Max Czollek setzt sich aus jüdischer Perspektive für eine plurale Erinnerungskultur ein. Dabei übt er nicht nur Kritik am deutschen Versöhnungstheater, sondern thematisiert auch innerjüdische Uneinigkeiten und die fehlende postmigrantische Verständigung. Teil 3 eines Gesprächs mit Leonie Ettinger.
„Jüdischkeit als Intellektualität, Ethik, politische Einstellung und eine spezifische Form der Kreativität.“ Ein solches Verständnis von Jüdischkeit identifiziert Max Czollek in Teil 2 des Gesprächs mit Leonie Ettinger. Neben religiösen und traditionalistischen Zuschreibungen stelle es eine weitere Dimension realer Vielfalt jüdischer Lebendigkeit dar, aus der sich die Kraft des Judentums aktuell speise. Leonie Ettinger nimmt zu Beginn von Teil 3 des Gesprächs das Thema Kreativität zum Anlass, um über Theater als Metapher und widerständige Kunst zu sprechen. Schließlich wenden sich die Gesprächspartner*innen dem 07. Oktober zu. Max wirft die Frage auf, inwiefern das Judentum an der Frage Israels zu zerbrechen droht. Mit Blick auf den deutschen Diskurs wird eine fehlende Fähigkeit zur (gesamtgesellschaftlichen) Selbstkritik festgestellt. Angesichts derer bleibe die plurale, postmigrantische Zivilgesellschaft die beste Chance, völkischer Politik und Gewalt etwas entgegenzusetzen.
Leonie: Das Stichwort Kreativität scheint ein guter Moment, um über Kunst zu sprechen. Du arbeitest viel mit Theatermetaphern: In erster Linie natürlich das ‚Gedächtnistheater‘, das du von Y. Michael Bodemann übernommen hast, aber dann entwickelst du auch Begriffe wie ‚Integrationstheater‘ und dein letzter Essay trägt den Titel Versöhnungstheater. Kannst du erläutern, wie du die Rollenverteilung in der deutschen Gesellschaft anhand dieser symbolischen Ebene analysierst?
Max: Die Theatermetapher ist so produktiv für mich, weil sie mir dabei hilft, ein Verhältnis in der Gesellschaft zu bestimmen und greifbar zu machen. Sie benennt Dinge, die uns allen intuitiv vertraut sind. Im Theater gibt es eine Bühne, Schauspieler*innen, ein Publikum, eine Dramaturgie und eine*einen Regisseur*in. Auch im gesellschaftlichen Raum bei Gedenkveranstaltungen, Plenardebatten oder Lesungen erleben wir immer eine Art von Aufführung, die nach bestimmten Regeln und Dramaturgien abläuft. Die entscheidende Frage ist: Wer sitzt im Publikum und wer entscheidet über die Geschichte, die erzählt wird?
Aber die Bühne ist nicht die Realität. Darum bin ich skeptisch gegenüber der Idee, dass man nur alle Minderheiten zu repräsentieren braucht, um Diskriminierung erfolgreich abzubauen. In den Theaterstücken der deutschen Öffentlichkeit jedenfalls treten seit Jahrzehnten, wenn nicht Jahrhunderten, alle möglichen Minderheiten auf. Diskriminierung gibt es weiterhin – und zwar auch dann noch, wenn die Diskriminierten die ihnen zugedachten Rollen selbst spielen dürfen. In meinem neuesten Buch habe ich dafür das Konzept der „regulierten Sichtbarkeit“ entwickelt. Damit versuche ich zu fassen, dass auch noch die Sichtbarwerdung von Differenz im gesellschaftlichen Raum oder auf den Theaterbühnen reguliert ist in dem, was gesagt und emotional ausgedrückt werden kann.
Ein Beispiel für einen Versuch, diese Zuschreibungen und Regulationsprinzipien zu unterlaufen, war die Ausstellung „Rache: Geschichte und Fantasie“ im Jüdischen Museum in Frankfurt im Jahr 2022. Uns ging es damals darum, jüdische Geschichten des Widerstands und der Handlungsmacht zu erzählen. Diese Geschichten können im Rahmen des deutschen Versöhnungstheaters kaum thematisiert werden.
Leonie: Ich sehe hier zwei Ebenen: Das Theater als Metapher und das Theater als Kunst. Inwiefern eignet sich das Theater als eine Form des Widerstands? Warum Kunst und nicht Politik?
Max: Ich möchte damit beginnen, dass Theater keine Politik ist. Uns wird immer wieder vorgeworfen, dass wir das Theater für Politik missbrauchen. Ich finde, das geht am Thema vorbei. Und eigentlich müsste doch die andere Seite erst mal erklären, wie sie sich das Gegenteil vorstellt: ein Theater ohne Weltbezug. Vielleicht ist das auch ein Ost-West-Problem. Jedenfalls ist der Weltbezug in den Texten, die ich aus meiner Ostsozialisation kenne, viel präsenter als in Westdeutschland. Dort hat die Idee der nicht-politischen Kunst eine etwas merkwürdige Karriere hingelegt und geistert bis heute durch den Feuilletonraum. Ich kann mit dieser Idee nichts anfangen. Stattdessen würde ich sagen, dass Kunst uns dabei hilft, vielleicht sogar helfen sollte, die Gegenwart zu bewältigen. Und es gibt ja viel zu bewältigen aktuell.

Leonie: Lass uns auch über den 7. Oktober sprechen. Hat sich deine Sicht auf die Debatten in Deutschland und Europa über Israels Politik und die Zunahme von Antisemitismus durch deine Erfahrungen in den USA verändert?
