Bei der Parlamentswahl in der Türkei am 7. Juni liegt die Wahl von 55 Millionen Menschen zwischen der autoritären Herrschaft der AKP, einer ideenlosen und erschöpften Opposition der kemalistischen CHP und der nationalistischen MHP sowie der neuen linken Bewegung unter dem Dach der pro-kurdischen HDP.
Seit der Republikgründung war der Kemalismus die offizielle Staatsdoktrin in der Türkei. Eine völkisch-nationalistische Ideologie, die mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln den neu entstandenen Nationalstaat ethnisch, religiös und ideologisch zu vereinheitlichen versuchte. Der Kemalismus war bis Anfang des 21. Jahrhunderts in allen staatlichen Institutionen, vor allem bei der Exekutive und im Justizsystem, stark verankert. Ab 2001 wurde der Kemalismus allmählich von der islamistisch-konservativen und wirtschaftsliberalen AKP abgelöst. Es wurden Parteien und Personen ausgetauscht und die bestehenden Strukturen der eigenen Weltanschauung angepasst, wobei die Staatsdoktrin fortbestand. Die „Eine Nation – eine Fahne – ein Vaterland – ein Staat“-Logik wurde weitergeführt.
Gegen diese Staatsdoktrin formierten sich seit jeher gesellschaftliche Gegenbewegungen. KurdInnen, ArmenierInnen, AlevitInnen, MuslimInnen, YezidInnen, ChristInnen, SozialistInnen, Frauen, LGBT-Personen, Umwelt- und MenschenrechtsaktivistInnen versuchen, oft unabhängig voneinander und manchmal sogar im Wettstreit miteinander, ihre Interessen durchzusetzen. Oft wurden diese Bewegungen im Keim erstickt, ihre RepräsentantInnen verfolgt. Geriet die Situation einmal aus den Fugen, antwortete der Staat mit einem Militärputsch.
Neue Hoffnungen für die Opposition
Der 2012 einberufene „Demokratische Kongress der Völker“, zu dem alle fortschrittlichen, linken und demokratischen Kräfte eingeladen wurden, bietet neue Hoffnungen für die Opposition in der Türkei. Die Demokratische Partei der Völker (HDP) geht aus dem Kongress hervor und hat binnen kürzester Zeit bei den Lokal- und Präsidentschaftswahlen großen Zulauf erfahren und wichtige Erfolge verzeichnet. Die HDP ist ein breit getragenes Bündnis aus mehr als 50 politischen Parteien, NGOs und gesellschaftlichen Initiativen. Sie verspricht den Menschen ein würdiges Leben ohne Unterdrückung, Ausbeutung und Ausgrenzung.
Die HDP als Gegenbewegung zum politischen Establishment spiegelt die ethnische, religiöse, soziale und kulturelle Vielfalt in der Türkei wider. Leyla Zana: kurdische Politikerin und Menschenrechtsaktivistin, Preisträgerin des Sacharow und Bruno Kreisky Preises; Ertuğrul Kürkçü: türkischer Sozialist, Journalist, Schriftsteller und Aktivist der 68er-Bewegung; Garo Paylan: armenischer Lehrer und Politiker; Hüda Kaya: Islamforscherin, Aktivistin und Autorin; Barış Sulu: langjähriger LGBT-Aktivist in der Türkei; Filor Uluk Benli: Umweltaktivistin; Feleknas Uca: yezidische Kurdin, ehemalige Europaabgeordnete für Die Linke. Dies sind nur sieben von insgesamt 550 KandidatInnen der HDP.
All diese Personen sind VertreterInnen von verfolgten, unterdrückten und an den Rand gedrängten Gruppen, die gemeinsam ihre Interessen umzusetzen versuchen. Allein schon indem sie dieses breite Bündnis gebildet hat, hat die HDP rote Linien überschritten und viele Tabus in der Türkei gebrochen. Sie hat die Ausgegrenzten zusammengebracht, um der türkischen “Teile und herrsche“-Politik ein Ende zu setzen. Die zentralen politischen Ziele der HDP bergen die Forderungen der Bündnismitglieder in sich und können wie folgt aufgelistet werden.
