Als Syriza kapitulierte: Wie 2015 die Hoffnung in Europa begraben wurde

Im Juli 2015 sagten 61 Prozent der GriechInnen OXI, also Nein. Sie stimmten gegen die Verarmungspolitik, die ihnen jahrelang von den GläubigerInnen des Staats auferlegt worden war. Es war der Höhepunkt eines großen politischen Konflikts, in dem die Linkspartei Syriza eine Schlüsselrolle spielte. Der Umgang mit dem OXI wirkt bis heute in ganz Europa nach. An diesem Moment, meint mosaik-Redakteur Martin Konecny, hat die hoffnungslose Lage, in der wir uns heute befinden, ihren Ursprung.

Dem Referendum vorausgegangen war knapp ein halbes Jahr Amtszeit der neuen Syriza-Regierung. Mit deutlicher Mehrheit hatten die Menschen die linke Partei unter Alexis Tsipras gewählt. Sie hatten sich damit für einen radikalen Kurswechsel und die Hoffnung auf eine andere Politik entschieden.

Der Weg zum Referendum

Die Syriza-Regierung hatte sich in monatelangen Verhandlungen mit der Eurogruppe aufgerieben. Die EU-Institutionen und besonders die deutsche Regierung machten klar, dass es zur brutalen Kürzungspolitik keine Alternative geben dürfe. Während der Verhandlungen setzte eine zunehmende Kapitalflucht ein, die erst kurz vor dem überraschend angekündigten Referendum durch Kapitalverkehrskontrollen gestoppt wurde. Mit dem Referendum stand plötzlich ein Bruch mit der Eurozone im Raum – unter viel schlechteren Bedingungen als noch im Jänner, als die Regierung ihr Amt angetreten hatte.

Im Nachhinein ist nicht mehr so klar, ob Tsipras das OXI wirklich wollte oder er nicht eher nach einem Mandat für die Kapitulation suchte. Was auch immer die Regierung damit bezweckte, die Bevölkerung reagierte mit einer beeindruckenden Mobilisierung. Zwei Tage vor dem Referendum fluteten hunderttausende Menschen, die für ein OXI eintraten, den Platz vor dem Parlament. Obwohl die europäischen Eliten durch die Bank klar machten, dass ein solches Ergebnis den Bruch mit der Eurozone, ja vielleicht sogar mit der EU bedeuten würde, stimmten die Menschen bei hoher Wahlbeteiligung mit überwältigender Mehrheit mit Nein.

Der Anfang vom Ende

Das Ergebnis der Abstimmung war ein eindeutiges Mandat für die linke Regierung, den Bruch herbeizuführen und in eine ungewisse, aber andere Zukunft aufzubrechen. Für einen kurzen Moment im Juli 2015 sahen soziale Bewegungen in Europa die Möglichkeit einer sozialen Umwälzung am Horizont. Die Regierung nahm dieses Mandat jedoch nicht an. Syriza unterzeichnete wenig später ein Kapitulationsabkommen.

Griechenland blieb weiter unter Aufsicht der Troika und verpflichtete sich auf Jahrzehnte zur Kürzungspolitik. Syriza setzte die desaströse Politik vergangener Regierungen fort, erhöhte Mehrwertsteuern, kürzte Pensionen und privatisierte öffentliches Eigentum. Dass die Regierung hier und da kleine Spielräume für soziale Maßnahmen nutzte, ändert am Ausbleiben des Politikwechsels nichts.

Ende eines politischen Zyklus

Es ist müßig darüber zu spekulieren, wie es anders hätte ausgehen können. Gut möglich, dass Griechenland zu diesem Zeitpunkt wirtschaftlich schon so ausgeblutet und international isoliert war, dass ein Euro-Austritt in einer noch schlimmeren wirtschaftlichen Katastrophe geendet hätte. Ebenso gut möglich, dass Militär und tiefer Staat einem revolutionären Experiment rasch ein grausames Ende bereitet hätten.

Was heute jedoch entscheidend ist: Im Sommer 2015 ging ein politischer Zyklus zu Ende, der seinen Ursprung in der Weltwirtschaftskrise 2008 hatte. Trotz und wegen der Krise war diese Phase von der Hoffnung geprägt, dass ein Ende des Neoliberalismus möglich ist. Vor allem seit den Platzbesetzungen 2011 war das ein zentrales dynamisches Moment in Europa.

Die Niederlage einer Strategie

In Griechenland endete damals die politische Hoffnung der Linken. Nicht als abstraktes Prinzip, sondern als konkreter strategischer Vorschlag. Die Konzeption war: Mit Unterstützung unabhängiger sozialer Massenbewegungen werden linke Regierungen gewählt. Die linken Regierungen nützen Widersprüche in den Eliten und beenden in taktischen Bündnissen mit Teilen der Sozialdemokratie die Kürzungspolitik. Sie verändern dabei die Europäische Union und machen nicht nur für die Länder des europäischen Südens eine andere, zumindest keynesianische Wirtschaftspolitik und schließlich sogar die soziale Transformation möglich.

Doch es zeigte sich: Die Widersprüche in den Eliten waren nicht so groß und die meisten SozialdemokratInnen nicht an einem Ende der Kürzungspolitik interessiert. Diese Strategie ist gescheitert. Sie erscheint daher heute auch niemandem mehr als realistisch. Das hinterlässt große Ratlosigkeit.

