„Wer spricht für die Juden?“ – Max Czollek im Gespräch Teil 1

U-Bahn-Bahnsteig in New York - Max Czollek im Gespräch 1

Max Czollek setzt sich aus jüdischer Perspektive für eine plurale Erinnerungskultur ein. Dabei übt er nicht nur Kritik am deutschen Versöhnungstheater, sondern thematisiert auch innerjüdische Uneinigkeiten und die fehlende postmigrantische Verständigung. Teil 1 eines Gesprächs mit Leonie Ettinger.

„Wie es war, darf es nicht mehr werden. Und wie es ist, darf es nicht bleiben,“ schreibt Max Czollek in seinem Buch Versöhnungstheater (hier empfohlen von der mosaik Redaktion). Anfang Juni las er daraus auf Einladung der Bibliothek von unten in Wien. Wenige Wochen davor weilte er noch in den USA. Zwei Monate hatte er dort im Rahmen einer Autor*innen-Gastprofessur an der New York University (NYU) verbracht. Leonie Ettinger – Postdoctoral Teaching Fellow an der NYU – hat Max am Ende seines Aufenthalts getroffen. In einem ausführlichen Gespräch sprach sie mit ihm über Unterschiede im US-amerikanischen und deutschen Diskurs, Jüdischkeit, Desintegration und schließlich auch über den 7. Oktober und die Bedeutung von Erinnerungskultur. mosaik veröffentlicht das Gespräch in drei Teilen.

Leonie: Max, du warst jetzt zwei Monate in New York und hast an der NYU unterrichtet. Wie hast du die Atmosphäre hier im Vergleich zu Deutschland wahrgenommen?

Max: Das Allerbeste an meinem Aufenthalt war, nicht in Deutschland zu sein. New York war für mich eine Entspannung. Alle New Yorker, denen ich das erzähle, lachen sich schlapp, weil New York natürlich überhaupt nicht entspannt ist. Ich habe erst hier verstanden, wie viel Kraft mich das letzte halbe Jahr seit dem 7. Oktober in Deutschland gekostet hat.

Was sich in den USA aber dann doch als besonders positiv herausgestellt hat, war ein viel emphatischeres Verständnis davon, was Pluralität und Meinungsfreiheit bedeuten. Das ist ein großer Unterschied zur deutschen Diskussion, bei der im Raum steht: „Entweder wir sind uns einig oder du darfst nicht reden.“ In den USA wird der Unterschied der Meinungen erwartet. Der Kampf findet meiner Wahrnehmung nach weniger als in Deutschland auf der Ebene statt, ob man diese Meinung äußern darf, sondern eher, ob man sie durchsetzen kann.

Leonie: Hast du während deines Aufenthalts eine Situation erlebt, in der dir das besonders aufgefallen ist?

Max: Ich hatte zu Beginn eine Veranstaltung mit der jüdischen Organisation The Neighborhood. Das ist eine Initiative aus Brooklyn, geleitet von Rebecca Guber. Gemeinsam mit Rachel Mars, einer Künstlerin aus UK, und einer Reihe von größtenteils jüdischen Teilnehmer*innen haben wir die Frage diskutiert: „Where do we go from here?“. Da es eines der ersten Gespräche war, das The Neighborhood nach dem 7. Oktober über die aktuelle Situation von Juden und Jüdinnen organisierte, war die Stimmung im Vorfeld angespannt. Leute erwarteten, dass es eskalieren könnte. Bei der Unterhaltung waren wir dann aber in der Lage, Unterschiedlichkeit auf eine Weise auszuhalten und behutsam damit umzugehen, wie ich es in Deutschland seit dem 7. Oktober kaum erlebt habe.

In Deutschland tendiert auch die innerjüdische Diskussion aktuell zur Frage: „Wer darf reden?“ Das geht natürlich auch einher mit der Frage, wer jüdisch genug ist, um mitreden zu dürfen. Das kann in den USA schon darum nicht passieren, weil es zu viele Juden und Formen der Jüdischkeit gibt, um diese Frage zu klären. Man kann nicht sinnvoll fragen: „Wer spricht für die Juden?“ Man kann nur fragen, welche Haltungen es innerhalb des Judentums gibt und dann Perspektiven sammeln.

