Von wegen NGO-Wahnsinn: Das erleben Seenotretter*innen am Mittelmeer

Sie fuhren als Ehrenamtliche raus aufs Mittelmeer. Zwei Wochen lang patrouillierten sie vor der libyschen Küste und retteten hunderte Menschen vor dem Ertrinken. Das hat Spuren hinterlassen. Fünf Seenotretter*innen erzählten Theresa Leisgang, was sie an Europas Grenzen erlebt haben. Moritz Richter fotografierte die Freiwilligen vor und nach ihrem Einsatz an der tödlichsten Grenze der Welt.

Raoul Kopacka steht am liebsten hinter der Kamera. Der Filmemacher begleitete vergangenes Jahr die Mission 5 der deutschen Hilfsorganisation Sea-Watch. Am Hafen von Malta blickt er selbst in die Linse: Das Bild vor der Abfahrt zeigt den Wiener pausbäckig, zu allem entschlossen, eine leichte Brise fährt ihm durch die Haare. Zwei Wochen später, wieder ein Foto: Die Erschöpfung steht ihm ins Gesicht geschrieben, er kann kaum die Augen offenhalten. In Gedanken ist er noch draußen auf dem Meer, wo er mit der Crew hunderte Menschenleben rettete und Zeuge eines Völkerrechtsverstoßes wurde.

Am 10. Mai 2017 brachte die sogenannte „Libysche Küstenwache“ ein Holzboot auf und verschleppte alle Insassen zurück nach Libyen. Seither häufen sich diese Vorfälle. 30.000 Menschen sollen vergangenen Sommer zurück nach Libyen gebracht worden sein, oft aus internationalen Gewässern. Das verstößt gegen internationales Recht. Doch die EU hält fest an der Finanzierung der „Libyschen Küstenwache“, die aus Milizionären besteht. Und das, obwohl aus einem geleakten EU-Bericht hervorgeht, wie schlecht die Zusammenarbeit mit den Küstenwächtern funktioniert.

Eine Solidaritätskrise

Immer wieder ist die Rede davon, Fluchtrouten „dicht zu machen“, ob auf dem Balkan oder an den Seegrenzen. Man müsse den „NGO-Wahnsinn“ im Mittelmeer stoppen, sagte Bundeskanzler Sebastian Kurz vor einem Jahr, als die Todeszahlen so hoch waren wie nie. Menschen an der Einreise zu hindern, ist eine Sache. Hilfe zu kriminalisieren, eine andere. Wo weniger Hilfsorganisationen sind, können auch keine Menschenrechtsverletzungen dokumentiert werden. Europa erlebt derzeit keine „Flüchtlingskrise“, sondern eine Solidaritätskrise.

Deshalb gibt es den Seenotretter*innen Hoffnung, dass auch Flüchtende ihre Rechte einfordern. Anfang Mai haben Überlebende beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eine Klage eingereicht. Durch die Kooperation mit der Küstenwache habe Italien im November ein Schiffsunglück mit über 20 Toten provoziert. Für die Ehrenamtlichen ist klar: Nur ein Umdenken in der Politik kann solche Tragödien verhindern.

Leben retten verändert Leben

Seit 2015 patrouilliert die Berliner Organisation Sea-Watch im Mittelmeer. An keiner anderen Grenze der Welt gibt es so viele Tote wie hier. 35.000 Menschen hat Sea-Watch nach eigenen Angaben schon geholfen.

Die Crew ist bunt zusammengewürfelt: Ärztinnen, Sanitäter, Maschinistinnen, Übersetzer, die Kapitänin – an Bord werden sie zu einem Team. Eine Mission dauert zehn bis 20 Tage. Wir haben ein Jahr nach ihrem Einsatz noch einmal mit der Crew gesprochen. Vielen kommt es vor, als seien sie erst gestern zurückgekommen. Alle hat die Zeit auf See tiefgreifend verändert.

