Rebellischer, solidarischer, radikaler: Wie sich die Klimabewegung 2020 entwickeln wird

Seit Mitte September erlebt die Welt eine der größten politischen Mobilisierungen aller Zeiten. Die Klimabewegung geht so zahlreich wie nie zuvor auf die Straßen. Doch um wirklich den nötigen Systemwandel einzuleiten braucht es noch viel Ausdauer und Mut zu Radikalität, schreibt Manuel Grebenjak.

Seit dem 20. September gehen Millionen vor allem junge Menschen für ihre Zukunft auf die Straßen. Nach den Demonstrationen von Fridays for Future (FFF) und anderen Gruppen läuft seit Montag die zweite internationale Rebellion von Extinction Rebellion (XR) mit Blockaden von zentralen Kreuzungen und Brücken in rund 60 Städten. Proteste wie Besetzungen des Regierungsviertels in London, die Blockade einer Brücke und ein Protestcamp vor dem Umweltministerium in Madrid und die Blockaden von Verkehrsknotenpunkten in Berlin und etwas kleiner in Wien sorgen für große mediale Aufmerksamkeit.

Doch sie sind weder die einzigen Aktionen, die in den vergangenen Wochen stattfanden, noch werden sie lange die größten bleiben. Denn dieses Jahr dient für die Klimabewegung vor allem der Vorbereitung, der richtige Aufstand soll im kommenden Jahr folgen. In der Plattform By 2020 We Rise Up koordinieren sich Klimagerechtigkeits-Gruppen aus ganz Europa, um 2020 mit den Mitteln des zivilen Ungehorsams eine echte klimapolitische Wende einzuleiten.

Gretas Legitimität

Greta Thunberg hat nicht allein eine Bewegung gestartet, auch wenn sie aktuell das mit Abstand bekannteste Gesicht und die stärkste Stimme ist, die sich für die Rettung unserer Zukunft einsetzt. Mit ihren klaren Worten und vergleichsweise radikalen Forderungen baut sie auf jahrelangen Kämpfen von Betroffenen in Frontline Communities und Menschen aus der Klimagerechtigkeitsbewegung sowie auf Arbeit von engagierten Organisationen und Wissenschaftler*innen auf. Durch ihre Jugend und die klaren Worte entwickelte ihr Diskurs und die dadurch angestoßenen Mobilisierungen der Fridays for Future eine Legitimität, die zuvor kein Teil der Klimabewegung erreichen konnte. Es sind nun vor allem junge Menschen, die um ihre eigene Zukunft kämpfen.

Aufgrund dieser Legitimität und der Dynamik von Fridays for Future wurde Thunberg zu vielen politischen und wirtschaftlichen Gipfeln von Davos bis New York eingeladen. Die Mächtigen können kaum anders als ihr etwas Redezeit zu geben, bevor sie ihr Business as usual fortsetzen. Das führt zur paradoxen Situation, dass jene Greta Thunbergs Reden beklatschen, die sie direkt und erbarmungslos anklagt – als die Schuldigen an der ökologischen Krise und dem möglichen Untergang der menschliche Zivilisation wie wir sie kennen.

Bewegung mit vielen Gesichtern

Gleichzeitig mit Fridays for Future wachsen andere Teile der Klimabewegung. In den USA setzen sich Gruppen wie das Sunrise Movement und Politiker*innen wie Alexandria Ocasio-Cortez und Bernie Sanders für einen Green New Deal ein. Mittlerweile wird er auch in Europa diskutiert. Von Großbritannien ausgehend rebellieren immer mehr Menschen unter dem Banner von Extinction Rebellion gegen ihr eigenes Aussterben. Und auch die radikale Klimagerechtigkeitsbewegung rund um Gruppen wie „System Change, not Climate Change!“ und Bündnisse wie Ende Gelände wächst und schöpft Hoffnung aus der europaweiten Vernetzung unter „By 2020 We Rise Up“.

