Präsidentschaftswahl in Chile: Der Kampf gegen Pinochets Erbe

In Chile gibt es kurz vor Weihnachten eine Stichwahl zwischen dem rechtsextremen Kandidaten José Antonio Kast und seinem linken Kontrahenten Gabriel Boric. Der Ausgang der Wahl wird nicht nur die politische Ausrichtung, sondern auch die neue Verfassung beeinflussen, schreibt Aaron Tauss.

Die erste Runde der Präsidentschaftswahlen in Chile vergangenen Sonntag stand im Zeichen der Polarisierung. Der rechtsextreme José Antonio Kast von der Republikanischen Partei konnte mit 28 Prozent die meisten Stimmen hinter sich versammeln. Auf dem zweiten Platz landete mit 26 Prozent der ehemalige Studierendenaktivist und Abgeordnete für die linke Koalition Frente Amplio, Gabriel Boric. Kurz vor Weihnachten kommt es nun zur Stichwahl zwischen Kast und Boric. Die Auseinandersetzung ist nicht nur ein Abbild einer zerrissenen Gesellschaft, sondern auch einer tiefen politischen Vertrauenskrise. Beide Kandidaten sind Mitglieder von Parteien, die noch an keiner Regierung beteiligt waren. Seit dem Ende der Militärdiktatur von Augusto Pinochet (1973-1990) waren in Chile ausschließlich Mitte-Rechts- und Mitte-Links-Regierungen an der Macht.

Noch in der Wahlnacht kündigte Kast an, dass er bei einem Sieg wieder für  „Frieden, Ordnung, Fortschritt und Freiheit“ in Chile sorgen würde. Seinen Kontrahenten machte er für „Instabilität, Hass, Intoleranz und Zerstörung“ verantwortlich. Seine Wahl könnte außerdem die Umsetzung der neuen, progressiven Verfassung erschweren. Boric hingegen betonte, an seiner Reformagenda, die auf strukturelle Veränderungen und die Verbesserung der Lebensumstände der Bevölkerung abzielt, festhalten zu wollen.

Die polarisierte Wahl

Der ultrakonservative Kast ist ein altgedienter Politiker und seit 1996 Mitglied des chilenischen Kongresses. Er gilt als Anhänger Pinochets und dessen neoliberaler Wirtschaftspolitik. Zudem bewundert er Donald Trump und den rechtsextremen brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro. Bei seinen Auftritten setzt Kast auf populistische Rhetorik und hetzt gegen „Kriminelle“, „Fanatiker der Gender-Ideologie“ und Einwanderer. Er verspricht, die Migration durch den Bau eines Grabens entlang der gesamten Landesgrenze zu stoppen. Die gleichgeschlechtliche Ehe und Abtreibungen lehnt er strikt ab.

Der 35-jährige Boric hingegen ist der Kandidat des Linksbündnisses Apruebo Dignidad, dem neben der Frente Amplio auch die Kommunistische Partei sowie feministische und ökologische Gruppierungen angehören. Er ist Teil einer chilenischen Generation, die sich im letzten Jahrzehnt gegen Neoliberalismus und Patriarchat erhoben hat. Im Wahlkampf hat sich Boric für mehr soziale Gerechtigkeit, eine Umverteilung des Reichtums und eine aktivere wirtschaftliche Rolle des Staates stark gemacht. Konkret plädiert er für eine solidarische Altersversorgung, ein einheitliches und öffentliches Gesundheitssystem, eine Reform des Bildungswesens und die Anerkennung der Rechte indigener Völker. Die Polarisierung der beiden Kandidaten hat ihren Ursprung in der Geschichte und der daraus resultierenden wirtschaftlichen Situation Chiles.

Pinochets Erbe

Chile ist eines der reichsten Länder Lateinamerikas, gleichzeitig kämpft es mit extremer sozialer Ungleichheit. Weite Teile der Bevölkerung arbeiten unter prekären Bedingungen und sind angesichts hoher Lebenserhaltungskosten, privatisierter Dienstleistungen und niedriger Löhne verschuldet. Die sozialen Unterscheide stehen in einem engen Zusammen mit Chiles neoliberaler Verfassung, die noch aus der Zeit der Pinochet-Diktatur stammt.

Darin wird die soziale und wirtschaftliche Rolle des Staats auf ein Minimum reduziert. Gleichzeitig soll die Logik des „freien“ Markts alle Lebensbereiche durchdringen. Noch unter Pinochet wurden Pensionen, Bildung, Gesundheit, Energie, Telekommunikation und Infrastruktur sowie große Teile natürlicher Güter privatisiert und der kapitalistischen Logik untergeordnet. In den Jahrzehnten nach dem Übergang wurde das vom Pinochet-Regime überlassene System von Mitte-Links und Mitte-Rechts ohne grundlegende Änderungen weiterverwaltet. In dieser Zeit erlebte Chile ein immenses Wirtschaftswachstum. Von diesem Reichtum profitierte aber vor allem eine Minderheit, während die arbeitende Bevölkerung mit immer größerer wirtschaftlicher Unsicherheit konfrontiert war.