 

Der Kölner Krankenpfleger Merlin Kötz war schon vor seiner ersten Mission stolzer Besitzer der ganzen Seenotretter-Kollektion: T-Shirts mit „Fähren statt Frontex“-Aufdrucken oder einer Zeichnung der Sea-Watch 1, die als erstes privates Schiff aus Deutschland in See stach, um Menschen zu retten. Was Seenotrettung wirklich bedeutet, hat er erst begriffen, als er selbst im Einsatz war:

„Diese Zeit auf dem Mittelmeer ist nicht spurlos an mir vorbeigegangen. Seit ich zurück bin, habe ich irgendwie ein anderes Verhältnis zur Welt. Der Augenblick, als mein Weltbild einen Knacks bekommen hat, war, als ich auf dem Ausguck saß. Den ganzen Tag war ich oben auf dem Deck und habe ins Nichts geguckt, und plötzlich war da ein Punkt am Horizont, aus dem ein kleines Boot wurde, und in der Menge der Passagiere konnte ich irgendwann Gesichter erkennen, verzweifelte Gesichter. Ein paar Stunden später waren die Leute bei uns an Bord, haben erzählt woher sie kommen: Iran, Bangladesch, Nigeria, Somalia, Libyen. Ich habe erst da kapiert: Das passiert nicht nur in den Nachrichten – sondern wirklich, jeden Tag.

Das Thema hat mich seitdem nicht mehr losgelassen. Als ich wieder zurück in Köln war, kam mir die Arbeit auf der Krankenstation und alles was ich sonst gemacht habe irgendwie sinnlos vor. Also habe ich gefragt, was ich an Land tun könnte, und es gab jede Menge Arbeit. Jetzt kümmere ich mich seit einem Jahr um das Crewing von Sea-Watch. Das heißt, ich beantworte zum Beispiel Fragen von Bewerbern, inzwischen waren über 500 Leute aus der ganzen Welt bei uns an Bord. Das sind schon so einige Stunden pro Woche, die ich am Computer sitze. So wie mir geht‘s vielen in der Organisation, die meiste Arbeit sieht man von außen gar nicht. Aber wir Ehrenamtlichen sind immer noch die einzigen, die sich um die Katastrophe da draußen kümmern und deshalb machen wir es.“

Die deutsch-australische Ärztin Stefanie Pender hat sich ein paar Monate nach dem Rettungseinsatz auf eine Stelle bei ‚Ärzte ohne Grenzen‘ beworben. Sich nach dieser Erfahrung nicht für Menschenrechte einzusetzen, scheint ihr unmöglich:

„An einem Nachmittag habe ich mich gefühlt wie auf einem fremden Planeten, so absurd war die Situation. Um uns herum nur das blaue Meer, in der Ferne dunkle Flecken, Boote am Horizont. In meiner Erinnerung verschwimmen alle Szenen. Drei von uns ziehen bewusstlose Leute aus dem sinkenden Schlauchboot. Ich versuche, sie an Ort und Stelle wiederzubeleben. Wir teilen Rettungswesten aus und beruhigen die schreienden Menschen. Als ein paar Stunden später die Sonne untergegangen ist und keine Rettungswesten mehr übrig sind, verteilen wir Leuchtstäbe, um die Boote im Dunkeln nicht zu verlieren.

Zurück auf der Sea-Watch habe ich mir einen Weg gebahnt, vorbei an den Menschen, die überall auf dem Deck lagen, um mich endlich hinzusetzen. Ich erinnere mich an das Geräusch der goldenen Rettungsdecken, die im Wind raschelten, während ich versuchte, zu verstehen, was tagsüber alles passiert war.

Die schlimmste Erkenntnis war, dass niemand kommen würde, um uns Rettungsorganisationen zu unterstützen. Ich habe mich hilflos gefühlt. Ich war die einzige Ärztin für Hunderte an Bord, während über Tausend immer noch auf dem Wasser auf Hilfe warteten. Obwohl das alles ausweglos schien, hat ein Mann angefangen, im Mondschein ein Lied zu singen. Es klang irgendwie hoffnungsvoll. Das hat mir wieder Kraft gegeben.“

Schnellbootfahrer Owen Thurgate ist eigentlich Förster in den Wäldern von Wales. Das Schicksal der Menschen, die aus Libyen geflohen sind, hat ihn schockiert und tief berührt:

