„Selbstausschaltung des Parlaments“: Eine Lüge und ihre Lehren

Österreichisches Parlament Plenarsaal

Der Mythos von der „Selbstausschaltung des Parlaments“ hält sich seit 90 Jahren hartnäckig – und verstellt den Blick auf die wahren Hintergründe des 4. März 1933. Der austrofaschistische Putsch war nicht nur die autoritäre Rettung des Kapitalismus. In ihm zeigte sich auch das Versagen der Sozialdemokratie, meint Sebastian Kugler.

Eine ganze Reihe an Sondersendungen und Dokumentationen plant der ORF rund um den 4. März 1933. Dass er es mit dem Bildungsauftrag dann aber doch nicht so genau nimmt, zeigt sich daran, dass er die Ereignisse dieses Tages in einer (mittlerweile geänderten) Presseaussendung noch immer als „Selbstausschaltung“ des Parlaments bezeichnet, ja sogar als „Panne“. Damit wird die Propaganda jener fortgeführt, die damals tatsächlich das Parlament ausschalteten: Dollfuß, seine austrofaschistische Christlichsoziale Partei und seine paramilitärischen Helfer von den Heimwehren.

Dass die austrofaschistische Lüge von der „Selbstausschaltung“ heute noch vom staatlichen Rundfunk wiederholt wird, liegt an der verführerischen Unverbindlichkeit, die sie den in der Zweiten Republik sozialpartnerschaftlich verbundenen staatstragenden Parteien SPÖ und ÖVP vermittelt: Ein Hoppala, an dem niemand wirklich Schuld hat – also Schwamm drüber, über unsere, frei nach Hans Orsolics, potscherte Geschichte. Die ÖVP kann damit ihre austrofaschistischen Kontinuitäten unter den Tisch kehren, die sich nicht nur lange Zeit im Dollfuß-Porträt im Parlamentsklub ausdrückten – und die SPÖ kann über das Versagen der Sozialdemokratie im Kampf gegen den Faschismus hinwegsehen. Der 4. März war aber kein Unfall, sondern ein austrofaschistischer Parlamentsputsch, der vor dem Hintergrund der kapitalistischen Krise, des Siegs Hitlers in Deutschland und der tiefen Krise der Arbeiter*innenbewegung verstanden werden muss.

Die autoritäre Rettung des Kapitalismus

Infolge der Weltwirtschaftskrise krachte die größte Bank des Landes, die Creditanstalt. Da sie „too big to fail“ war, wurde der österreichische Kapitalismus 1932 durch die Lausanner Anleihe des Völkerbunds gerettet – eine Geldspritze, die (wie die Programme der EU-Troika oder des IWF) mit der Verpflichtung zu Sozialkahlschlag verbunden war. Die Arbeiter*innenbewegung war zu dieser Zeit noch stark, und die Sozialdemokratie stellte als stärkste Einzelpartei im Parlament ein Hindernis für die brutalen Kürzungsmaßnahmen dar – schließlich musste sie wenigstens auf dieser Ebene das Gesicht wahren, nachdem durch jahrelanges Zurückweichen vor den Konservativen das Vertrauen der Basis in die Führung ernsthaft erodierte.

Vor diesem Hintergrund erklärte der damalige Justizminister und spätere Nachfolger Dollfuß‘, Kurt Schuschnigg: „Die Parlamente aller in wirtschaftlicher Not darniederliegenden Staaten haben sich als ungeeignet erwiesen, Staat und Volk aus der Krise herauszuführen.“ Das sah auch Rost van Tonningen so, der vom Völkerbund zur Kontrolle der Staatsfinanzen nach Österreich geschickt worden war. 1933 schrieb er in sein Tagebuch: „Zusammen mit dem Kanzler und [Nationalbank-Präsident] Kienböck haben wir die Ausschaltung des Parlaments für nötig gehalten, da dieses Parlament die Rekonstruktionsarbeit sabotierte.“ Dollfuß führte also nur aus, was die herrschenden Fraktionen in Wirtschaft und Politik sowieso für notwendig hielten, um die Profite wiederherzustellen. Der konkrete Anlass war aus dieser Perspektive mehr oder weniger zufällig – aus einer anderen jedoch ganz und gar nicht.

Das Versagen der Sozialdemokratie

Im Jänner 1933 enthüllte der bekannte Sozialist Koloman Wallisch, dass Mussolini über die Hirtenberger Waffenfabrik Waffen an die Heimwehr und das ungarische Regime schmuggeln wollte. Die Regierung rächte sich für die Vereitlung ihrer Pläne, indem sie den Eisenbahner*innen die Löhne radikal kürzte und nur auf Raten zahlte. Am ersten März wollten diese mit einem sektoralen Generalstreik zurückschlagen, was die Regierung jedoch durch eine Besetzung der Bahnhöfe und massenhafte Verhaftungen unterband – ohne, dass die Sozialdemokratie aktiven Widerstand leistete. Sie beschränkte sich darauf, am 4. März eine Sondersitzung des Parlaments einzuberufen, um dort mit der Regierung über Amnestien für Verhaftete zu verhandeln.

