Max Czollek setzt sich aus jüdischer Perspektive für eine plurale Erinnerungskultur ein. Dabei übt er nicht nur Kritik am deutschen Versöhnungstheater, sondern thematisiert auch innerjüdische Uneinigkeiten und die fehlende postmigrantische Verständigung. Teil 2 eines Gesprächs mit Leonie Ettinger.
„Man kann nicht sinnvoll fragen: ‚Wer spricht für die Juden?‘ Man kann nur fragen, welche Haltungen es innerhalb des Judentums gibt und dann Perspektiven sammeln.“ Vor dem Hintergrund der Debatten in den USA und Deutschland sprach Max Czollek in Teil 1 des Gesprächs mit Leonie Ettinger über Unterschiede in der Wahrnehmung von Jüdischkeit. Die Unterhaltung führte die Gesprächspartner*innen schließlich zum Begriff der Desintegration. Max Czollek beschreibt den Aufruf zur Desintegration als Reaktion auf das Zum-Juden-Werden und Möglichkeit, Handlungsfähigkeit zurückzugewinnen. Teil 2 des Gesprächs greift den Begriff noch einmal auf, um in der Folge über die Rolle der dritten Nachkriegsgeneration sowie eine potenzielle Neubestimmung von Jüdischkeit zu sprechen.
Leonie: Wie funktioniert Desintegration?
Max: Desintegration ist eingebettet in eine größere Konzeption radikaler Vielfalt, die von Gudrun Perko und Lea Carola Czollek entwickelt wurde. Sie nennt sich ‚Social Justice and Radical Diversity‘ und ist ein Modell, Vielfalt mit Antidiskriminierung zusammenzudenken. Bei der Konzeption der radikalen Vielfalt ist die zentrale Idee, die Dominanzkultur nicht mehr darum zu bitten, ein bisschen inklusiver zu sein. Die Gesellschaft wird fundamental anders gedacht: Nicht als ein Ort, an dem ein Teil der Gesellschaft entscheidet, wer dazugehört und wer nicht. Stattdessen gestalten die unterschiedlichen Gruppen in ihrer Unterschiedlichkeit den gesellschaftlichen Raum gemeinsam. Das hat nicht nur Konsequenzen für Diskussionen um Integration oder Zugehörigkeit. Es hat auch Konsequenzen für die Art und Weise, wie wir Geschichte verstehen: Dann geht es nämlich nicht mehr so sehr um die Frage, welche Beiträge Juden und Jüdinnen zur deutschen Kultur geleistet haben, sondern wie die deutsche Kultur unter anderem das Ergebnis jüdischer Einflüsse ist.
Leonie: Wie ordnest du Gruppen mit Migrationshintergrund wie die Kontingentgeflüchteten in das Konzept der Desintegration ein, die im Gegensatz zu dir und mir keine Familiengeschichten aus dem deutschsprachigen Raum haben und vielleicht noch gar nicht in die deutsche Kultur integriert sind?
Max: Das ist eine wichtige Ressource für die Art von Unterbrechung, die die Desintegration anstrebt. Bleiben wir bei der jüdischen Gruppe. Die besteht ja zu über 90 % aus sowjetischen Juden. Diese 90 % bringen ein Identitätsverständnis mit, das sich nicht im Zusammenspiel mit der deutschen Erinnerungskultur entwickelt hat, wie es für das deutsche Judentum weitgehend der Fall ist. Das sowjetische Judentum hat sich, ähnlich wie in der DDR, weniger in Gemeinden und mehr in Wohnzimmern abgespielt. Das war eine Jüdischkeit, die sich mehr über Bücher, Lieder, Kulturprodukte, Witze und Sozialräume vermittelt hat als über religiöse Praxen. In diesem Sinne ist es kein Wunder, dass wir die Desintegration gemeinsam mit anderen neuen jüdischen Stimmen, von denen die Mehrheit postsowjetisch ist, entwickelten.
Leonie: In Desintegriert euch! sprichst du davon, dass mit der dritten Nachkriegsgeneration in Deutschland eine Wandlung im jüdischen Selbstverständnis stattgefunden hat. Auf der anderen Seite konstatierst du aber auch, dass „nie wieder alles gut“ sein wird, und man könnte fragen, ob jemals alles gut war. Welches Potenzial siehst du in der dritten Nachkriegsgeneration?
Max: Es ist nicht nur ein jüdischer Witz, wenn man darauf verweist, dass das Judentum bis zu einem gewissen Grad darauf basiert, dass nie alles gut war. Die Idee der Reparatur der Welt – das berühmte Tikkun Olam etwa – setzt ja bereits voraus, dass die Welt kaputt ist. Sonst müsste man ja nichts reparieren. Es gibt wunderschöne Stellen beim Kabbalisten Isaak Luria, der die Zerbrochenheit der Welt als Grundvoraussetzung zeichnet, unter der wir existieren. Ich finde das tröstlich. Es macht klar, dass es bei der Reparatur der Welt nicht um Schuld geht, sondern um Verantwortung.