„An unserem dritten Einsatztag habe ich Destiny kennengelernt. ‚Destiny‘, Schicksal, es ist kein Zufall, dass das Mädchen so heißt: Nur wenige Stunden, bevor ich das kleine Bündel aufs Schnellboot holte, war die Mutter am Strand in Libyen gestorben. Sie hat das Baby am Strand geboren und hat es selbst nicht mehr aufs Boot geschafft. Es muss furchtbar für den Vater gewesen sein, seine Frau tot im Sand zurückzulassen. Ich glaube, ich habe ihm nur mit einem „So Sorry“ mein Beileid ausgedrückt, ja, mehr habe ich nicht herausgebracht. Ich habe mich gleich schuldig gefühlt, weil das in ihm etwas ausgelöst hat. Den ganzen Rückweg zum Rettungsschiff hat er auf meiner Schulter geweint.

Die Begegnung mit ihm hat mir so vieles klargemacht. Wir alle wissen, dass auf der Welt schlimme Dinge passieren, aber wir sind zu beschäftigt, um uns wirklich damit auseinanderzusetzen. Als ich das Schluchzen von Destinys Vater gespürt habe, war es unmöglich, das zu verdrängen. Und es wurde mir klar, wie viele andere Geschichten es noch gibt, die bisher nicht erzählt sind. Diese hier ist unglaublich, aber bestimmt kein Einzelfall.

Ich habe da draußen gleichzeitig so viel Wut und Ohnmacht gespürt. Es hat sich schrecklich angefühlt, nichts daran ändern zu können, dass weiterhin Menschen sterben werden. Aber es ist ein gutes Gefühl, jetzt Teil dieser Gruppe von Seenotrettern zu sein, die sich für andere einsetzen. Wären wir nicht dagewesen, wäre Destiny vielleicht auch irgendwann tot in Libyen angespült worden.“

 Der Kameramann Raoul Kopacka kam den Geretteten an Bord während seiner Interviews sehr nah. Um das zu verarbeiten, hat er seiner Freundin in Wien WhatsApp-Sprachnachrichten geschickt. Immer wieder bricht seine Stimme während der Aufnahmen, er stoppt dann, setzt neu an. Ein Auszug: 

Gesendet 06-05-2017, 20:21 (UTC/GMT +2): „Hallooo, ich bin ziemlich fertig, das war ein langer Tag. Ich versteh, dass du voll viele Fragen hast. Das ist alles irgendwie fucked up und verrückt hier. Ich bin körperlich fertig, habe jetzt Kopfweh, bin übernächtigt, hab nur zwei Stunden geschlafen, auch seelisch bin ich fertig. Nach den Interviews mit den Leuten, die wir aus den Booten geholt haben, wollt ich mich eigentlich nur zurückziehen und eine Runde heulen. Man hört Geschichten von Vergewaltigungen und von Ermordungen und von Folter und von Sklaverei…“

Gesendet 06-05-2017, 20:22 (UTC/GMT +2): „Vor allem ist es einfach hart zu sehen, was die durchgemacht haben und du kannst den Leuten nicht wirklich was zu essen geben, weil alles voll ist. Wir haben immer noch 270 Leute an Bord und das MRCC, das ist die Rettungsleitstelle in Rom, schickt einfach keine Hilfe. Wir sind hier ganz allein. Wir können nirgends hin, können auch nicht zurück, das Schiff ist viel zu voll. Wir können also auch keinen anderen Menschen helfen, obwohl wir schon gehört haben, dass Boote gesunken sind und heute Leute gestorben sind da draußen.

