Jetzt auch noch Vogelgrippe? Wie der Kapitalismus Pandemien produziert

Die Welt erlebt derzeit einen dramatischen Ausbruch der Vogelgrippe. Mit Corona im Nacken und der Vogelgrippe-Gefahr im Augenwinkel müssen wir endlich Klartext reden: Kapitalistische Naturzerstörung und industrielle Tierhaltung haben uns in ein Zeitalter der Pandemien katapultiert. Von Lisa Mittendrein.

Seit über zwanzig Jahren fürchten Wissenschaftler:innen, die Vogelgrippe könne auf Menschen übergreifen und eine tödliche Pandemie auslösen. Nun erlebt die Welt den bisher schlimmsten Ausbruch der Vogelgrippe unter Geflügel und Wildvögeln. Hunderte Millionen Vögel sterben oder werden zur Eindämmung getötet. Das zwingt uns, die Frage nach dem „Warum?“ zu stellen und die Konsequenzen daraus zu ziehen.

Das Coronavirus SARS-CoV-2 und die Vogelgrippe H5N1 haben vieles gemeinsam. Wie bei vielen Infektionskrankheiten handelt es sich dabei um Zoonosen, also Krankheiten, die von Tieren auf Menschen übertragen werden können. Dass das geschieht, ist allerdings nicht selbstverständlich, sondern hängt davon ab, wie unsere Gesellschaft mit der Natur in Beziehung tritt. Die Geschichte von Pandemien ist auch die Geschichte gesellschaftlicher Naturverhältnisse. Und sie ist eine Geschichte darüber, wie Umweltzerstörung, Massentierhaltung und das Primat von Profit und Wachstum Pandemien immer wahrscheinlicher machen.

Die Vogelgrippe, die wir kaum wahrnehmen

Millionen Vögel haben sich in den letzten zwei bis drei Jahren mit Vogelgrippe infiziert. Noch nie zuvor passte sich ein Grippevirus an so viele Vogelarten an, sprang so viel zwischen Tierfabriken und Wildvögeln hin und her und verlief für die Tiere so tödlich. Zusätzlich werden bei Ausbrüchen im großen Stil Tiere „gekeult“, also gezielt getötet, um eine weitere Ausbreitung zu vermeiden. So wurden in den USA letztes Jahr 50 Millionen Vögel gekeult, auch in Österreich kam es in den letzten Monaten zu Ausbrüchen in Geflügelbetrieben in Tirol und Oberösterreich sowie unter Wildvögeln.

Zuletzt sorgte das Übergreifen der Vogelgrippe auf eine spanischen Pelzfarm für Aufregung. Die Nerze hatten sich bei Wildvögeln angesteckt, das Virus mutierte und wurde unter den Nerzen weitergegeben. Alle 50 000 Nerze wurden getötet. All das ist nicht nur eine Katastrophe für die betroffenen Tiere und die Biodiversität, die durch die Seuche unter Wildvögeln bedroht ist. Wissenschaftler:innen fürchten auch, dass der Sprung zu Säugetieren ein Übergreifen auf Menschen wahrscheinlicher macht.

Die Vogelgrippe ähnelt menschlichen Grippeviren. Wie viele andere Erreger hat sie ein natürliches Reservoir, eine Gruppe von Tieren, die sie in sich trägt, ohne schwer zu erkranken. So sind harmlosere Varianten des Vogelgrippe-Virus bei Enten und anderen Wasservögeln weit verbreitet. Immer wieder mutieren die Viren jedoch, werden hochinfektiös und tödlich.

Seit dem ersten schweren Ausbruch der Vogelgrippe in Hong Kong 1997 kommt es jedoch alle paar Jahre zu neuen, hochgefährlichen Varianten. Gelegentlich stecken sich auch Menschen, die etwa in Hühnerfabriken arbeiten, direkt bei Vögeln an, jedoch gab es bisher kaum Ansteckung von Menschen untereinander. Das ist die große Sorge: Wie auch schon SARS-COV-2 könnte H5N1 mutieren und so eine tödliche Pandemie auslösen.

Die Renaissance der Infektionskrankheiten

Lange waren Wissenschaftler:innen davon ausgegangen, die Menschheit hätte Infektionskrankheiten hinter sich gelassen. Was für ein Irrtum. Nicht nur sind Infektionskrankheiten weltweit die häufigste Todesursache bei unter 45-Jährigen. Seit den 1980ern entstand HIV, der West Nil Virus, SARS, Ebola, Vogelgrippe, Schweinegrippe, und schließlich SARS-CoV-2 (um nur einige zu nennen). Infektiöse Erreger sind zurück, und zwar auf der ganzen Welt.

Warum nehmen also zoonotische Erkrankungen so zu, warum passen sich tierische Viren immer besser an Nutztiere oder gar an Menschen an? Es sind vor allem zwei Punkte im Kreislauf globaler Warenproduktion, an denen die kapitalistische Ausbeutung der Natur neue Krankheitserreger schafft: Extraktivistische Fronten und Mega-Tierfabriken.

Neue Erreger an den extraktivistischen Fronten

Entwaldung und die Zerstörung natürlicher Ökosysteme bringen zuvor abgeschirmte Erreger in Kontakt mit Menschen. Wird an den Waldrändern abgeholzt, werden Rohstoffe gewonnen oder riesige Monokulturen gepflanzt, verlassen Krankheitserreger ihre natürlichen Reservoire. Sie springen auf Nutztiere, andere Wildtiere, Bäuer:innen und Arbeiter:innen über. Jene Ökosysteme, in denen die Erreger zuvor auf wenige Wirte begrenzt waren, werden auseinandergerissen und neu zusammengesetzt. Als hätte man eine Tür eingebaut, erhalten die Erreger plötzlich Zugang zu neuen Wirten und Verbreitungswegen. Haben die Menschen (oder andere Tiere) Pech, so mutieren die Erreger, werden auch für uns infektiös und breiten sich von der extraktivistischen Front über regionale und dann globale Produktionskreisläufe auf die ganze Welt aus.

