rücknahmeabkommen wurden bislang noch nicht oft umgesetzt. Aber sie werden zunehmend zu einem entscheidenden Element des „Migrationsmanagements“ als Teil des Pakts für Migration und Asyl, über den die EU-Mitgliedstaaten ein vorläufiges Einverständnis erzielt haben. Kroatien wendet wohl auch deshalb seit kurzem das Rücknahmeabkommen massenhaft an, um nach dem Eintritt Kroatiens in den Schengenraum illegale Pushbacks zu verschleiern. Denn diese lassen sich leichter beweisen als Rücknahmen, bei denen die Angabe der Geflüchteten, sie hätten um Asyl angesucht, gegen das Wort der Polizist*innen steht.
Protektorat Bosnien und Herzegowina als Testgelände
Als Protektorat stellt Bosnien und Herzegowina ein Testgelände für neue politische Strategien des Westens dar. Daher wurden hier bereits im letzten Jahr Pilotprojekte für Abschiebungen nach Pakistan, Bangladesch und Marokko initiiert (Der Krieg in Bosnien und Herzegowina wurde durch das Dayton Abkommen von 1995 beendet, das heute noch in Kraft ist. Bosnien und Herzegowina hat keine Verfassung; die Verfassung ist Teil des Dayton Abkommens. Der oberste Machthaber im Land ist der Hohe Repräsentant der Vereinten Nationen, Anm. der Red.). Im Jahresbericht des Ministeriums für Sicherheitsangelegenheiten von Bosnien und Herzegowina ist zu lesen: „Die Rückkehr der Migrant*innen in ihre Herkunftsländer zählte zu den Aktivitäten mit der höchsten Priorität“. Bosnien und Herzegowina habe diesbezüglich eine führende Rolle in der Region eingenommen.
Nach Rückführungen nach Bosnien und Herzegowina werden die Menschen in offenen Lagern mit sehr dürftigen Lebensbedingungen untergebracht. Manche von ihnen werden ins Immigrationszentrum in Lukavica in der Nähe von Sarajevo gebracht, wo sie bis zu drei Monate festgehalten werden. Anschließend werden sie abgeschoben oder über das Rücknahmeabkommen nach Serbien oder Montenegro gebracht. Gleichzeitig wird ihnen verboten, in den folgenden fünf Jahren das Territorium von Bosnien und Herzegowina zu betreten.
Bedingungen für Rücknahmeabkommen
Die offizielle Bedingung für ein Rücknahmeabkommen ist, dass es in dem Land, in welches eine Person rückgeführt wird, einen funktionierenden Rechtsstaat und ein Asylsystem gibt. Das ist in Bosnien und Herzegowina nicht der Fall. Denn dieses Land verstößt notorisch gegen bestehende Gesetze, was jedes Jahr in EU-Berichten festgehalten wird. Laut UNHCR beträgt die Wartezeit für einen Asylantrag 49 Tage, auf das erste Interview muss man im Schnitt 231 Tage warten und für die erste Entscheidung werden im Schnitt 247 Tage benötigt. Von den 110 000 Personen, die zwischen 2018 und Ende 2022 registriert wurden, stellten 2907 einen Asylantrag. Von ihnen erhielten lediglich 165 einen Asylbescheid.
Bereits seit 2015 wird die Balkanregion als eine Art Plattform für Abschiebungen aus Europa entwickelt. Damals fand im Rahmen der „Migration, Asylum, Refugees Regional Initiative“ (MARRI), einem Koordinationsorgan von Innenministerien, ein Treffen der EU, der Schweiz und weiteren Organisationen statt. Zu diesen zählte das IOM, das International Centre for Migration Policy Development (ICMPD), die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und das Büro des Hohen Repräsentanten in Bosnien und Herzegowina. Weiters nahmen Vertreter*innen von Pakistan, Ägypten, Marokko, Iran, Palästina, Libyen und der Türkei an dem Treffen teil. Das gleiche Thema wurde im Oktober 2022 in Wien behandelt. Danach gab das Sicherheitsministerium von Bosnien und Herzegowina bekannt, dass das ICMPD in Zukunft bei Abschiebungen aus Bosnien und Herzegowina unterstützen würde.
Die Rolle des ICMPD
Das in Wien ansässige ICMPD spielt insgesamt bei der Auslagerung des Grenzregimes der EU eine wichtige Rolle, wie eine Veröffentlichung mit geleakten Dokumenten des deutschen Portals “FragDenStaat” gemeinsam mit dem ZDF und Der Standard zeigt. Diese wenig bekannte intergouvernementale Organisation wurde 1993 von Österreich und der Schweiz gegründet, um „einen Meinungsaustausch über Migrationspolitik“ zu ermöglichen. Damals lag der Fokus auf Geflüchteten aus Jugoslawien. Heute umfasst das ICMPD zwanzig Länder, von den Niederlanden und Deutschland über die Staaten des Balkans bis hin zur Türkei. Es übt im Hintergrund großen Einfluss auf die Migrationspolitik der EU aus. Der Direktor des ICMPD ist seit 2016 Michael Spindelegger, früherer Vizekanzler und früherer Sekretär der ÖVP, sowie der politische Ziehvater des ehemaligen österreichischen Bundeskanzlers Sebastian Kurz.
