Gestern haben linke türkische und kurdische Gruppen die Parteizentrale der SPÖ für kurze Zeit besetzt. Sie wollten damit auf die Menschenrechtsverletzungen in der kurdischen Stadt Cizre aufmerksam machen und ein konsequenteres Vorgehen von dem sozialdemokratischen Bundeskanzler einfordern. mosaik-Redakteurin Hanna Lichtenberger sprach mit dem Politikwissenschafter und Stellvertretenden Co-Vorsitzenden des Rates der Kurdischen Gesellschaft in Österreich Mevlüt Kücükyasar am Rande der ebenfalls gestern stattgefundenen Demonstration über die aktuelle Situation in Cizre und über den fatalen Deal der Europäischen Union mit der AKP-Regierung.
Hanna: Warum seid ihr auf die Straße gegangen?
Mevlüt: Die gestrige Demonstration fand statt, weil in der Stadt Cizre/Cizîr seit 18 Tagen ZivilistInnen, Verletze und PolitikerInnen in einem Keller eingesperrt waren. Sechs Menschen sind bis vorgestern an ihren Verletzungen in diesem Keller verstorben, sieben oder acht Personen waren schwer verletzt und brauchten dringend medizinische Versorgung. Sie und weitere Personen in diesem Keller hatten kaum Wasser oder Nahrung. Gestern verlautbarte der türkische Staatssender, dass 30 Personen in eben diesem Keller ermordet wurden – sie haben sie als „Terroristen“ bezeichnet. Für die türkische Regierung sind praktisch alle Kurdinnen und Kurden TerroristInnen. Das war auch ein Massaker der türkischen Streitkräfte an ZivilistInnen, denn es sind längst nicht nur kämpfenden Jugendliche die unter der Repression und der Gewalt leiden.
Es fehlen aber auch verlässliche Quellen zur Situation in Cizre, es werden nämlich nach wie vor keine Medien in die Stadt gelassen. Ein kurdischer Journalist hat gesagt, es sei leichter Informationen aus Aleppo oder anderen syrischen Städten zu bekommen, als aus dem türkischen Cizre. Der Angriff von gestern Abend hat uns bewegt, auf die Straße zu gehen und unsere Solidarität zu zeigen.
Hanna: Seit wann hat sich die Situation in den kurdischen Gebieten der Türkei so zugespitzt?
Mevlüt: Der Anstieg an Gewalt in der Türkei passiert seit den Wahlen am 7. Juni des vergangenen Jahres. Die HDP, ein Bündnis bestehend aus der kurdischen Freiheitsbewegung, türkischen Linken, autonomen Frauenorganisationen und ökologischen Bewegungen hatte bei dieser Wahl rund 13 Prozent der Stimmen erhalten. Sie war mit 80 Abgeordnete im Parlament vertreten. Als Reaktion auf dieses Wahlergebnis setze die AKP-Regierung alle möglichen Mittel ein, um gegen Kurdinnen und Kurden sowie ihre Verbündeten vorzugehen. Es gab in der Türkei in den vergangenen Monaten immer wieder Anschläge des IS, bei denen kurdische Abgeordnete und andere PolitikerInnen die Vermutung hegen, dass sie mit der Untersützung oder jedenfalls mit Duldung der AKP verübt wurden.
Die Politik der AKP-Regierung hat dazu geführt, dass kurdische Städte ihre Sicherheit der AKP-Regierung nicht mehr anvertrauen, sondern die Selbstverwaltung ausgerufen haben. In den ersten Städten, darunter etwa Sur/Sûr (einem Stadtteil der kurdischen Stadt Diyarbakır/Amed, Anm.) und Cizre wurden schon im August Selbstverteidungskräfte gebildet, viele Städte sind auf die Eskalation vorbereitet.
Die Zerstörung dieser gelebten Selbstverwaltung und -verteidung war sicher ein Ziel der Belagerung durch die türkischen Sicherheitskräfte in vielen dieser Städte. Ein weiteres Ziel war sicher auch, Kurdinnen und Kurden aus der Region zu vertreiben. Das ist auch gelungen. Schätzungen gehen davon aus, dass 200 000 bis 300 000 Menschen aus der Region geflüchtet sind. Sie halten sich zur Zeit noch bei ihren Familien, Freundinnen und Freunden in der KurdInnenregion auf. Sollten die Angriffe anhalten, werden diese Menschen in den Westen der Türkei oder nach Europa flüchten müssen.
Das ist strategisch wichtig für die Türkei, weil die Städte, die jetzt belagert und bombadiert werden, sind jene Städte, in denen die HDP breiten gesellschaftlichen Rückhalt hat. Dieser drückt sich etwa bei 80-90 Prozent Stimmenanteil bei Wahlen aus. Die Städte sind also bewusst gewählt.
Hanna: Was steckt hinter dieser Vertreibung von Menschen aus der Region?
