In Zeiten von Covid-19 stellen Schulen auf Homelearning bzw. Distance Learning um. Doch bereits unter normalen Umständen verschärfen Hausaufgaben die sozialen Ungleichheit zwischen Schüler*innen. Dieses Problem wird jetzt noch verschärft, ließe sich aber mit einfachen Maßnahmen lindern.
Wenige Tage nach der Ankündigung, Universitäten und Fachhochschulen zu schließen, reagierte die österreichische Bundesregierung mit der Schließung von Schulen. Es war eine von zahlreichen drastischen Maßnahmen in Reaktion auf die Ausbreitung des Coronavirus. Lehrkräfte wurden vom Bildungsministerium bzw. den Bildungsdirektionen der Länder dazu angehalten, ihren Schüler*innen geeignete Übungsmaterialien für zuhause zur Verfügung zu stellen.
„Die Bearbeitung des zur Verfügung gestellten Unterrichtsmaterials“, so das Ministerium, soll in die Leistungsbeurteilung einfließen „und ist wie eine Hausübung bzw. Mitarbeit zu zählen“. Dabei soll jedoch „kein neuer Lernstoff durchgenommen“, sondern lediglich bereits Vorhandenes vertieft werden. So weit, so gut. Doch was bedeutet Homelearning auf sozialer Ebene?
Lernen im Ausnahmezustand
Viele Schüler*innen berichten in den letzten Tagen, dass sie mit Arbeitsaufträgen förmlich überhäuft werden und gar nicht hinterherkommen. In einer solchen Situation ist es noch entscheidender, ob meine Eltern im Supermarkt arbeiten müssen oder zuhause Homeoffice machen und als Unterstützung zur Verfügung stehen. Ob ich einen eigenen Computer besitze oder sich der gesamte Haushalt einen Laptop teilt. Ob ich ein eigenes Zimmer habe, in dem ich in Ruhe arbeiten kann, oder mir einen Raum mit mehreren kleinen Geschwistern teilen muss.
Zur Erinnerung: Ein Fünftel aller Kinder und Jugendlichen in Österreich ist armutsgefährdet, in Wien ist es sogar ein Viertel. 255.000 Kinder müssen in überbelegten Wohnungen leben. 226.000 Minderjährige wohnen in feuchten und schimmligen Zimmern. 45.000 Kinder leben in Haushalten, die die Wohnung nicht angemessen heizen können (Zahlen der Armutskonferenz für 2019). Je länger der Lockdown anhält, umso schwieriger wird es für diese Kinder und Jugendlichen, mitzuhalten oder sich ein „Nicht Genügend“ auszubessern. Das kann über den Aufstieg in die nächste Klasse und oft sogar den weiteren Lebensweg entscheiden .
Die jüngsten Anmerkungen von Bundeskanzler Sebastian Kurz und Bildungsminister Heinz Faßmann deuten darauf hin, dass die Schule wahrscheinlich nicht nach Ostern wieder losgehen wird. Und dann wird wohl auch die Vorgabe fallen, dass kein gänzlich neuer Stoff durchgenommen werden soll.
Die „Vererbung“ von Bildungsabschlüssen
Doch gehen wir einen Schritt zurück. Denn das Homelearning macht die Schule nicht plötzlich sozial ungerecht, sie ist es immer schon. Immer wieder zeigen Statistiken recht deutlich, dass formale Bildung in Österreich „vererbt“ wird. So ist der höchste Bildungsabschluss, den die Eltern erreicht haben, auch bei ihren Kindern der häufigste. Wenn ihre Eltern eine Hochschule absolviert haben, trifft das zu 57 Prozent auch auf die heute 25- bis 44-Jährigen zu. Im Gegensatz dazu erreichen nur sieben Prozent jener, deren Eltern als höchste Ausbildung einen Pflichtschulabschluss haben, einen akademischen Grad. SIEBEN PROZENT.
