Warum wir alle im „Squid Game“ leben

Die bis dato erfolgreichste Netflix-Serie „Squid Game“ („Tintenfisch-Spiel“) ist vor allem wegen ihrer Nähe zur Realität und ihrer Zaunpfahl-Kapitalismuskritik populär – weniger aufgrund der Dramaturgie, schreibt Mosaik-Redakteur Mahdi Rahimi. Achtung, Spoiler.

Im südkoreanischen Squid Game kämpfen 456 ProtagonistInnen in Kinderspielen um ihr Leben. Verlieren sie ein Spiel, werden sie eliminiert – sie sterben. Die Organisatoren des Spiels forcieren Zwietracht, Hass und Misstrauen unter den Teilnehmenden. Am Ende geht es darum, ein riesiges Schwein voll Geld, um genau zu sein 456 Milliarden Won (knapp 35 Millionen Euro), zu gewinnen. Für die ProtagonistInnen ein besonderer Anreiz, denn sie alle stecken in einem Kreislauf aus Schulden fest. Kein seltenes Problem in Südkorea, nur dass Squid Game diesen Kreislauf ein wenig beschleunigt. Die Story der Serie ist weniger faszinierend als die Assoziationen, die sie auslöst.

Die Insel, Spielarena der Superreichen

Squid Game soll nicht real sein, doch vieles an der Serie erinnert an das echte Leben. Die Idee einer Insel als Spielarena, auf der sich irgendwelche reichen VIPs treffen und sich auf Kosten der Unterschicht amüsieren, mag eventuell obskur und nach einer Verschwörungsphantasie klingen. Doch das reiche Menschen Inseln und dort Narrenfreiheit besitzen, weiß man spätestens seit Jeffrey Epstein. Auch wenn niemandem klar ist, was genau auf seiner Insel abging. Die Spielarena ist aber das uninteressanteste Detail der ganzen Story.

Erfolg im Spiel und am Arbeitsplatz

Zumindest ein/e TeilnehmerIn wird das Spielfeld und die Insel mit unfassbarem Reichtum verlassen. Dabei muss die Person nur jegliche moralischen und ethischen Bedenken über Bord werfen und nicht an das gemeinschaftliche Wohl denken. Der kurzfristige Weg zum „Erfolg“ am Arbeitsplatz also. Die TeilnehmerInnen treten immer wieder in Zweckgemeinschaften ein, weil sie kurzfristige gemeinsame Interessen haben, ohne dass der Spielleiter ihnen erlaubt, tatsächlich kollektivistisch zu arbeiten. So wie es auch in größeren Unternehmen ohne Gewerkschaften und echte ArbeitnehmerInnenvertretungen funktioniert.

Neoliberale Banker…

Einer der Protagonisten, ein Banker, hat sich aus einem Armenviertel von Seoul durch Fleiß und Eifer hochgearbeitet, bis er das Geld seiner Klienten verspekuliert hat. Im Spiel wendet er Managementtricks an und rechtfertigt sich mit neoliberalen Argumenten­. Harte Arbeit muss sich auszahlen, er als fleißiger und hochintelligenter Marktteilnehmer hat seinen Vorteil vor den anderen verdient, das ist sein Kredo.

… und naive Sozialdemokratie

Interessant ist auch Hauptfigur und Antiheld Seong Gi-hun, der bis zum Ende an ein gemeinsames Gewinnen, teilen und ein Happy End für alle glaubt, ohne zu kapieren, dass das Spiel auf eine/n einzige/n SiegerIn ausgelegt ist. In seiner Naivität erinnert er an sozialdemokratische Politiker und ehemalige Kanzler. Würde Christian Kern bei Squid Game mitmachen, würde er genauso wie Seong Gi-hun bis zum Ende auf die Hoffnung setzen, gemeinsam zu Wohlstand zu kommen. Das Spiel ist aber nicht darauf ausgelegt und die OrganisatorInnen und zahlenden ZuschauerInnen haben keinen Bock darauf. Während des Spiels hat man zumindest etwas Hoffnung und verspürt kurz das Gefühl eines Aufbruchs, aber am Ende stirbt man eh – einen langen, qualvollen Tod.

Squid Game – ein antikapitalistischer Zaunpfahl

Aus all diesen Gründen hat Squid Game seinen Reiz. Die Serie ist aber auch so vorhersehbar wie Regierungsbeteiligungen von „linksliberalen“ Parteien. Die Charaktere sind linear und einfach gezeichnet. Obwohl die Story viele Graubereiche bieten würde, sind die guten und die schlechten Personen schnell ausfindig zu machen. Dramaturgische Fehler, wie alle Hauptcharaktere am selben Ende eines Taus ziehen zu lassen, durchdringen die Handlung. Durch das Ende wird krampfhaft versucht, eine zweite Staffel zu ermöglichen. Die Kapitalismuskritik ist so plakativ, dass sie eigentlich jeder verstehen sollte. Was nicht unbedingt schlecht ist, aber auch stilistisch uninteressant.

Aufgrund der Nahbarkeit ist die Serie trotz allem gute Unterhaltung. Eben weil das Leben im spätkapitalistischem System nicht bemerkenswert anders ist als in Squid Game. Und es ist interessant zu beobachten, wie sehr das in der koreanischen Massenkultur thematisiert wird – siehe auch Parasite (da der Autor dieser Zeilen aber keine Ahnung von Südkorea hat, lässt er diese Analyse aus und hofft auf Feedback von Leuten, die etwas mehr wissen).

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