Extinction Rebellion wird vom Mainstream als radikaler Teil der Klimabewegung wahrgenommen, erntet aber gerade von schon länger bestehenden Klimagerechtigkeits- und anderen linken Gruppen Kritik. Von einer kleinen Gruppe erfahrener Aktivist*innen in England zentral aufgebaut, ist sie seit den ersten Aktionen Ende 2018 extrem schnell gewachsen. Neben den drei Kernforderungen an die Politik „Sagt die Wahrheit (über die Klimakrise)“, Klimaneutralität bis 2025 und die Einsetzung von Bürger*innenräten zeichnet sich Extinction Rebellion unter anderem dadurch aus, dass es sich selbst als „apolitisch“ sieht, also weder links noch rechts, und eine klare Strategie hat. Laut dieser sei es ausreichend, 3,5 Prozent der Bevölkerung zu friedlichem zivilem Ungehorsam zu bewegen, um einen Systemwandel zu erreichen. Linke Teile der Klimabewegung kritisieren neben der apolitischen Einstellung und sektenhaften Tendenzen ein teilweise unsolidarisches Verhalten und eine manchmal ins Kuriose abgleitende Höflichkeit gegenüber der Polizei.

Es gibt keine Energiewende

Seit Jahrzehnten wissen wir um die möglichen Folgen der Klimakrise. Seit 1995 treffen sich die Staaten der Welt jährlich, um über Maßnahmen dagegen zu beraten. Es hat sich nichts geändert, im Gegenteil: Die Hälfte aller (!) CO2-Emissionen durch Verbrennung fossiler Brennstoffe wurde seit 1990 ausgestoßen. Daran hat auch das viel beschworene Paris-Abkommen noch nichts geändert, das im kommenden Jahr in Kraft tritt. Im Jahr 2018 wurden so viele klimaschädliche Gase wie noch nie in die Luft geblasen, mehr Kohle, Öl und Gas verbrannt als je zuvor. Es gibt keine Energiewende. Erneuerbare Energien decken bisher kaum den Zuwachs des weltweiten Energiehungers.

Bisher konnten keine Mobilisierungen annähernd etwas an dieser Entwicklung ändern. Jahrelanges NGO-Lobbying, Millionen von Petitionsunterschriften, tausende Demonstrationen und direkte Aktionen verhallten meist kaum gehört im weiten Raum, der sich angesichts der Größe der Aufgabe vor uns auftut. In Deutschland gipfelte die Ignoranz der politischen Institutionen im desaströsen Klimapaket, das genau an jenem Tag veröffentlicht wurde, als bundesweit 1,4 Millionen Menschen für Klimagerechtigkeit auf die Straße gingen.

Ein antikapitalistisches Schreckgespenst

Auch wenn es uns vor allem Liberale gern weismachen möchten: Wir können uns nicht aus dieser Krise heraus forschen. Wir haben alle Mittel, um die Klimakatastrophe abzuwenden, müssen sie nur endlich anwenden. Wir müssen einen kulturellen und politischen Wandel einleiten und unsere Wirtschaft in bisher beispielloser Geschwindigkeit umbauen.

Das haben Fridays for Future erkannt, auch wenn sie es teilweise anders ansprechen, als es die Klimagerechtigkeitsbewegung seit vielen Jahren tut. Doch die Stimmen gegen Wachstumswahn und Konkurrenzlogik werden innerhalb der Jugendbewegung immer mehr und stärker. Auch Thunberg hat ihren Diskurs in diese Richtung verstärkt. Das hat dazu geführt, dass einige Politiker*innen nun weniger klatschen als anfangs. Nachdem Thunberg beim New Yorker UN-Klimagipfel die „Träume von ewigem Wirtschaftswachstum“ kritisierte, distanzierten sich Angela Merkel und Emmanuel Macron von ihr. Die liberale Seite übt Druck auf die jungen Klimastreikenden aus. Sie sollen doch gern weiter demonstrieren, aber antikapitalistische Aussagen lassen. Diese würden der Bewegung schaden. Radikale antikapitalistische Gruppen würden Fridays for Future unterwandern, um ihre Ziele voranzutreiben.

