Brennpunkt Ukraine: Linke Vorschläge für eine Deeskalation im Donbas

Die Ukraine-Krise spitzt sich immer weiter zu und steht seit Wochen in den Schlagzeilen. Doch um die Menschen vor Ort und ihre Interessen geht es dabei selten. Taras Bilous, ukrainischer Historiker und Aktivist, plädiert dafür, die Konfliktbearbeitung an den Sicherheitsbedürfnissen der von den Kampfhandlungen bedrohten Menschen auszurichten. Dieser Beitrag ist die stark gekürzte Version einer Standpunkte-Ausgabe der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Der Zweck der demonstrativen Konzentration russischer Truppen im vergangenen Frühjahr und Herbst bestand nicht darin, einen Krieg zu beginnen, sondern Druck auf die USA, die Europäische Union und die Ukraine auszuüben und sie zu Zugeständnissen zu zwingen. Es ist leicht nachvollziehbar, warum die russische Führung den jetzigen Zeitpunkt für günstig hält: Die russische Opposition ist zerschlagen, in Europa herrscht Unruhe wegen der Energiekrise, während die US-Truppen gedemütigt aus Afghanistan abziehen mussten und die Beziehungen zwischen den USA und China auf einem weiteren Tiefpunkt angelangt sind. Wenn es zutrifft, dass Putin eigentlich einen großen Deal und keinen großen Krieg anstrebt, drängt sich immer mehr die Frage auf: Was wird er tun, wenn er nicht bekommt, was er will?

Die drohende Gefahr ist weniger ein groß angelegter Angriff russischer Truppen und die Besetzung eines bedeutenden Teils der Ukraine. Das wäre zu teuer, zu riskant und bei der russischen Bevölkerung zu unpopulär. Viel wahrscheinlicher ist eine Eskalation im Donbas. Also eine begrenzte Invasion und die Ausweitung der Gebiete der vom Kreml kontrollierten Volksrepubliken Donezk und Luhansk.

Keine Sicherheitsgarantie für die Ukraine

Putin behauptet, es sei ein «legitimes Sicherheitsanliegen Russlands», gegen die Osterweiterung der NATO vorzugehen. Und viele linke Autor*innen stimmen ihm in diesem Punkt zu. Kann es dann auch ein «legitimes Sicherheitsanliegen der Ukraine» geben? Oder ist das ein Privileg der großen imperialistischen Mächte? Die von Russland vorgelegten Entwürfe für Verträge mit den USA und der NATO beinhalten keine Sicherheitsgarantien für die Ukraine, sondern nur für die NATO.

Einige westliche Autoren, wie Jeffrey Sachs, haben eine sehr einfache Sicherheitslösung vorgeschlagen: «Die NATO sollte die Option einer Mitgliedschaft Ukraine vom Tisch nehmen und Russland sollte auf jeglichen Einmarsch verzichten». Das Problem dabei ist: Russland ist bereits 2014 einmarschiert. Infolgedessen gibt es im Donbas nach wie vor einen militärischen Konflikt niedriger Intensität, während Moskau die Krim seit der Annexion in einen riesigen Militärstützpunkt verwandelt hat. Ein stabiler Frieden erfordert daher viel mehr als das Versprechen Russlands, von einer weiteren Invasion abzusehen.

Die Ost-Erweiterung der NATO

Putin sagt die Wahrheit, wenn er darauf beharrt, dass die USA Gorbatschow und Jelzin versprochen haben, die NATO nicht weiter gen Osten zu erweitern, und dieses Versprechen gebrochen haben. Aber gibt das ihm das Recht auf eine bewaffnete Aggression gegen die Ukraine? Auf eine Besetzung und Annexion der Krim, ganz zu schweigen von einem neuen Krieg?