Gesendet 06-05-2017, 20:24 (UTC/GMT +2): „Wär jetzt gern bei dir… die Welt ist scheiße. Man sollte gar nicht zu viel drüber nachdenken, was da abgeht, sondern einfach weitermachen, Leute aus dem Wasser ziehen. Weil das ist gerade das einzig Richtige. Aber das machen wir ja, ich hoff, auf meinen Videos kommt irgendwie rüber, wie kaputt das ganze System ist.“

Politikwissenschaftlerin Sandra Hammamy hat sich über Jahre mit der EU-Außenpolitik auseinandergesetzt, analysierte alles von den Fluchtbewegungen im Kaiserreich bis zur heutigen Arbeitsmigration. 2015 wollte sie nicht länger tatenlos zuschauen, wie Menschen auf der Flucht im Mittelmeer ertrinken. Die erfahrene Seenotretterin berichtet, wie gefährlich der Aktivismus an Europas Grenzen inzwischen ist:

„Während dieser Mission habe ich zum ersten Mal erlebt, wie ausgeliefert man sich fühlt, wenn man Bewaffneten gegenübersteht. Es war der 10. Mai, als wir ein Holzboot gefunden haben. Über 400 Menschen waren an Bord. Wie immer sind wir mit dem Schnellboot hin, um die Lage zu checken. Ich hatte ihnen schon zugerufen: ‚Alles wird gut, ihr seid in Sicherheit!‘ Da ist ein libysches Patrouillenboot gekommen, um die Leute wieder zurückzubringen nach Libyen, aus internationalen Gewässern. Das Völkerrecht verbietet, Menschen in Staaten zurückzuführen, in denen sie gefoltert werden könnten oder ihnen andere Menschenrechtsverletzungen drohen. Aber wir wussten, dass wir keine Chance haben, als die Libyer ihre Waffen zogen.

Es ist für mich eine neue Dimension in der europäischen Abschottungspolitik, dass die EU diese sogenannte Libysche Küstenwache unterstützt. Das zeigt ja ganz klar: Die EU will sich gar nicht an internationales Recht halten. Sie akzeptiert jeden Kooperationspartner, um Menschen daran zu hindern, Europa zu erreichen, wo sie ihr Recht auf Asyl in Anspruch nehmen könnten. Das ist pervers und macht mich unglaublich wütend. Ich frage mich, warum es nicht einen riesen Aufschrei gibt in Europa…

Ich werde nie vergessen, wie die Leute, mit denen ich schon gesprochen hatte, geschrien und uns angebettelt haben, sie nicht alleine zu lassen. Es war brutal. Wir mussten zugucken, wie sie zurück nach Libyen geschleppt wurden. Ich habe schon viel erlebt da draußen, hab Tote im Wasser treiben sehen, manchmal haben wir es nicht geschafft, jemanden zu reanimieren, aber da hast Du alles gegeben. Es war auf eine andere Art tragisch, mit den Leuten zu reden und dann gezwungen zu sein, sie im Stich zu lassen.“

Die Gesetze des Meeres

„Jeder Mensch hat das Recht, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen.“ So steht es in der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Die Menschen, die aus den libyschen Foltergefängnissen und Internierungslagern fliehen, haben außerdem das Recht, in Europa Asyl zu beantragen. Wenn ihr Boot in Seenot gerät, muss jede Kapitän*in in der Nähe die Menschen an Bord nehmen und sie an einen sicheren Ort bringen. „Sicher” ist nach dem Seevölkerrecht nur ein Hafen, in dem den Überlebenden keine Gefahr mehr droht und an dem „ihre menschlichen Grundbedürfnisse (wie zum Beispiel Nahrung, Unterkunft und medizinische Bedürfnisse) gedeckt werden”. In Libyen ist das nicht gewährleistet.

Die sogenannte Libysche Küstenwache verletzt also auf vielen Ebenen internationales Recht, wenn sie Schiffbrüchige zurück nach Libyen zwingt. In der Genfer Flüchtlingskonvention gibt es sogar einen eigenen Ausdruck für die verbotenen Rückschiebungen: Non-Refoulement.

Die Zeugenaussagen der Seenotretter*innen und Recherchen von Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty international und Human Rights Watch haben den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag dazu bewogen, auch Ermittlungen gegen die Küstenwächter anzustellen. Konsequenzen hatte das bisher nicht: Die EU unterstützt weiterhin das Vorgehen der sogenannten Libyschen Küstenwache und überträgt ihr die Verantwortung für viele Rettungen.

 

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