Was also ist die Verantwortung der dritten Generation in Deutschland? Auch hier würde ich zunächst bei dem ansetzen, was da ist. Die sowjetische Migration hat seit einiger Zeit einen wachsenden Einfluss auf die Bestimmung von Jüdischkeit in der deutschen Gegenwart. Diesen Einfluss macht sie weitgehend außerhalb der Gemeindestrukturen geltend. Das hat sicherlich auch damit zu tun, dass diese Gruppe bis heute Diskriminierung innerhalb der Gemeinden erfährt. Die Idee, dass die sowjetischen Juden keine echten Juden sind, wurde auch in diesem Jahr von unterschiedlichen Seiten wiederholt. Das hat zur Konsequenz, dass die Leute sich nicht willkommen fühlen und sich die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung jenseits des religiösen Raums organisiert. Das ist übrigens auch in den USA der Fall. Meine Hoffnung wäre, dass die dritte Generation eine Neubestimmung von Jüdischkeit in Deutschland vornimmt, dabei sensibel bleibt für die reale Vielfalt jüdischer Lebendigkeit und daraus ihre Kraft schöpfen lernt.
Leonie: Da höre ich Optimismus.
Max: Ha, manchmal muss das sein. Man muss über die Aussichtslosigkeit der Gegenwart hinausschauen können. Ich würde sagen, wir laufen aktuell politisch und auch innerjüdisch auf zehn schlechte Jahre zu. Aber auch das ist irgendwann vorbei. Hoffentlich. Unsere Aufgabe besteht darin, dann immer noch da zu sein. Diese Generation hat erst angefangen, die Dinge neu zu denken. Ich würde nicht unterschätzen, was da für Potenziale schlummern. Keine „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“, sondern ein echter Neustart jüdischer Lebendigkeit. Daran arbeiten wir.
Leonie: In den jüdischen Jugendzentren und Ferienlagern, die ich in den 2000ern erlebt habe, war eine der deutlichsten Botschaften, dass wir uns nicht als deutsche Juden oder jüdische Deutsche sehen sollten, sondern als Juden mit deutscher Staatsangehörigkeit. Das Deutschtum war ein rechtlicher Status, keine Identität. Wie du in Desintegriert euch! schreibst, fühlten sich Juden, die nach 1945 nach Deutschland zurückkehrten, fehl am Platz. Mir scheint, diese Einstellung wurde an die Folgegenerationen vererbt. Das war sicher einer der Gründe, warum ich und viele, die mit mir aufgewachsen sind, Deutschland und den deutschen Diskurs verlassen haben. Das war unsere Version der Desintegration. Seitdem hat sich einiges verändert. Es gibt zahlreiche jüdische Einrichtungen in den Bereichen Bildung, Kunst und Kultur, die auch außerhalb des religiösen Establishments einen festen Platz in Deutschland einnehmen – zum Beispiel das Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk (ELES) und das jüdische Künstler*innennetzwerk Dagesh. Welchen kulturellen Möglichkeitsraum eröffnen diese Institutionen?
Max: Das Besondere an ELES ist, dass es uns gemeinsam mit den Jüdischen Schulen ermöglicht, einen von jüdischen Institutionen begleiteten Bildungsweg in Deutschland zu durchlaufen. Das ist etwas Neues, auch weil es Alternativen zu den Gemeindestrukturen schafft. Plötzlich war da eine nichtreligiöse Form von Jüdischkeit, die die nichtjüdische deutsche Dominanzkultur und die Gemeindestrukturen selbst überraschte oder sogar schockierte und bis heute schockiert.
Ich kann das konkret am Beispiel der Desintegration illustrieren. Hätte es auch in den 2010er Jahren nur die Gemeindestrukturen gegeben, hätte ich dieses Modell gar nicht entwickeln können. Ich hätte mich nicht als Teil des jüdischen Raums anerkannt gefühlt. Ich hätte auch nicht gedacht, dass es eine jüdische Öffentlichkeit für diese Art von Arbeit gibt. Mit ELES und Dagesh fand ich aber ein Verständnis von Jüdischkeit, was meinem ähnelte – nämlich eine Vorstellung von Jüdischkeit als Intellektualität, Ethik, politischer Einstellung und einer spezifischen Form der Kreativität.
In Teil 3 des Gesprächs nimmt Leonie Ettinger das Stichwort Kreativität auf, um mit Max Czollek über Theater als Metapher und widerständige Kunst zu sprechen. Außerdem wenden sich die zwei Gesprächspartner*innen dem 07. Oktober zu, stellen mit Blick auf den deutschen Diskurs eine fehlende Fähigkeit zur Selbstkritik fest und geben Ausblick, was völkischer Politik und Gewalt entgegengesetzt werden kann. Teil 3 erscheint am 09. Juli.
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