Die Diskussionen der Linken über die Osterweiterung der NATO beschränken sich oft auf die Frage, wie sich diese auf das Verhältnis zwischen den USA und Russland auswirkt. Das Problem wird damit jedoch nicht ausreichend erfasst. Es kann nicht gelöst werden, ohne die Positionen der kleinen osteuropäischen Staaten miteinzubeziehen. Die Entscheidung zur NATO-Erweiterung wurde auch infolge des Drucks der osteuropäischen Länder getroffen. Ja, die Expansionspolitik der NATO war falsch. Hätten die USA einer umfassenden «Partnerschaft für den Frieden» den Vorzug gegeben, wären die Interessen sowohl Russlands als auch der Ukraine berücksichtigt worden. Doch selbst wenn wir all dies anerkennen, haben wir noch keine Antwort auf die Frage, was jetzt zu tun ist.

Die Zukunft der Ukraine nicht in Moskau und Washington entscheiden

Der Kreml mag einen «begrenzten Krieg mit einem leichten Sieg» im Auge haben. Aber die ukrainische Armee ist nicht mehr die aus dem Jahr 2014. Gelingt es dem Kreml nicht, seine Ziele zu erreichen, so könnte ein «kleiner» Krieg schnell eskalieren und sich zu einem viel größeren auswachsen. Klar ist: Wegen der Ukraine darf es keinen Dritten Weltkrieg geben. Biden hat bereits verkündet, dass die USA nicht für die Ukraine in die Schlacht ziehen werden. Allerdings könnte es Millionen Menschen der Hölle eines weiteren Krieges aussetzen, wenn man Putin zu verstehen gibt, dass er mit einem weiteren Krieg davonkommen könnte. Deshalb muss sich die internationale Linke etwas anderes einfallen lassen, um ihre Solidarität zu zeigen.

Dabei sollte die Linke nicht die Perspektive von Staaten einnehmen, sondern einen Standpunkt, der die Interessen der Menschen vertritt. Insbesondere jener Menschen, die auf beiden Seiten der Frontlinie und der Staatsgrenzen am meisten unter dem Konflikt leiden: die Bevölkerung der (potenziellen) Kriegszonen, Vertriebene etc. Die Mehrheit dieser Bewohner*innen ist viel eher zu Kompromissen mit Russland bereit und insbesondere gegen einen Beitritt zur NATO. Die Stimmen dieser Menschen werden in der Ukraine meist ignoriert. Das darf nicht sein, denn Konflikte müssen unter Einbeziehung jener Menschen gelöst werden, die direkt davon betroffen sind. Wir dürfen nicht hinnehmen, dass Moskau und Washington über die Zukunft der Ukraine entscheiden, wie Putin das gerne hätte.

Was Tun?

In der Debatte über mögliche Kompromisse taucht manchmal der Begriff «Finnlandisierung» auf. Statt der NATO beizutreten entschieden die Finnen, die Interessen ihres sowjetischen Nachbarn zu berücksichtigen. Sie schlossen ein bilaterales Abkommen mit der UdSSR. Sollte der Kreml tatsächlich eine neutrale Ukraine wollen, sollte er zunächst Sicherheitsgarantien für die Ukraine und nicht für die NATO anbieten. Des Weiteren muss er im Donbas zu Zugeständnissen bereit sein und zumindest der Entmilitarisierung der Krim zustimmen. Ein stabiler Frieden im Donbas ist außerdem kaum ohne ein internationales Hilfsprogramm zur Wiederbelebung der vom Krieg zerrütteten Region zu erreichen. Dies könnte jenes «Zuckerbrot» sein, das die Parteien von der Notwendigkeit eines Kompromisses überzeugt.

Die ukrainischen Linke vertritt radikal voneinander abweichende Haltungen zum Krieg. Ich habe nur eine davon vorgestellt. Von absolut vorrangiger Bedeutung ist aber ein Punkt: Alle Provokationen im Donbas müssen verhindert werden! Dafür gibt es eine einfache, aber konkrete Forderung, die Menschen guten Willens auf beiden Seiten der Barrikaden, Grenzen und Frontlinien vereinen kann: die Stationierung von UN-Friedenstruppen im Donbas. Ein derartiger Schritt steht im Widerspruch zu den Interessen derjenigen, die sich die Möglichkeit der Anwendung von Gewalt offenhalten wollen. Genau hier sollten wir also ansetzen.

Übersetzung aus dem Ukrainischen: Susanne Macht
Kürzung der Langversion: Mathias Krams

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