Porträts von Leonie Ettinger und Max Czollek
Leonie Ettinger und Max Czollek | (c) Ben Schluter/Jule Roehr
Leonie: In Deutschland dreht sich die jüdische Debatte oft darum, wer ein ‚echter Jude‘ ist. Die jüdischen Gemeinden berufen sich in der Regel auf die matrilinearen Gesetze der Halacha. In den Reformgemeinden der USA hingegen sind alle, die jüdisch erzogen wurden, willkommen. Bei Friday Night Jews im Gespräch mit Daniel Donskoy hast du gesagt, Jüdischsein sei weder Religion noch Nationalität, sondern Geschichte. Kannst du das erläutern?

Max: Das ist ein entscheidender Unterschied zwischen den innerjüdischen und gesamtgesellschaftlichen Debatten in Deutschland und der Diskussion, wie sie in den USA stattfindet. Meine Arbeit geht sicherlich auch unter dem Einfluss der Ideen des Berliner Instituts Social Justice und Diversity davon aus, erst mal zu schauen, was an Vielfalt existiert. Und diese Vielfalt wird nicht als Problem diskutiert, sondern als Ausgangspunkt.

„Wer ist ein echter Jude und wer nicht?“, ist in diesem Zusammenhang eine unproduktive Frage. Sie führt dazu, dass viele Menschen, die zentrale Beiträge zur Vielfalt jüdischer Lebendigkeit in Deutschland liefern, sich von jüdischen Diskussionsräumen distanzieren. Weil sie einfach keine Lust auf eine so gewaltvolle und hierarchisierende Diskussion haben. Hinzu kommt, dass das vor einem nichtjüdischen deutschen Publikum stattfindet. Dadurch werden Juden und Jüdinnen auf der Bühne der Dominanzkultur positioniert und im Sinne des deutschen Selbstbildes mit einer spezifischen Rolle versehen. Das erzeugt eine verführerische Anerkennungsdynamik, die auch die innerjüdische Debatte strukturiert.

Für die postkommunistische Art von Jüdischkeit der DDR, aus der ich beispielsweise komme, spielt aber weder Religion noch ethnische Zugehörigkeit eine entscheidende Rolle. Das sind keine Kategorien, in denen ich über mein Leben oder meine Identität nachdenke. Für mich ergibt sich Jüdischkeit aus der eigenen Familiengeschichte. Die ist auch von der Ermordung fast aller meiner jüdischen Familienmitglieder durch die Nazis geprägt. Das bestimmt wesentlich die Art und Weise, wie ich Deutschland wahrnehme und wie ich mich in Deutschland positioniert empfinde sowie selbst positioniere. In diesem Sinne ist Jüdischkeit für mich vor allem Geschichte.

Leonie: In Desintegriert euch! schreibst du: „Dies ist das Buch von einem, der auszog, kein Jude zu werden. Sondern ein Politikwissenschaftler, ein Schriftsteller und Intellektueller. Und von einem, der schließlich auch Jude wurde.“
Auch ich bin ausgezogen, keine Jüdin zu werden, sondern Literaturwissenschaftlerin, Dramaturgin und Dozentin. Nun arbeite ich doch an einem Projekt über die dritte Nachkriegsgeneration in Deutschland. Einerseits stecken hinter diesen Kehrtwenden unsere eigenen Familiengeschichten. Andererseits werden wir, wie du in deinen Texten erklärst, auch von anderen zu Juden gemacht. Kannst du diesen Prozess beschreiben?

