Zwischentöne treffen: Weiblichkeitsdarstellungen auf der Diagonale

Am 24. März ging die 22. Edition des Diagonale Filmfestivals in Graz zu Ende. Edma Ajanovic und Alexandra König sind für Mosaik ins Festivalgeschehen eingetaucht. Sie haben über Weiblichkeit*en im Film nachgedacht und Gespräche mit den Regisseurinnen Sudabeh Mortezai und Marie Kreutzer geführt. Eine feministische Rückblende auf das Festival.

Achtung der Artikel enthält Spoiler!

Fast eine Woche lang schwirrt die österreichische Filmbranche nach Graz zur Diagonale aus. Als Outsiderinnen in journalistischer Mission ist es für uns halbwegs entspannt. Beim Blättern im Programm stolpern wir über den diesjährigen historischen Schwerpunkt und freuen uns. „Über-Bilder: Projizierte Weiblichkeit(en)“ hat zum Thema wie es um die Darstellung von Geschlechterverhältnissen und Weiblichkeit*en im österreichischen Film steht. Gestaltet wurde das Special von der Autorin Michelle Koch und der Filmjournalistin Alexandra Zawia, die heuer auch die Programmierung der Spielfilmauswahl beraten hat. Die Frage wollten die beiden aber nicht im Alleingang beantworten, sondern haben weitere Expert*innen eingeladen das Special mit ihnen zu gestalten. Das Experiment finden wir gelungen.

Mit viel Liebe wurden fast vergessene, filmische Schätze ausgegraben. Schön war auch, dass viele der Filmschaffenden selbst für Publikumsgespräche anwesend waren und es den Kurator*innen ein Anliegen war, die Filme mit ihrem Wissen zugänglich zu machen. So etwa bei der Vorführung von Louise Kolm-Flecks filmischer Grillparzer-Adaption Die Ahnfrau, aus dem Jahr 1919. Die filmische Pionierarbeit kommentierten Aslı Kışlal und Amina Handke direkt während der Vorführung, mal mit historischem Hintergrundwissen und mal mit scharfsinnigen Regieanweisungen, die die geschlechterstereotypen Darstellungsformen der Zeit entlarven. Witzig und feministisch befreiend war der Slot Es hat mich sehr gefreut, der von Karola Gramann und Heide Schlüpmann ausgewählte Experimentalfilme aus den 1970ern und 1980ern zeigte. Mara Mattuschkas Kurzfilm war titelgebend für die Reihe und wer sich über einen kunstvollen feministischen Orgasmus mit genialer Soundkulisse zerkugeln will, sollte sich diesen unbedingt ansehen.

Die Kunst nuancierter Weiblichkeitsdarstellungen

Auseinandersetzung mit Weiblichkeitsdarstellungen gab es auf der Diagonale auch über das historische Special hinaus. Aktuelle Beispiele dafür sind Marie Kreutzers Der Boden unter den Füßen, den wir schon rezensiert haben, und Sudabeh Mortezais Joy. Mortezais Spielfilm zeigt den Umgang der starken Protagonistin Joy mit einem System der Ausbeutung. In Kreutzers Spielfilm geht es um Lola, eine zielstrebig durch die Welt jettende Wirtschaftsberaterin, die nur anfangs scheinbar alles im Griff hat.

Für Kreutzer ging es bei der Konzeption ihrer Hauptfigur Lola darum, einen Bruch mit stereotypen Identifikationsangeboten von weiblichen Figuren zu vollziehen. Wichtig war ihr, trotzdem nicht an Glaubwürdigkeit einzubüßen: „Worum ich sehr gekämpft habe ist, dass Lola eine widersprüchliche Figur sein darf.“ Inspiriert hat sie Hitchcocks Figur Marnie: „Sie ist eine Frau, die man ganz lange nicht versteht, und der man aber trotzdem total folgt, obwohl sie nicht sympathisch ist. Und das hat mich sehr gereizt: Wie geht man mit einer Figur mit, obwohl sie keine klassische Identifikationsfigur ist“. In der Tat ist Lola abgebrüht und bricht mit dem üblichen Schema der weiblich codierten Sorgearbeit. Obwohl sie sich um ihre psychisch erkrankte Schwester kümmert, möchte sie sich eigentlich von ihr befreien. Ihre Karriere steht im Vordergrund und trotzdem fallen wir nicht auf eine moralische Bewertung Lolas als „Rabenschwester“ zurück.

