Syrizas langer Untergang und der Sieg von Stefanos Kasselakis

Kasselakis Syriza

Am vergangenen Sonntag wählten Syrizas Mitglieder den Ex-Banker und Reeder Stefanos Kasselakis mit großer Mehrheit zum neuen Vorsitzenden. Es ist das Ende von Syriza als linker Partei, schreibt mosaik-Redakteur Martin Konecny.

Mit 56 Prozent der Stimmen setzte sich Stefanos Kasselakis im zweiten Wahlgang gegen die ehemalige Arbeitsministerin Effi Achtsioglou durch. Kasselakis war erst im August, knapp drei Wochen vor der ersten Runde der Vorwahlen, in das Rennen eingestiegen. Im Gegensatz zu den anderen Kandidat:innen verband ihn kaum etwas mit der Partei. 

Kasselakis ist mit 14 in die USA ausgewandert, wo er später als Banker für Goldman Sachs arbeitete und dann Reeder wurde. Laut eigenen Angaben unterstützte er in der Vergangenheit den rechtsautoritären Vorsitzenden und nunmehrigen Premier der konservativen Nea Demokratia. Doch 2023 fragte ihn der langjährige Vorsitzende von Syriza, Alexis Tsipras, ob er nicht auf der Auslandsliste der Partei kandidieren wolle. Obwohl er kein Mandat errang, war das der Beginn seiner politischen Karriere. Sein interner Wahlkampf blieb auf inhaltsleere Videos und eine ihn hochjubelnde konservative Medienlandschaft begrenzt. 

Kasselakis Programm: Syriza abwickeln

Dennoch lassen sich einige inhaltliche Punkte festmachen. In einem Kommentar, etwa einen Monat vor Ankündigung seiner Kandidatur, erklärte er, Syriza müsse die „US-Formula“ der Demokratischen Partei kopieren. Das linke Erbe von Syriza solle sich künftig ausschließlich in mehr innerparteilicher Demokratie ausdrücken. Ansonsten gehe es um Steuersenkungen für Bürger:innen, Investitionsanreize für Unternehmen, die Trennung von Kirche und Staat, die Legalisierung gleichgeschlechtlicher Ehen und mehr Transparenz. Die Richtung ist klar. Die einstige Koalition der radikalen Linken (dafür steht das Akronym SYRIZA) soll eine inhaltsleere linksliberale Partei der Mitte, oder wie Kasselakis es selbst ausdrückt, eine „patriotische, moderne und regierende Linke“ werden.

Es ist das Ende der einst in ganz Europa bejubelten Linkspartei Syriza. Doch warum finden die Mitglieder von Syriza diese Karikatur eines quereinsteigenden Businessman überhaupt attraktiv und wie konnte es so weit kommen?

Vorwahlen sind nicht notwendig links

Kasselakis hätte niemals Vorsitzender werden können, wenn Alexis Tsipras nicht 2022 die Direktwahl des Vorsitzenden eingeführt hätte. Es war ein der Medienlogik geschuldeter Versuch, seine eigene Legitimität gegenüber der wiedererstarkenden Sozialdemokratie PASOK zu erhöhen, die kurz davor solche Vorwahlen eingeführt hatte. Schon damals warnte ein Genosse von Syriza, mit dem ich darüber sprach, dass eine Direktwahl gefährlich werden könne. Denn eine Vorwahl würde den Vorsitzenden gegenüber der Partei unabhängig machen. Dass es so weit kommen würde, konnte er wohl auch nicht wissen.

Der konkrete Wahlmodus erlaubte es, unmittelbar bei der ersten Runde der Vorwahlen Mitglied zu werden. Rund 40.000 Menschen – die wohl mit überwältigender Mehrheit für Kasselakis stimmten – taten das auch. Statt denjenigen, die die Arbeit und das Leben der Partei ausmachen, wählten ihn zigtausende passive Parteimitglieder. Nicht die internen Diskussionen und Abläufe der Partei bestimmten den Vorsitzenden, sondern eine von privaten Medien geführte Agenda. Die Ursachen für Kasselakis Erfolg liegen dennoch tiefer als in einem schlecht aufgesetzten Auswahlprozess.

Syrizas Aufstieg in der Schuldenkrise

Infolge der weltweiten Finanzkrise 2008 geriet Griechenland 2010 in eine tiefe Schuldenkrise. Die aufeinanderfolgenden sozialdemokratischen und konservativen Regierungen, gingen gemeinsam mit den eigenen Eliten und jenen der EU ein Bündnis zur Zurichtung der griechischen Gesellschaft ein. Die Länder der Eurozone und der IWF vergaben Überbrückungskredite und verlangten im Gegensatz ein gnadenloses Kürzungsprogramm. Die Souveränität des griechischen Staates wurde dabei weitgehend aufgehoben. Die Kürzungsmaßnahmen wurden von der sogenannten Troika aus EU-Kommission, EZB und IWF diktiert. Ein Viertel der Bevölkerung wurde arbeitslos, etwa die Hälfte lebte bald in Armut. Gehälter, Gewerkschaftsrechte, Krankenversicherungen und Pensionen wurden zusammengekauft und öffentliches Eigentum zu Spottpreisen an internationale Investoren verschleudert. Die griechische Gesellschaft reagierte mit gigantischen Mobilisierungen und Selbstorganisation. 