Mevlüt: Wir müssen die Geschehnisse und Angriffe von Sonntag auch vor dem Hintergrund einer Rede des türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu sehen, die er kürzlich hielt. Mit der Republikgründung 1925 gab es in der Türkei den Plan, Minderheiten entweder aus dem Land zu bringen oder größere Minderheiten mit Assimilationsprogrammen zwar im Land zu lassen, aber umzusiedeln. Dieser Plan ist nun wieder auf der politischen Tagesordnung der Türkei. Die Anschläge müssen vor diesem Hintergrund der Vertreibung verstanden werden.
Große Teile der Stadt Cizre sind dem Erdboden gleichgemacht worden. Viele von uns teilen die Einschätzung, dass dies der erste Schritt einer Vertreibungs- und Umsiedlungspolitik ist. Die AKP hat auch die Pläne veröffentlicht, jesidische Städte neu aufzubauen. Die Befürchtung ist, dass dort Menschen aus der Region um Cizre angesiedelt werden sollen. So würde die Politik aus dem Jahr 1925 im 21. Jahrhundert wiederholt und fortgesetzt werden.
Hanna: Angela Merkel war gestern erneut in Ankara, die EU hat mit der Türkei einen Millarden-Deal abgeschlossen um syrische Flüchtlinge daran zu hindern aus der Türkei weiter nach Europa zu fliehen. Die Beziehung zwischen der EU und der Türkei scheint so gut zu sein, wie lange nicht mehr. Wie erklärst Du dir das vor dem Hintergrund der enormen Repression gegen Kurdinnen und Kurden?
Mevlüt: Die EU ist mit der Flüchtlingsfrage sichtlich überfordert. Mit ihrer neoliberalen Wettbewerbsausrichtung scheitert sie unter anderem auch in dieser Frage. Jedes Land will die geringsten Zahlen an Schutzsuchenden aufnehmen. Da gibt es kein Land mit solidarischem Gedanken gegenüber den Flüchtlingen. Die EU macht sich zur Bittstellerin bei der Türkei – einer Türkei, die den Terror gegen Kurdinnen und Kurden führt. Die EU sieht die Türkei als sicheren Drittstaat an und will, dass sie Flüchtlinge dort bleiben und nicht weiter nach Europa fliehen.
Die Türkei nimmt die Flüchtlinge nicht aus humanitären oder menschenrechtlichen Gründen auf und auch nicht nur deshalb, weil die EU ihr dafür 3 Milliarden Euro gibt. Die EU verschließt nun die Augen vor den Menschenrechtsverletzungen an der kurdischen Bevölkerung der Türkei. Bis jetzt hat sich keine Regierungschefin, kein Regierungschef dazu aufrappeln können, den Staatsterror gegen KurdInnen öffentlich zu kritisieren und Konsequenzen dafür zu fordern.
Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sich bisher nicht dazu geäußert, dass Kurdinnen und Kurden in der Türkei vertrieben oder abgeschlachtet werden. Die EU schaut dabei nicht nur zu, sie überweist der Türkei auch noch 3 Milliarden Euro, die sogar in Waffen investiert werden könnten.
Hanna: Was kann die österreichische Linke machen?
Mevlüt: Die Tatsache, dass so extrem gegen die kurdische Bevölkerung vorgegangen wird, hängt nicht nur mit der Frage der Ethnizität zusammen. Die Repression ist auch mit der politischen Bewegung zu erklären: in der kurdischen Gesellschaft spielt die Gleichberechtigung von Mann und Frau eine große Rolle. Es ist auch eine politische Bewegung, die sich gegen Herrschaft und Hierarchien in einem Staat widersetzt – eben eine linke Bewegung, die auch für andere soziale Bewegungen in der Türkei ein Referenzpunkt ist. Das sind alles Gründe, warum die HDP, die KurdInnen, die anderen kurdischen Parteien zur Zielscheibe der imperalistischen Politik Erdogans geworden ist.
Der Kampf gegen so eine imperalistische Politik kann nicht nur punktuell oder regional passieren, sondern muss global geführt werden. Hier müssen wir als österreichische und europäische Linke ansetzen, nicht nur punktuell, sondern gemeinsam und konsequent.
Hanna: Gestern haben einige Kurdinnen und Kurden die Parteizentrale der SPÖ in der Löwelstraße besetzt. Mit welcher Forderung sind sie an die SPÖ herangetreten und was fordert die Feykom von der SPÖ?
Mevlüt: Die SPÖ ist in der Regierung, sie führt diese sogar an und tut nicht genug gegen den Staatsterror der Türkei. Es gibt auf der Ebene des Parlamentes von Andreas Schieder Presseaussendungen, in denen die Menschenrechtsverletzungen der Türkei kritisiert werden. Für die Feykom ist das natürlich begrüßenswert, aber der Bundeskanzler hat sich bisher dazu nicht geäußert. Wir sind nun aber an einem Punkt angelangt, wo es der Türkei egal ist, was die Zivilgesellschaft sagt. Es ist wichitg, dass sich endlich SpitzenpolitikerInnen aus ganz Europa äußern. Aber es ist an uns, sie dazu zu bewegen.
Mevlüt Kücükyasar ist Politikwissenschaftler, aktiv bei der FEYKOM (Rat der Kurdischen Gesellschaft in Österreich) und schreibt u.a. für den Blog Arbeit & Wirtschaft.