Oktober-Rebellion

Die zunehmenden sozio-ökonomischen Spannungen führten im Herbst 2019 zu Massenprotesten. Diese richteten sich zunächst gegen eine Erhöhung der U-Bahn-Preise in der Hauptstadt Santiago. Innerhalb weniger Tage weiteten sie sich zu einer landesweiten Rebellion aus. Millionen von Chilenen und Chileninnen gingen gegen die neoliberale Politik der vergangenen drei Jahrzehnte, die daraus resultierende soziale Ungleichheit und antidemokratische Strukturen auf die Straße. Die amtierende Piñera-Regierung reagierte mit extremer Gewalt. Sie rief zum ersten Mal seit der Pinochet-Diktatur die Armee auf die Straße und verhängte einen Ausnahmezustand. Es kam in der Folge wiederholt zu schweren Menschenrechtsverletzungen: Mehr als 30 Menschen starben. 3.700 wurden verletzt und über 10.000 verhaftet.

Neue Verfassung

Die anhaltenden Proteste führten dazu, dass die Regierung Mitte November einlenkte und die Weichen für ein Referendum über eine neue Verfassung stellte. Im Oktober 2020 stimmten knapp 80 Prozent der chilenischen Bevölkerung für ein neues Grundgesetz. Ausgearbeitet wird die Verfassung seit Juli dieses Jahres durch eine verfassungsgebende Versammlung, die sich geschlechterparitätisch zusammensetzt. Mehr als die Hälfte der 155 gewählten Mitglieder sind unabhängige Kandidat*innen und gehören keiner politischen Partei an.

Linke Bündnisse stellen mit Vertreter*innen der Protestbewegung, feministischen Kollektiven, Umweltgruppen und indigenen Gemeinschaften die Mehrheit in der verfassungsgebenden Versammlung. Gemeinsam werden sie in den kommenden Monaten um soziale Grundrechte, eine Abkehr vom Extraktivismus (der Ausbeutung von Rohstoffen), die Anerkennung der Rechte der Indigenen und die Überwindung des neoliberalen Wirtschaftsmodells kämpfen. Chiles Rechte, einschließlich der Partei von Piñera, verfehlte hingegen ihr Ziel, ein Drittel der Sitze zu gewinnen. So wollte sie größere Verfassungsänderungen verhindern. Da in Chile Gesetzesinitiativen vom Präsidenten eingeleitet werden, könnte ein Wahlsieg von Kast den verfassunggebenden Prozess und die Umsetzung des neuen Grundgesetzes dennoch erheblich erschweren.

Wachsende Unterstützung für Rechte: Ein Weckruf

Die wachsende Unterstützung für Kast sollte auf jeden Fall ein Weckruf für all diejenigen sein, die optimistisch glaubten, dass die Revolte Chiles tief verwurzelte Kultur des Autoritarismus beseitigt hat. Kast geht nach dem starken Ergebnis als leichter Favorit ins Rennen. Er genießt großen Rückhalt in konservativen Kreisen, die über die Massenproteste von 2019 empört waren. Um noch mehr Wähler*innen zu mobilisieren, wird er an das soziale Unbehagen und die Fremdenfeindlichkeit appellieren. Er wird das ewige Gespenst des Kommunismus an die Wand malen und autoritäre Schnelllösungen anbieten.

Die Polarisierung und Kasts reaktionäre Positionen könnten jedoch auch Boric in die Hände spielen. Er wird in den kommenden Wochen vor allem in der Mitte der chilenischen Gesellschaft um Unterstützung werben. Sein Wahlsieg wäre ein wichtiger Impuls für die Verfassungsversammlung, die sich an die harte Arbeit macht, Chiles neue Magna Carta zu schreiben. Gleichsam würde eine linke Präsidentschaft den von vielen auf den Straßen geforderten politischen Kurswechsel einleiten, hin zu einer Gesellschaft mit mehr sozialer Gerechtigkeit und Solidarität und einem stärker feministischen und interkulturellen Chile.

Eine Sache steht jedoch außer Streit: Sollte es in naher Zukunft tatsächlich zu grundlegenden Veränderungen des Wirtschaftsmodells und des politischen Systems kommen, ist mit dem erbitterten Widerstand der chilenischen Oligarchie und ihren politischen Verbündeten zu rechnen. Die Erfahrung des Staatsstreichs von 1973 hat gezeigt, wozu die chilenische Rechte fähig ist, wenn sie sich provoziert fühlt. Die Überwindung von Pinochets Erbe wird somit alles andere als ein leichter Weg.

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