Die Gründe für diese „Vererbung“ von Bildungsabschlüssen sind zahlreich. Sie reichen von finanziellen Faktoren über die verschiedenen Möglichkeiten der elterlichen Unterstützung und die unterschiedlichen Umgangsformen im Elternhaus bis hin zur bewussten oder unbewussten Benachteiligung durch Lehrkräfte. So zeigen etwa Untersuchungen aus Deutschland, dass Kinder aus höheren sozialen Schichten bei gleichen Fähigkeiten und Leistungen deutlich öfter fürs Gymnasium empfohlen werden als Kinder aus unteren Einkommensschichten.
Die Gründe summieren sich
Viele dieser Faktoren hängen zusammen und summieren sich im Laufe der Bildungskarrieren von Kindern und Jugendlichen. So erhöht etwa ein niedrigeres Familieneinkommen den Druck, Nebenjobs anzunehmen oder die Bildungslaufbahn abzubrechen. Beengte Wohnverhältnisse führen zu einem schlechteren Lernumfeld, das längerfristig wiederum die Motivation zu lernen senken kann. Während die einen mit einem Wohnzimmer voller Literatur und drei abonnierten Magazinen aufwachsen, sind die anderen ganz weit weg von einem vollen Bücherregal.
Auch die häufig beklagte Geringschätzung von Allgemeinbildung in proletarischen Milieus hat eine materielle Grundlage: Schließlich ist der Druck, „etwas G‘scheites zu lernen“, also etwa eine handwerkliche Lehre zu machen, anstatt aufs Gymnasium und später auf die Uni zu gehen, deutlich höher, wenn letzteres bedeutet, das eigenen Kind länger „durchfüttern“ zu müssen. Vieles läuft aber auch unbewusst. Mit welchem Sprachschatz im Haushalt miteinander kommuniziert wird oder wie Konflikte gelöst werden, prägt den Habitus von Kindern. Spätestens auf der Uni werden Arbeiter*innenkinder damit konfrontiert und fühlen sich dann häufig wie ein Fisch am Land, wie viele von ihnen berichten.
Was in der Schule nicht klappt, gelingt zu Hause noch weniger
Schulen haben, so wie andere Institutionen des bürgerlichen Staats auch, den Anspruch, alle gleich zu behandeln. Selbst wenn das der Fall wäre (und schon daran bestehen beträchtliche Zweifel) hieße es in kapitalistischen Gesellschaften, die vorhandenen sozialen Ungleichheiten lediglich fortzuschreiben. Aber wenn ein Ausgleichen schon in der Schule nicht gelingt (und auch gar nicht vorgesehen ist), so muss es zuhause völlig scheitern, ja zum Gegenteil führen.
Nun ist der Einfluss von Hausaufgaben auf den Lernerfolg, wie etliche Studien zeigen, geringer als häufig angenommen. Tendenziell machen sie leistungsstärkere Schüler*innen stärker und schwächere schwächer. Und leistungsstark wiederum heißt, wie oben gezeigt, häufig schlicht, dass man wohlhabendere Eltern hat als andere.
Sitzenbleiben aussetzen
Abseits von notwendigen grundlegenden, aber längerfristigen Änderungen im österreichischen Bildungssystem gäbe es eine Reihe an Möglichkeiten, die kurzfristig Verbesserungen für benachteiligte Schüler*innen bringen könnten. Zuallererst sollte das Sitzenbleiben für dieses Schuljahr flächendeckend ausgesetzt werden, um den größten Druck aus der angespannten Situation zu nehmen. Maturant*innen sollten automatisch ein „bestanden“ bekommen. Weiters sollten Lehrer*innen dazu angehalten werden, das Pensum ihrer Arbeitsaufträge deutlich zu reduzieren. Und um die Ungleichheit in den Lernbedingungen zuhause zu reduzieren, sollten rasche unbürokratischen Beihilfen ins Leben gerufen werden, die etwa zum Ankauf von Laptops genutzt werden könnten. Und in alle Entscheidungen müssen Schüler*innenvertreter*innen unbedingt einbezogen werden.
Im österreichischen Bildungssystem liegt einiges im Argen. Das zeigt sich in Zeiten des Ausnahmezustands umso mehr. Die Folgen dürfen nicht auf den Rücken von Schüler*innen ausgetragen werden.