Das ICMPD zahlt keine Steuern, ist vor Gerichten schwer klagbar und kann nicht seitens eines Parlaments befragt werden. FragDenStaat unterstreicht, dass die Mitgliedstaaten der EU die Intransparenz des ICMPD wie auch anderer intergouvernementaler Organisationen ausnützen, um unter Ausschluss der Öffentlichkeit Migrationspolitiken zu formulieren.
Das ICMPD unterstützt auch unmittelbar die Grenzorgane von Libyen, Marokko und Tunesien, denen schwere Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden. „Die Europäische Kommission kann Infrastruktur nicht einfach an die marokkanische Regierung übergeben, sondern braucht dazu jemanden wie das ICMPD“, erzählte ein ehemaliger Mitarbeiter der Organisation dem amerikanischen Portal Coda Story. Hätte die Europäische Kommission nämlich keine Zwischenorganisationen wie das ICMPD, dann müsste sie für ihre Aktionen das Einverständnis des Europäischen Parlaments einholen.
ICMPD in Bosnien und Herzegowina
Die Organisation spielte eine wichtige Rolle bei der Organisation des Sicherheitsministeriums von Bosnien und Herzegowina. Dieses wurde 2002 durch einen Beschluss des Hohen Repräsentanten Paddy Ashdown begründet. Das Ministerium ist für Asylangelegenheiten und das Aufenthaltsrecht für Fremde zuständig, und die Grenzpolizei ist ihm untergeordnet.
Seit Ende 2021 ist das ICMPD in das „Migrationsmanagement“ in Bosnien und Herzegowina involviert. Die von FragDenStaat veröffentlichten Dokumente berichten von einem Telefonat zwischen Spindelegger und dem damaligen Sicherheitsminister Selmo Cikotić. Spindelegger kritisierte, dass Bosnien und Herzegowina zu viel Geld für humanitäre Aktivitäten ausgebe, statt diese Mittel für das „Migrationsmanagement“ aufzuwenden. Er betonte darüber hinaus die Notwendigkeit, ein Anhaltezentrum im Rahmen des Lagers Lipa, in der Nähe der Stadt Bihać, zu errichten.
Dafür müssen bestehende Gesetze angepasst werden; diese Veränderungen werden vom ICMPD begleitet. Auf Nachfragen von Novosti antwortete der Mediensprecher des ICMPD Bernhard Schragl, dass die Organisation „in Arbeiten im Camp Lipa involviert war, und zwar auf Wunsch der EU und des Sicherheitsministeriums von Bosnien und Herzegowina“.
Bautätigkeiten in Lipa
Die Pläne für das Anhaltezentrum Lipa wurden detailliert in Dokumenten des ICMPD ausgearbeitet – das geht aus den Unterlagen des Portals FragDenStaat und CodaStory hervor. Das ICMPD streitet jedoch sämtliche Vorwürfe ab und geht auch gerichtlich dagegen vor. Tatsache ist jedoch, dass eine Bautätigkeit hinter den Zäunen des Camps Lipa stattgefunden hat. Und das, ohne gesetzliche Grundlage und ohne, dass die Öffentlichkeit informiert worden wäre. Ende Mai besuchte der bosnische Minister für Menschenrechtsangelegenheiten und Flüchtlinge Svlid Hurtić Österreich. Er berichtete danach, dass die grüne Parlamentarierin Ewa Ernst-Dziedzic ihm bei dieser Gelegenheit gesagt habe, „die Erlaubnis für ein Anhaltezentrum innerhalb des Flüchtlingscamps gehe auf eine Art Erpressung“ von Bosnien und Herzegowina seitens Österreichs zurück.
Weiterhin nutzen Menschen auf der Flucht die Balkanroute. Ein Teil von ihnen findet einen Weg, sämtliche Mauern und Grenzen zu überwinden, ein anderer Teil versucht, am Balkan einen Platz für sich zu finden. N. etwa hat versucht, Asyl in Bosnien und Herzegowina zu bekommen. „Ich bin bloß auf der Suche nach einem Platz, wo ich und meine Kinder sicher sein können. Ich möchte wie ein Mensch leben und will nur ein normales Leben. Mehr brauche ich nicht“, sagt N.. Er ist sich bewusst, dass er kaum eine andere Option hat als in Bosnien und Herzegowina zu bleiben. Von hier aus gibt es immerhin bisher keine Abschiebungen in den Irak.
Dieser Text ist die gekürzte Übersetzung eines Artikels, der im Juli im Portal Novosti veröffentlicht wurde.
Autor:innen: Jerko Bakotin, Nidžara Ahmetašević
Übersetzung: Marija Dabić
Foto: Milan Suvajac, via Wikimedia Commons
Weiterführende Veranstaltung: Webinar „ICMPD and IOM: Securitisation and Externalisation of the EU Border Regime”. Am Mittwoch, dem 11.10. 2023, um 18:00 Uhr.
Push-Back Alarm Austria sammelt gerade Spenden für eine Maßnahmenbeschwerde gegen den Pushback eines minderjährigen Afghanen von Österreich nach Ungarn. Die ungarische Polizei brachte ihn weiter nach Serbien. Weder Österreich noch Ungarn nahmen seinen Asylantrag an.
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