Frauenpolitik
Frauen sind auch in der Türkei die am meisten unterdrückte gesellschaftliche Gruppe, die vom öffentlichen Leben fast ausgeschlossen ist. Kinder, Küche, Religion lautet die Formel der regierenden AKP für Frauen. Die HDP versucht das zu ändern: so werden Spitzenpositionen in der Partei, wie zum Beispiel BürgermeisterInnen, immer von einer Frau und einem Mann bekleidet.
Kommunale Selbstverwaltung und Dezentralisierung
Die türkische Staatsform kann als ein äußerst starker Zentralstaat bezeichnet werden. Jede noch so kleine politische Entscheidung auf lokaler Ebene geht nicht ohne die Zustimmung der von Ankara ernannten Gouverneure (Vali). Diese Staatsform steht im Gegensatz zur ethnischen, religiösen, wirtschaftlichen und politischen Vielfalt der Türkei. Die HDP hat als Alternative das Gesellschaftsmodell der Demokratischen Autonomie entwickelt: der Einfluss des Zentralstaates soll begrenzt und im Gegenzug die lokalen und regionalen Selbstverwaltungen gestärkt werden. Der Aufbau einer demokratischen, ökologischen und gleichberechtigten Gesellschaft ist das Ziel der HDP.
Ethnische und religiöse Minderheiten
Neben der großen Gruppe der KurdInnen und AlevitInnen leben dutzende weitere ethnische und religiöse Minderheiten in der Türkei, die keinerlei Minderheitenrechte genießen. Die „Eine Nation – eine Fahne – ein Vaterland – ein Staat“-Logik lässt keine Vielfalt zu. Die Forderung der HDP ist eine rechtliche Anerkennung von Minderheiten, Einführung des muttersprachlichen Unterrichts und die Anerkennung von Räumen zur Religionsausübung für alle religiösen Gruppen.
Arbeit, Brot und Freiheit
Ein Ergebnis des neoliberalen Wirtschaftsmodells der AKP-Regierung ist nicht Wohlstand für alle, sondern vielmehr eine sich immer weiter öffnende Schere zwischen Arm und Reich. Hunger, Armut und Arbeitslosigkeit prägen das Bild der Türkei. Die steigende Anzahl der Arbeitsunfälle, zuletzt die Mienenopfer in Soma, zeigen das wahre Gesicht des türkischen Turbokapitalismus nach AKP-Art. Im Gegensatz dazu fordert die HDP in ihrem Wahlprogramm unter anderem die Verdoppelung des Mindestlohns, eine Erhöhung der Pensionen, effektive Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und eine Arbeitszeitverkürzung auf 35 Wochenstunden bei vollem Lohnausgleich
Die Wahlhürde von zehn Prozent bei den türkischen Parlamentswahlen, eine der höchsten weltweit, ist antidemokratisch. Das Brechen der Zehnprozenthürde wäre der erste Schritt zu einer demokratischeren Türkei. Die Türkei steht am Scheideweg – falls es die HDP über die Zehnprozenthürde ins Parlament schafft, wird dies große Änderungen in der politischen Landschaft mit sich bringen. Die Unterdrückten und Ausgebeuteten hätten endlich die Chance, vom Rand der Gesellschaft in die Mitte zu rücken. Der Einzug der HDP würde zudem bedeuten, dass die AKP nicht die notwendige Mehrheit für eine Verfassungsänderung erhält. Somit könnte sie das Präsidialsystem nicht mehr einführen, das mehr Macht für Erdogan bedeuten würde.
Die HDP könnte die Erfolgsserie der AKP beenden und einen großen politischen Wandel in der Türkei vorantreiben.
Mevlüt Kücükyasar ist Politikwissenschaftler, aktiv bei der FEYKOM (Rat der Kurdischen Gesellschaft in Österreich) und schreibt u.a. für den Blog Arbeit & Wirtschaft.