Wie die neue Corona-Schule alte Probleme verschärft

Heute beginnt der „neue Schulmodus“ für alle Kinder und Jugendlichen in Österreich. Für viele Familien ist die Krise damit noch lange nicht vorbei. Das liegt auch daran, dass Kinder in der Bundesregierung keine Lobby haben: Ihre Rechte und Interessen kommen in der Corona-Schule unter die Räder, zeigen Hanna Lichtenberger und Judith Ranftler.  

Bist du Gruppe A oder Gruppe B? Diese Frage stellt sich für die meisten SchülerInnen ab heute. Nach monatelanger Pause startet die Schule für alle außer Oberstufen vor der Maturaklasse neu, allerdings nur im Schichtbetrieb. Jede Gruppe besteht aus rund zwölf SchülerInnen. Gruppe A hat von Montag bis Mittwoch Unterricht, Gruppe B am Donnerstag und Freitag. In der zweiten Woche wird gewechselt. Den Rest der Zeit müssen die Eltern als sogenannte Betreuungstage übernehmen. Für sie stellen sich dieselben Fragen wie schon in den letzten Wochen: Wer bleibt mit den Kindern zu Hause? Wer hilft bei den Hausaufgaben?

Das Kind am Tag, die Erwerbsarbeit davor und danach

Die Belastung von Familien in der Corona-Krise ist enorm. Die auf Twitter und Co. unter dem Hashtag #CoronaEltern kursierenden Berichte zeigen: Den dreiwöchigen Betreuungsurlaub, der ohnehin nicht gereicht hätte, um die Zeit abzudecken, haben nur wenige Eltern bekommen.

Laut einer SORA-Studie arbeitet jeder fünfte Elternteil nun häufiger früh morgens, abends oder am Wochenende, jeder zehnte sogar nachts, um trotz Kinderbetreuung Zeit für Erwerbsarbeit zu finden. Wie Eltern den unregelmäßigen Schulbetrieb nun mit ihrer Arbeitszeit vereinbaren, ist kein Thema für Schwarz-Grün.

14 Quadratmeter zum Leben, Spielen, Lernen

Die Startbedingungen für die neue Corona-Schule sind zudem höchst unterschiedlich. Die Bildsprache der Regierung zeigt zwar traumhaft helle, skandinavisch eingerichtete, große Wohnungen und Häuser. Die gesellschaftliche Realität sieht allerdings anders aus. Armutsbetroffene Kinder leben schon jetzt in zu kleinen, zu lauten, zu kalten Wohnungen, in denen es keinen Rückzugsort für sie, ihre Eltern und Geschwister gibt.

Diese Kinder haben im Durchschnitt 14 Quadratmeter Platz zum Leben, zum Spielen und zum Lernen. Sie haben keinen eigenen Schreibtisch, müssen sich einen Computer teilen oder können nur am Handy ins Internet. Eine Studie zum Lernen unter Corona zeigt, dass 16 Prozent der befragten SchülerInnen keinen eigenen Computer, Laptop oder Tablet für das Homelearning zur Verfügung zu haben. 21 Prozent können in der Familie keine Unterstützung beim Lernen bekommen – zum Beispiel, weil die Eltern nicht bei den Aufgaben helfen können.

Allein zu Haus

Die ökonomische Krise verschärft die Lern-Ungleichheit weiter. Familien, die mit bis zu 45 Prozent weniger Einkommen dastehen, erleben nun Stress und Unsicherheit, wie es weitergehen soll. Das wirkt sich auf die Kinder und Jugendlichen aus. Im Rahmen des Volkshilfe-Projektes „Kinderarmut abschaffen“ erzählen Eltern von diesen Herausforderungen. Eine Mutter berichtet darin exemplarisch, wie schwierig und belastend es für sie ist, wenn ihre vier Kinder schulische Fragen stellen und sie nicht wirklich helfen kann, weil „die Schule schon so lange her ist“.

15 Prozent aller Eltern in Doppelverdiener-Haushalten müssen ihre Kinder zum Teil unbetreut alleine zu Hause lassen. Unterstützung beim Homeschooling ist dann maximal abends und am Wochenende möglich. Das Ende der Ausgangsbeschränkungen bedeutet für diese und viele andere Menschen keinesfalls das Ende der Krise.