Max: Es ist genauso, wie du sagst. Einerseits gibt es eine persönliche Verbundenheit. Judentum ist Teil meiner Identität. Ich war 13 Jahre auf einer jüdischen Schule, feiere jüdische Feste. Ich weiß wie man in der Synagoge betet und so weiter. In diesem Sinne ist meine Jüdischkeit eine Art ownership dieser Identität. Zugleich ist mein Nachname in Deutschland ungewöhnlich, so dass man leicht nachvollziehen kann, aus welcher Familie ich komme. Daraus wurde in Rezensionen und Besprechungen häufig: „Max Czollek, der Enkel eines Holocaustüberlebenden.“ Die Urszene, mit der ich mein Zum-Juden-für-Deutsche-Werden beschreiben würde, fand in der jüdischen Schule in Berlin statt. Und auch dieser Szene ist die Ambivalenz zwischen ownership und Zuweisung eingeschrieben.

Einerseits war die Jüdische Schule nämlich ein neues Kapitel im Nachkriegsjudentum. Es war das erste Mal seit 1945, dass es wieder eine vollzügige jüdische Bildungsinstitution in Deutschland gab. Gleichzeitig war es für nichtjüdische deutsche Journalisten fortan einfacher, jüdische Kinder zu finden. So wurden wir schon früh mit Fragen konfrontiert wie „Fühlst du dich wohl in Deutschland?“, „Hast du Familie in Israel?“ und „Hast du schon mal Antisemitismus erlebt?“.

Ich habe damals gelernt, auf diese Fragen zu antworten, bevor ich sie mir selbst gestellt habe. Das hat den Prozess in Gang gesetzt, den ich als Zum-Juden-Werden bezeichne. Nichtjüdische Deutsche signalisieren dabei dem jüdischen Gegenüber, was sie von ihm oder ihr erwarten. Sie erzeugen damit zweierlei: die Idee, dass ihr Gegenüber nicht auf die gleiche Weise deutsch ist wie sie, und eine Vorstellung davon, was diese Jüdischkeit eigentlich bedeutet – also mit welchen Themen man sich auseinandersetzen muss, um als jüdisch anerkannt zu werden. Das Modell der Desintegration war eine Reaktion auf das Zum-Juden-Werden. Wir können angesichts dieses Zum-Juden-Werdens einen Teil Handlungsfähigkeit zurückgewinnen.

In Teil 2 des Gesprächs mit Leonie Ettinger spricht Max Czollek über Desintegration als Aufruf, Gesellschaft fundamental anders zu denken, Aufgaben der dritten Nachkriegsgeneration und die mögliche Neubestimmung von Jüdischkeit.

Titelbild: Sergey Zolkin on Unsplash

Autoren

  • Max Czollek

    Dr. Max Czollek ist Lyriker, Schriftsteller und Essayist. Er ist Mitherausgeber des Magazins „Jalta – Positionen zur jüdischen Gegenwart“ und kuratiert seit vielen Jahren Veranstaltungen, aktuell die Gesprächsreihe „Gegenwartsbewältigung“ im Haus der Kulturen der Welt. 2024 war er DAAD Distinguished Chair in Contemporary Poetics an der New York University, NYU. Die Essays „Desintegriert Euch!“ (2018), „Gegenwartsbewältigung“ (2020) sowie "Versöhnungstheater" (2023) erscheinen im Carl Hanser Verlag. Die Lyrikbände „Druckkammern“ (2012) und „Jubeljahre“ (2015), „Grenzwerte“ (2019) und aktuell „Gute Enden“ (2024) im Verlagshaus Berlin.

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  • Leonie Ettinger

    Dr.in Leonie Ettinger ist Postdoctoral Teaching Fellow an der New York University und promovierte Germanistin. Ihre wissenschaftlichen und journalistischen Artikel erschienen in Marxism in the Age of Trump (2018), Expressionismus (2020), The Journal of Literature and Trauma Studies (2022) und der Jüdischen Allgemeinen Zeitung (2023); ein weiterer Artikel wird in Concepts of Culture: New Directions in Conceptual History (2024) veröffentlicht. Für ihren Essay “Speaking Past: Ruth Klüger's weiter leben: Eine Jugend” (2020) erhielt sie den Academic Writing Prize des Alpine Fellowships. Ab Oktober 2024 forscht sie als Postdoctoral Fellow am Berlin Program for Advanced German and European Studies der Freien Universität Berlin.

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