Max: Ehrlich gesagt, hätte ich gedacht, dass man hier schon weiter wäre. Aber die Diskussion um den 7. Oktober ist hier ganz ähnlich gelagert wie in Deutschland. Auch hier dreht sie sich erst mal darum, ob man sich für Israel ausspricht oder Solidarität für Palästinenser ausdrückt. Auch hier scheinen diese Positionen nur sehr schwer kombinierbar. In einem zweiten Schritt habe ich dann aber doch zumindest innerjüdisch eine offenere Diskussion erlebt als in Deutschland. Das ist heilsam und wichtig, weil das Judentum seit Jahren droht, an der Diskussion über Israel auseinanderzubrechen. Der Ausschluss der einen oder anderen bringt da gar nichts, wenn es um das Überleben des Judentums geht. Man muss einen Weg finden, wieder miteinander ins Gespräch zu kommen.
In diesen knapp zwei Monaten ist mir auch klar geworden, wie unhinged [„aus den Angeln gehoben“, Anm. der Reaktion] die Debatte in Deutschland im Moment ist. Die deutsche Erinnerungskultur und das deutsche Selbstbild basieren auf der Erzählung, dass man nicht mehr antisemitisch ist. Deshalb kommt der Dominanzkultur die Präsenz von Antisemitismus wohl auch viel unerträglicher vor als die von anderen Diskriminierungsformen. Dabei ist doch klar, dass wir alle Produkte eines strukturellen Antisemitismus sind, der in Deutschland seit Jahrhunderten existiert und auch nach 1945 nicht einfach verschwunden ist. Ich komme nicht ganz umhin, in der ganzen Aufregung seit dem 7. Oktober auch eine Strategie zu erkennen, diese ziemlich deutsche Verstricktheit auf Distanz zu halten. Anstatt einfach wie der Bundeskanzler Abschiebungen im großen Stil zu fordern, müsste man viel mehr in die Selbstkritik gehen.
Leonie: Beim Thema Selbstkritik muss ich an die Frankfurter Schule denken. In „Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit“ erklärt Theodor Adorno: „Aufgearbeitet wäre die Vergangenheit erst dann, wenn die Ursachen des Vergangenen beseitigt wären. Nur weil die Ursachen fortbestehen, ward sein Bann bis heute nicht gebrochen.“ Dein Essay aus dem Jahr 2020 trägt den Titel Gegenwartsbewältigung. Kann es eine Gegenwartsbewältigung ohne Vergangenheitsbewältigung geben?
Max: Der Begriff zielt nicht so sehr darauf, dass wir die Gegenwart für eine Zukunft bewältigen. Er meint eher, dass wir in der Gegenwart die fortdauernde Vergangenheit – Adorno, den wir hier in unserem Seminar gelesen haben, würde vielleicht von nachzitternden Schrecken sprechen – weiter wahrnehmen. Durch die permanente Beschwörung der Erzählung, dass Deutschland seine Geschichte erfolgreich aufgearbeitet hat, wird diese Einsicht auf Distanz gehalten. Dass diese Gewalt jedoch nicht bewältigt, sondern sehr real da ist und die Demokratie sowie vor allem ihre Minderheiten und antifaschistischen Anteile bedroht, belegt die Stärke der AfD. Aber man hat sich mittlerweile endlos weit entfernt von den ideologiekritischen Arbeiten der Frankfurter Schule. Und man scheint dabei die Fähigkeit verloren zu haben, eine selbstkritische Analyse der eigenen deutschen Gegenwart anzustellen. Stattdessen wird am liebsten und mit Ausdauer über die Anderen geredet, wenn es darum geht, Schuldige zu identifizieren.
Leonie: Wäre eine gesamtgesellschaftliche Selbstkritik eine Möglichkeit, dem Anstieg rechten Gedankenguts entgegenzuwirken?
Max: Die fortwährende Ursachenforschung zum Nationalsozialismus wäre die nachhaltigste, nobelste und sinnvollste Aufgabe, die Deutschland nach 1945 in einer auch weiterhin nationalstaatlich verfassten Welt hätte spielen können. Auf Seiten der erinnerungskulturellen Erzählung in Deutschland ist das spätestens seit 1989/1990 in weite Ferne gerückt. Die deutsche Erinnerungskultur ist seitdem von einem Instrument für eine zumindest rudimentäre Selbstkritik immer mehr zu einem Legitimationsargument für die eigenen nationalstaatlichen Ambitionen geworden. Weil man so gut erinnert hat, durfte man Deutschland wieder vereinigen, wieder stolz sein auf Deutschland und 2024 auch endlich im großen Stil abschieben. Alles im Namen der guten Aufarbeitung. Erinnerungskultur ist dabei immer mehr zu einem Disziplinierungsinstrument für Minderheitenpolitiken geworden, die mit der Shoah gar nichts zu tun haben. Dagegen möchte ich auch weiterhin daran festhalten: die plurale, postmigrantische Zivilgesellschaft ist die beste Chance, die wir aktuell noch haben, der Rückkehr völkischen Denkens, völkischer Politik und Gewalt etwas entgegenzusetzen.
Leonie: Also eine Umfunktionierung der Erinnerungskultur?
Max: Oder ein Wiederaufgreifen der Erinnerungskultur im Sinne einiger ihrer zentralen Akteur*innen, indem wir sie wieder viel stärker darauf ausrichten, die Gegenwart so einzurichten, dass sich die Vergangenheit nicht wiederholt.
Max Czollek las Anfang Juni 2024 auf Einladung der Bibliothek von unten in Wien. Leonie Ettinger traf ihn wenige Wochen davor in New York. mosaik veröffentlichte das Gespräch zwischen Max und Leonie in drei Teilen. Teil 1 & Teil 2 zum Nachlesen.
Titelbild: Sergey Zolkin on Unsplash