Wenn es nicht einmal mehr ausreicht, eine Partei in die Regierung zu wählen die sich „Koalition der radikalen Linken“ nennt, um eine andere Politik zu bekommen, wie ist dann soziale Veränderung überhaupt möglich?

Wessen Schuld?

Das Ende der Hoffnung hat sicher auch mit dem fehlenden Mut zu tun, den Bruch nicht zu wagen. Aber die griechische Linke trägt nicht die Schuld an der Misere der gesamten europäischen Linken. Es war nicht zuletzt die europäische Linke, die keinen effektiven Weg fand, Solidarität mit Syriza zu leisten, sie damit auch nicht gerade ermutigte, den Bruch zu suchen.

Ganz sicher ist es aber die Schuld der liberalen europäischen Eliten, allen voran der deutschen Bundesregierung und Kanzlerin Merkel, die heute selbst für manche Linke zum letzten Rettungsanker der Zivilisation mutiert. Sie waren nicht einmal zu kleinen Zugeständnissen bereit und taten alles, um die Hoffnung im Keim zu ersticken.

Der Beginn der Hoffnungslosigkeit

Die Folgen dieser Hoffnungslosigkeit erleben wir seitdem. Nur ein Jahr später wagte ein anderes Land den Bruch mit der EU. Geographisch wie politisch fand er am entgegengesetzten Ende statt. Der Brexit machte deutlich, wie sich die Vorzeichen in Europa innerhalb eines knappen Jahres geändert hatten. Die rechten BefürworterInnen des Brexit wollten nicht raus aus der EU, weil sie das neoliberale Zwangskorsett ablehnten, sondern weil sie die durch die EU ermöglichte Migration endlich beenden wollten.

Zwischen dem OXI und dem Brexit lag auch der kurze Sommer der Migration. Hunderttausende ließen sich nicht mehr von einem rassistischen Grenzregime aufhalten. Sie überwanden Zäune und das Dublin-System. Auch hier in Österreich hießen viele diese Bewegung der Flüchtenden willkommen und leisteten praktische Solidarität. Eine politische Perspektive, wie wir unsere Gesellschaften für alle besser machen, fehlte aber. Und so drehte die Stimmung recht schnell.

„Verantwortungsvolle“ Linke, rücksichtslose Rechte

Die Rechten haben, das zeigt sich seit dem Brexit, jene Rücksichtslosigkeit, jene Bereitschaft zu Brüchen, zu Regelverletzungen und zur Macht, die der Linken nicht nur in Griechenland gefehlt hat. Ein kurzer Blick auf den Umbau des österreichischen Staates durch Schwarz-Blau, die erpresserischen Taktiken von Salvini und Seehofer reichen, um das zu bestätigen. Die Rechte ist bereit, für ihre politischen Ziele die Stabilität des Status Quo aufs Spiel zu setzen. Die Linke versucht hingegen „verantwortungsvoll“ zu sein – und stabilisiert damit ein politisches und ökonomisches System, das als einzige scheinbare Opposition schließlich die Salvinis und Kurz’ hervorbringt.

Auf die Niederlage der Linken folgte der politische Rechtsrutsch. Manchmal möchte man den Liberalen und SozialdemokratInnen, denen jetzt Angst und Bange wird, sagen: „Selber Schuld, eure Politik hat uns erst in die Situation gebracht.“ Das stimmt zwar, es hilft uns aber nicht weiter. Denn die Auswirkungen des Rechtsrutsches sind höchst real. Sie töten an den Grenzen und schließen immer größere Teile der Bevölkerung, allen voran MuslimInnen und Armutsbetroffene, aus der Gesellschaft aus. Und sie nehmen uns die Perspektive, wie wir jemals eine andere Gesellschaft möglich machen.

Es gibt keine Abkürzungen

Da niemand mehr glaubhaft Hoffnung verbreitet, wirkt das Versprechen der Rechten so wunderbar. Sie behaupten nicht, dass irgendetwas besser wird. Aber sie versprechen, zumindest einen Teil dessen, was noch da ist, zu schützen. Schützen – nicht vor dem Zugriff des Kapitals, sondern vor denen, die noch kommen wollen, die Opfer der imperialen Lebensweise sind und ein bisschen Wohlstand und Sicherheit suchen.

Auf das OXI folgte die Niederlage, auf die Niederlage folgte die Hoffnungslosigkeit. Sie wird nicht einfach verschwinden. Denn die linken Entwürfe und Strategien sind erst einmal widerlegt. Wir brauchen sowohl neue Utopien als auch glaubhafte Wege, wie wir sie verwirklichen können.

Das wird nicht leicht und erfordert harte Arbeit und Selbstkritik. Und währenddessen müssen wir noch jene Teile der Gesellschaft zusammenhalten und organisieren, die noch nicht vom Rechtsrutsch weggerissen wurden. Mit diesen Resten müssen wir von vorne beginnen. Es gibt keine Abkürzungen.

Autor

  • Martin Konecny

    Martin Konecny ist Bildungsreferent der KPÖ. Er hat jahrelang für das zivilgesellschaftliche Netzwerk „Seattle to Brussels“ zu europäischer Handelspolitik gearbeitet.

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