Syrizas Kapitulation

2015 wurde Syriza, nach Jahren intensiver sozialer Kämpfe, als linksradikale Partei mit wenigen tausend aktiven Mitgliedern in die Regierung gewählt, um der durch die Troika oktroyierte Austeritätspolitik ein Ende zu bereiten. Als klar wurde, dass die Strategie, Widersprüche innerhalb der europäischen Eliten auszunutzen und in Verhandlungen ein Ende des Kürzungsdiktats zu erreichen, nicht aufging, veranlasste Premierminister Tsipras ein Referendum. Am 5. Juli 2015 stimmten mit überwältigender Mehrheit 61 Prozent der Griech:innen mit OXI, mit Nein, zu den Bedingungen der Troika. Die europäischen Eliten machten zuvor deutlich, dass sie so ein Ergebnis nicht akzeptieren würden und es einen Bruch mit den EU-Institutionen bedeuten würde. Dennoch gab die Bevölkerung Syriza ein deutliches Mandat zum Bruch. 

Doch nur zehn Tage später stimmte das griechische Parlament mit der Mehrheit Syrizas für die Annahme des Memorandums, also der Sparauflagen der Troika. Die Regierung kapitulierte. Der organisierte linke Flügel, die Jugendorganisation und unzählige enttäuschte Genoss:innen verließen daraufhin die Partei, die noch bis 2019 an der Regierung blieb. Die herrschende Klasse Europas hatte der Welt den Beweis erbracht: Man kann eine linksradikale Partei in die Regierung wählen und trotzdem ändert sich nichts. Die Hoffnung verwandelte sich in Zynismus – das ist die Quelle von Kasselakis Erfolg. 

Syrizas langer Abstieg

Obwohl Syriza noch bis 2019 an der Regierung blieb, konnte sie im engen Rahmen der Troika kaum Verbesserungen für die breite Mehrheit durchsetzen. Syriza wurde von einer Partei organisierter und in der Gesellschaft verankerter Aktivist:innen zu einer Partei mit 170.000 Mitgliedern, die weder aktiv sind, noch in der Gesellschaft verankert. Alexis Tsipras versuchte die Partei zunehmend in die Mitte zu führen. 2018 begann er an Treffen der europäischen Sozialdemokratie teilzunehmen, 2020 wurde Syriza noch die Abkürzung „PS“ beigefügt, die für „Progressive Allianz“ steht und die neue Orientierung festschreiben sollte.

Den Abstieg der Partei konnte das nicht stoppen. Bei den vergangenen Wahlen 2023 erreichte Syriza nur mehr 18 Prozent (2015 waren es noch 36 Prozent), während die alte Sozialdemokratie PASOK wieder bei 12 Prozent stand. Obwohl die rechtsautoritäre Regierung Mitsotakis extrem unpopulär ist, verstand es Syriza nicht, eine glaubhafte Alternative zu präsentieren. Tsipras, der die Partei mehr als zehn Jahre lang geführt hatte, trat zurück und ermöglichte damit die jetzigen Vorwahlen. 

Ein Lehrstück, wie man es nicht macht

Die letzten acht Jahre sind ein Lehrstück darin, wie man es nicht macht. Statt inaktiven Mitgliedern braucht es organisierte Aktivist:innen, statt Direktwahl verantwortliche Strukturen und statt vermeintlichem Verantwortungsgefühl Mut zum Bruch, wenn sich die Gelegenheit bietet. 

Wie es jetzt weitergeht ist noch unklar. Was werden die Syriza-Funktionär:innen machen, die bis zuletzt auf eine linke Kurskorrektur hofften? Wird Syriza, die bisher eine der stärksten Fraktionen der europäischen Linken war, weiter unter diesem Dach antreten? So, oder so, mit der Wahl Kasselakis findet eine der schwersten Niederlagen der europäischen Linken, die schon 2015 begonnen hat, ihren Abschluss und ihren Ausdruck. Zu Ende ist damit auch endgültig jener Zyklus sozialer Kämpfe der 2011 mit dem arabischen Frühling, Occupy und den Platzbesetzungen in Südeuropa begann und seinen Ausdruck in Parteien wie Syriza und Podemos fand. 

Die Menschen kämpfen weiter

Um nicht nur negativ zu enden: Während Syriza mit der eigenen Abwicklung beschäftigt ist, kämpfen Jugend und Arbeiter:innen weiter gegen die Angriffe der Regierung. Mit der Kommunistischen Partei (KKE) gibt es immer noch eine linke Partei im Parlament, auch wenn sie oft sehr orthodox und sektiererisch agiert. Die kommunistische Gewerkschaft PAME organisiert nicht nur gewaltige Streiks, gegen die Aushöhlung des Arbeitsrechts, sondern aktuell auch praktische Solidarität für die unzähligen Menschen, die von der Flutkatastrophe in Thessalien betroffen sind. Studierende verhindern bis heute die Einführung einer Campus-Polizei und Hunderttausende gingen dieses Frühjahr auf die Straße, als ein Zug der privatisierten und ausgehungerten Bahngesellschaft kollidierte und unzähligen Menschen das Leben kostete.

Die Situation der Menschen in Griechenland verlangt von ihnen nach wie vor zu kämpfen und die Erfahrungen praktischer Solidarität aus den Jahren der Eurokrise sind immer noch lebendig. Bis das alles einen klaren politisch organisierten Ausdruck findet, wird es wohl noch dauern. Kasselakis macht jedenfalls klar, dass es den Ausdruck dringend braucht. 

Foto: Syriza

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