Dieses Unterwandern existiert – und nennt sich Solidarität. Langjährige Aktivist*nnen marschieren und streiken auf riesigen Demonstrationen weltweit mit und neben neuen Mitstreiter*innen der Fridays. Sie helfen bei der Organisation und tauschen sich natürlich auch inhaltlich aus. Der gemeinsame Nenner ist, dass wir uns vom aktuellen System verabschieden müssen. Besser jetzt und mit einer geordneten Transformation als in einigen Jahren durch einen Kollaps. Denn ein solcher steht bevor, wenn wir weitermachen wie bisher. Die Wahrscheinlichkeit, das 1,5-Grad-Limit der Erderhitzung einzuhalten, liegt derzeit bei nur einem Prozent.

By 2020 We Rise Up

Während Fridays for Future und Extinction Rebellion für eine nie dagewesene mediale und gesellschaftliche Präsenz des Klimathemas gesorgt haben, entwickelt sich unter der Oberfläche mit „By 2020 We Rise Up“ eine neue Dynamik. Im Zusammenspiel mit XR und FFF könnte das letztendlich für das entscheidende Kippen der Kräfteverhältnisse sorgen – vorerst zumindest in Europa. Große Aktionen zivilen Ungehorsams, wie sie es vor zwei Jahren nur drei- bis viermal in Europa gab, mehren sich. Neben dem Fixpunkt Ende Gelände werden Kreuzfahrtschiffe und Automessen blockiert. AktivistInnen besetzen rote Teppiche und versuchen mehr oder weniger erfolgreich, Flughäfen und fossile Infrastruktur lahmzulegen.

Geht es nach den unterstützenden Gruppen hinter „By2020“, waren die Aktionen in diesem Herbst nur der Beginn. Anfang des Jahres wollen sie in einer zweiten Welle großer gewaltfreier Aktionen aufzeigen, wer die Klimakrise finanziert und anheizt. Im Frühjahr darauf sollen große Schlagadern der europäischen Wirtschaft blockiert werden. Wenn es sein muss, sollen Welle um Welle folgen, bis zu einer echten Wende in Politik und Gesellschaft mit schnellen Schritten in Richtung Klimagerechtigkeit. Die leidvolle Erfahrung jahrzehntelanger Kämpfe, fehlgeschlagener Gipfel und gebrochener Versprechungen macht die Bewegung sicher: Wir müssen das System – zumindest punktuell – zum Stillstand bringen, um die nötigen Änderungen anzustoßen.

Kampf um jede*n Einzelne*n

Nicht jeder Schritt, jede Botschaft, jede Forderung der Klimabewegung muss sich gegen den Kapitalismus richten. Wenn langsam gewinnen heißt, zu verlieren, wie es Bill McKibben ausdrückt, brauchen wir auch schnelle Maßnahmen innerhalb des Systems. Schon diese sind schwer genug umzusetzen. Doch auch wenn alleine unzureichende Zwischenschritte wie eine CO2-Steuer gefordert werden, die große Perspektive muss dieselbe bleiben: die überwältigende Dominanz des Systems zu überwinden, das unsere Welt verschlingt.

In den nächsten Jahren entscheidet sich, ob ein gutes Leben für alle möglich wird oder für Profite weiterhin rücksichtslos die Lebensgrundlagen und Zukunft hunderter Millionen oder gar Milliarden Menschen zerstört werden. Es lohnt sich für jede*n Einzelne*n davon zu kämpfen.

Manuel Grebenjak hat Politische Ökologie an der Autonomen Universität Barcelona studiert. Er ist in der Klimagerechtigkeitsbewegung aktiv und arbeitet in verschiedenen Organisationen an Themen wie Klima- und Umweltpolitik, nachhaltiger Mobilität und Degrowth.

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