Psychischer Stress, körperliche Schmerzen

„Wenn es dann so Mitte des Monats ist, dann wird’s stressig“, erzählt ein Kind aus dem Volkshilfe-Projekt. Armutsbetroffene sind permanent damit beschäftigt, ihr Überleben zu sichern. Eltern sorgen sich um die Ausstattung der Kinder und die Kinder übernehmen Sorgen, die sie überfordern. Für die dringende materielle Ausstattung können sie zumeist sorgen, müssen aber differenzieren. „Hosen, Leiberl auf jeden Fall. Das sind die wichtigsten Sachen. Unterhosen haben wir noch genug“, sagt ein Jugendlicher.

Die materielle Ausstattung ist ein messbarer, bei weitem aber nicht einziger Aspekt von Kinderarmut: Ein Wunsch eines Siebenjährigen ist, „dass wieder einmal ein paar Leute zu meinem Geburtstag kommen können.“ Die psychische Belastung durch Armut und Ausgrenzung schlägt sich auch in psychosomatischen Beschwerden von Jugendlichen nieder. Eine 13-Jährige berichtet: „Immer wenn ich traurig bin oder genervt oder böse, bekomme ich Bauchschmerzen.“ Ein Ausweg ist, sich ein besseres Leben auszumalen. Ein Zwölfjähriger aus dem Volkshilfe-Projekt erzählt von seinem größten Wunsch: „Dass ich ein Magier werde, dass ich mehrere Kräfte habe. Als Magier kann ich mir dann auch Geld her wünschen.“

Fehlende ExpertInnen im Krisenstab

Das Herbeizaubern eines besseren Lebens ist kein realistischer Ausweg, das weiß auch der zwölfjährige Bub. Die Veränderung der Lebenslage von armutsbetroffenen Kindern muss aber keine Imagination bleiben. Leider sind keine ExpertInnen des Alltags im Corona-Krisenstab der Regierung: keine ElternvertreterInnen, keine AlleinerzieherInnen, PädagogInnen, SozialarbeiterInnen, KinderrechtsexpertInnen, SchülerInnen- und StudierendenvertreterInnen.

Das spiegelt sich in den Prioritäten der Krisenbearbeitung wider. Kinder haben in der Regierung keine Lobby. Sie galten bislang hauptsächlich als Virenschleudern, ihre Bedürfnisse und Rechte kümmerten wenig. Jugendlichen und jungen Erwachsenen wird nicht zugetraut, dass sie sich an Hygienemaßnahmen ebenso gut halten können wie Erwachsene, weshalb sie im gleichen „Problemdiskurs“ wie Kleinkinder abgehandelt werden. Die Bedürfnisse von armutsbetroffenen Kindern kommen überhaupt nicht vor.

Die Lösungen: Ferienangebote und Kindergrundsicherung

Der neue Corona-Schulbetrieb verlangt auch neue politische Lösungen. JedeR vierte befragte Elternteil der oben zitierten Studie schätzt ein, im Sommer nicht genug Urlaubstage für die Kinderbetreuung zu haben. Fast die Hälfte gibt an, sich keine externe Betreuung im Sommer leisten zu können. Unter Alleinerziehenden sind das gar 71 Prozent. Für diese Kinder braucht es Angebote für die Ferien mit Lern- und Freizeitmöglichkeiten. Das könnte auch die ungleichen Bedingungen des Corona-Semesters zumindest ein wenig abfedern.

Gegen den finanziellen Stress, den Kinder in armutsgefährdeten Familien erleben, würde eine Kindergrundsicherung helfen. Sie könnte garantieren, dass kein Kind auf der Strecke bleibt und die Corona-Krise nicht zum Zement der Ungleichheit wird. Die Finanzierung wäre im Vergleich zu den 38 Milliarden schweren Wirtschafts-Rettungspaketen der Bundesregierung – und der Tatsache, dass Vermögende in Österreich weiterhin sehr gering besteuert werden – ein Klacks.

Hanna Lichtenberger und Judith Ranftler arbeiten für die Volkshilfe Österreich zu den Bereichen Gesundheitswesen und Kinderarmut.

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