Dollfuß wusste, dass die sozialdemokratische Führung auf symbolische Zugeständnisse angewiesen war, um die erzürnte Basis, die sich u. a. in der oppositionellen „Jungfront“ rund um Ernst Fischer sammelte, ruhigzustellen. Deshalb konnte Dollfuß die Sozialdemokrat*innen bei der Abstimmung in die Enge drängen und die formale Lücke schaffen, mit der er das Parlament aushebelte und per Kriegsermächtigungsgesetz weiterregierte.

Die Verteidigung demokratischer Errungenschaften

Die reformistische Parteiführung hatte jahrelang die Erreichung des Sozialismus über das Parlament gepredigt – und stand nun vor den Trümmern dieser gescheiterten Strategie. Marxist*innen wie der russische Revolutionär Leo Trotzki hatten dies schon lange kritisiert – noch schwerer wog nun jedoch, so Trotzki, dass die Sozialdemokratie nicht einmal bereit war, die Errungenschaften der bürgerlichen Demokratie mit den dafür notwendigen Mitteln zu verteidigen. So schrieb er im März 1933: „Wir werfen den Austro-Marxisten nicht vor, dass sie für die Demokratie kämpfen, sondern, dass sie für die Demokratie nicht kämpfen.“

Ein echter Kampf gegen die autoritäre Umwälzung müsse nicht nur im von der Sozialdemokratie für den (nie eintretenden) Falle eines Falles vorgesehenen symbolischen Generalstreik bestehen, sondern „der Streik muss die Bewaffnung der Arbeiter, die Entwaffnung der faschistischen Banden, die Entfernung der Bonapartisten von der Macht, die Ergreifung des materiellen Staatsapparates zur Folge haben und durch sie ergänzt werden“. Konsequente Verteidigung demokratischer Errungenschaften könne also unter solchen Umständen nur durch eine revolutionäre Massenbewegung erfolgreich sein.

„Offensiver Kampf um den Sozialismus“

Ähnliches hatte bereits die innerparteiliche sozialistische Opposition am Parteitag 1932 gefordert – so etwa der Antrag aus Favoriten, der festhielt: „Die wehrhafte Verteidigung der Demokratie muss im gegebenen Augenblick in den offensiven Kampf um den Sozialismus umschlagen.“ Die Opposition erwies sich aber als nicht stark und entschlossen genug, um mit dem Kurs der Führung rund um Otto Bauer zu brechen. Diese setzte weiter auf Verhandlungen, auch nachdem Hitler am fünften März seine Alleinherrschaft in Deutschland gefestigt hatte und Dollfuß das Wiederzusammenkommen des Parlaments am 15. März gewaltsam unterband.

Koloman Wallisch schrieb am Abend desselben Tages nach Wien: „Ein großer Teil unserer Genossen wünscht, dass die Entscheidung nicht auf die lange Bank hinausgeschoben wird, da ansonsten bei uns auch das Gleiche zu befürchten ist, was in Deutschland geschehen ist“ – doch nichts passierte. Selbst als am 31. März der Schutzbund verboten wurde, verkündete die Arbeiter-Zeitung: „Die Form fällt – die Kraft bleibt!“ Als knapp ein Jahr später der Februaraufstand losbrach, konnte der Heroismus der Aufständischen die strukturelle Schwächung der Bewegung und das politische Versagen der Führung nicht aufwiegen. Zu den hingerichteten Kämpfer*innen zählte nicht zuletzt Koloman Wallisch selbst.

Lehren für heute

Auch heute rütteln multiple Krisen des Kapitalismus am Gerüst der bürgerlichen Demokratie und autoritäre Kräfte bedrohen demokratische Errungenschaften. Gleichzeitig glauben immer weniger Menschen daran, dass die etablierten parlamentarischen Strukturen tatsächlich ihre Interessen vertreten – und das angesichts von Inflation, Krieg, Umweltzerstörung etc. nicht zu Unrecht. Während Linke jeden Angriff auf demokratische Rechte bekämpfen müssen, kann ihre Aufgabe nicht darin bestehen, dabei Illusionen in die bürgerliche Demokratie zu schüren. Vielmehr müssen wir aufzeigen, dass die Krise der bürgerlichen Demokratie Ausdruck der Krise des Kapitalismus ist – und dass wir letztere nur durch den Kampf gegen Kapital und Staat und für echte, sozialistische, Demokratie überwinden können.

Foto: Frederic Köberl

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