Kein Happy End

Das Thema, das Joy aufgreift – internationaler Frauenhandel zur sexuellen Ausbeutung – ist komplex. Die Konzeption der weiblichen Hauptfigur verlangt daher sorgfältige Arbeit. Mitunter auch, weil verflachte Bilder von Opfer und Täter die Debatte bestimmen, vorschnell moralische Bewertungen stattfinden und strukturelle Probleme oft außen vorgelassen werden. Für Mortezai sind flache Darstellungen nicht nur aus künstlerischer Perspektive uninteressant, sondern auch „vom Politischen her falsch und gefährlich“. Im Interview erzählt sie von ihren Recherchereisen nach Nigeria, den vielen Gesprächen mit betroffenen Frauen, die ihr halfen „die Zwischentöne zu treffen“. Wäre die Figur von Joy zu einfach gestrickt, könnten Zuseher*innen gar nicht auf das Problem des perfiden Systems gestoßen werden, weil alles nur auf eine Bewertung der Figur als „gut“ oder „böse“ hinauslaufen würde.

Beide Geschichten enden nicht gut. Dennoch sind die Hauptfiguren für die Regisseurinnen nicht gescheitert. Kreutzer sieht das Drama Lolas darin, dass sie mit ihren Handlungen zwar im Leben weiterkommt, sie aber gleichzeitig einen wichtigen Teil davon zerstören: „In den klassischen Hollywoodfilmen ist es oft so, dass die Figur ihr bewusstes Ziel nicht erreicht, aber dafür was viel Besseres: nämlich was viel Wichtigeres und Wahreres. Und was ich mache ist das Umgekehrte: Lola erreicht ihr Ziel, aber sie verliert ihre Schwester, sie verliert viel mehr als sie gewinnt.“

Für Mortezai macht gerade der Umgang mit den begrenzten Handlungsspielräumen in einem unmöglichen System die Figuren aus – keine Rede also von gescheitert: „Weder Precious, die sich ihrem Schicksal überhaupt nicht fügen will, noch Joy, die selbst nach der Abschiebung zurück an den Start geht. Und die Madame auch. Sie würden sich andere Wege suchen und finden, wenn sie andere Handlungsspielräume hätten. Als gescheitert sehe ich aber keine an.“

Geschichten erfahrbar machen geht mit Verantwortung einher

Filmschaffende sein, bedeutet für Sudabeh Mortezai und Marie Kreutzer Geschichten zu erzählen. Mortezai, die von Dokumentarfilmen ins Spielfilmregister wechselte, sieht im Filmemachen eine Möglichkeit Dinge, die sie um sich herum wahrnimmt, aufzuzeigen. Dabei gibt es filmische und politische Verantwortung. Joy verhandelt für Mortezai „einen Aspekt unserer Gesellschaft sehr ungeschönt“. Wichtig sind für sie die systemischen Fragen: „Der Kontext ist unsere Gesellschaft; die Migrationsgesetze, die Ausbeutungsverhältnisse zwischen Nord und Süd, die dadurch die Lebensgrundlage entziehen.“ Über die Kämpfe der Protagonistinnen verhandelt sie die Konsequenzen des Systems. Marginale Handlungsspielräume und fehlende Solidarisierung im „kapitalistischen System, in dem wir heute leben“, sind wichtige Facetten davon. Dabei ist ihr wichtig Bilder aufzubrechen und „über das Erleben des Filmes“ zum Nachdenken anzuregen. Wenn ihr das gelingt, ist viel erreicht: „Belehrendes Kino ist nicht nur für mich langweilig zu machen. Ich denke, dass es auch für das Publikum langweilig ist.“

Auch Kreutzer sieht sich in der Verantwortung: nicht nur beim Erzählen, denn „Bilder machen was aus, vielleicht nicht einzelne, aber in der Summe schon“. Auch bei der Auswahl der Darsteller*innen versucht sie problematischen Schönheits- und Alterscodes entgegen zu wirken. Im Gespräch erzählte sie uns, nicht ohne Ironie, wie die männlichen Darsteller in ihren Rollen ruhig altern dürfen, für ihre weiblichen Gegenparts aber unrealistisch junge Schauspielerinnen gecastet werden. Hier wünscht sie sich jedenfalls, „dass sich viel mehr Filmmacher*innen der Verantwortung bewusst sind“ und die Besetzungsentscheidungen überlegter treffen.

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