Auf diese Weise entstanden etwa Ebola, Nipah und auch SARS-CoV-2. Im Fall des Covid-19-Erregers waren es Fledermäuse, die Coronaviren in sich tragen. Weil ihre natürlichen Lebensräume immer weiter zurückgedrängt werden, kommen sie vermehrt in Kontakt mit Menschen und anderen Tieren, so dass sich das Virus vermutlich über eine längere Zeit gut an diese anpassen konnte, bis es schließlich von Mensch zu Mensch übertragen wurde. Neue Viruserkrankungen entstehen also oft dort, wo der Kapitalismus noch die letzten Reste „wilder Natur“ ausbeutet.

Mega-Tierfabriken als perfekter Nährboden

Der zweite zentrale Punkt, an dem neue Krankheiten entstehen, sind industrielle Tierfabriken. In ihnen leben hunderttausende oder gar Millionen Tiere eng zusammengepfercht. So viele, genetisch ähnliche Tiere mit geschwächtem Immunsystem, bieten einen idealen Nährboden für Krankheitserreger. Es kommt dort nicht nur besonders schnell zu Infektionen, sondern auch zu konkurrierenden Mutationen, die dann wiederum sehr rasch zu neuen, wirksamen Varianten führen. In den Worten des Evolutionsbiologen Rob Wallace: „Indem sie die Produktion ganz auf Profit ausgerichtet hat, hat die Agrarindustrie genau die Mittel geschaffen, mit denen die tödlichsten (und ansteckendsten) Krankheitserreger selektiert werden.“

Im Fall der Vogelgrippe bewegen sich die Viren über Wildvögel durch die Welt – das taten sie sehr lange, ohne dass sie gefährlich wurden. Erst wenn diese harmloseren Viren auf Tierfabriken treffen, entstehen ihre tödlichen Varianten. Der kürzlich verstorbene marxistische Theoretiker Mike Davis, der bereits 2005 vor der Gefahr der Vogelgrippe warnte, bezeichnet die über Wildvögel eingeschleppten Viren als Funken und die Mega-Tierfabriken als Sprengsatz. Denn: Auch Hühner auf kleinen Bauernhöfen können an Vogelgrippe erkranken, in der kleinen Gruppe endet die Infektionskette aber sehr schnell. Über 90 Prozent der bekannten Vogelgrippe-Mutationen hin zu tödlichen Varianten erfolgten in industriellen Geflügelfabriken mit hunderttausenden Tieren. In solchen Tierfabriken sind diverse Varianten der Vogelgrippe inzwischen so verbreitet, dass neue Viren gar nicht mehr über Wildvögel eingeschleppt werden müssen sondern dort entstehen.

Globalisierung und Klimakrise

Auch über die zwei zentralen Punkte hinaus prägt unser kapitalistisches Weltsystem die Bedingungen, unter denen neuartige Krankheitserreger entstehen können. In der Landwirtschaft war es nicht nur der Aufstieg industrieller Methoden, sondern auch der schrankenlose Handel, der zur immer weiteren Konzentration der Tierhaltung führte. Megastädte und Megaslums bieten ein großes Reservoir an infizierbaren Menschen, oft in der Nähe von riesigen Tierfabriken. Flugverkehr ermöglicht es Krankheitserregern, sich in nie dagewesenem Tempo über die Welt auszubreiten. Epidemiologen gehen davon aus, dass die neoliberale Globalisierung das Verhältnis zwischen Menschen und Mikroben von Grund auf verändert hat.

Dazu kommt auch noch die Klimakrise: Die Erderhitzung ermöglicht Mücken, Zecken und Fledermäusen, Erreger in immer größere Gebiete zu tragen. Infektiöse Pilze könnten sich an die höheren Temperaturen anpassen und damit auch in unserem Körper besser überleben. Und im Permafrost gefrorene Krankheitserreger drohen freigesetzt zu werden.

Ein paar grüne Technologien ändern nichts

Infektionskrankheiten gibt es spätestens seit Menschen sesshaft sind. Doch welche das sind, wie sie entstehen und wie sie uns betreffen ist die direkte Folge unseres Verhältnisses zur Natur. Im Kapitalismus bedeutet das: Immer größere Mengen von Holz, Brennstoffen, Metallen, Tieren, Pflanzen und Land werden in den Kreislauf von Produktion und Kapitalakkumulation eingesogen. Für keinen Teil der Natur bleibt das folgenlos. Ökosysteme werden zerstört, Tiere und Pflanzen sterben aus, Böden degradieren, Meere übersäuern, die Atmosphäre verändert sich. Es ist also kein Wunder, dass die kapitalistische Naturzerstörung auch Mikroorganismen und Viren verändert.

Spätestens mit der eskalierenden Klimakrise und dem neuen Zeitalter der Pandemien ist klar: Der kapitalistische Drang zu immer mehr Profit, Wachstum und Ressourcen vernichtet systematisch unsere Lebensgrundlagen. Kleine Korrekturen, ein paar grüne Technologien hier und ein bisschen bewusster Konsum dort können dagegen überhaupt nichts ausrichten.

Foto: Egor Myznik

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