Afghanistan: Ein Land unter Dauerbesatzung

Hamayun Eisa im Gespräch mit Mosaik-Redakteurin Mahsa Ghafari über die Situation seiner Familie in Afghanistan, den Status von Frauenrechten und Justiz und die Geschichte des Landes zwischen Besatzung und Widerstand.

Hamayun Eisa lebt seit zehn Jahren in Wien. Er ist ausgebildeter Schauspieler, arbeitet bei der Brunnenpassage und in einem Wohnheim der Caritas für Geflüchtete. Seine Familie betreibt ein mehrstöckiges Einkaufszentrum in Afghanistan. Seit die Taliban die Macht übernommen haben, sind die Hälfte der Läden geschlossen – denn die ansässigen Frauen kaufen keine Kleidung mehr, die sie vermutlich bald nicht mehr tragen können. Gleichzeitig müssen seine Angehörigen plötzlich kein Schutzgeld mehr an regionale Machthaber zahlen. Es wird dauern, bis man weiß, woran man mit der jetzigen Taliban ist, meint Eisa. Er berichtet von der Geschichte Afghanistans, dem Status von Frauenrechten und Justiz, jahrzehntelangen Besatzungen und Widerstand.

Mosaik Blog: Was geht dir durch den Kopf, wenn du die aktuellen Entwicklungen in Afghanistan siehst?

Hamayun Eisa: Ich habe bisher fünf verschiedene Regime in Afghanistan erlebt. Als ich geboren wurde, herrschte noch der letzte König Afghanistans, Mohammed Zahir Shah. Er wurde von Daoud Khan geputscht, der eine Republik gründete und Präsident wurde. Dann kam die kommunistische Revolution, die demokratische Republik Afghanistan wurde ausgerufen. Die Gegner dieses Regimes waren die Mujahedeen. Auch in der Bevölkerung war der Widerstand gegen die sowjetische Besatzung groß. Das mündete letztlich in einem Krieg, der von 1979 bis 1989 andauerte. Zum Ende des Krieges übernahmen die Mujahedeen, mit Unterstützung von Iran, Pakistan, Saudi Arabien und China, die Macht. Die Mujahedeen waren allerdings auch in sich keine einheitliche Gruppe und bildeten unterschiedliche ideologische und ethnische Fronten, die untereinander kämpften.

All diese Kämpfe forderten viele Todesopfer. Die Mujahedeen waren genauso fundamentalistisch wie ihre Nachfolger, die Taliban, deren Bewegung sich in den Neunzigern formte. 1996 unterwarfen sie die Mujahedeen und  errichteten das islamische Emirat Afghanistan. Die Taliban hatten eine harte und der Bevölkerung gegenüber grausame Führung. Der „Wendepunkt“ kam mit 9/11 – der Aufenthalt Osama Bin Ladens, beziehungsweise der Al-Kaida in Afghanistan, ließ die Taliban als Kollaborateure erscheinen. Damit war die Invasion Afghanistans für die USA und ihre Verbündeten legitimiert. Militärisch war die USA natürlich überlegen, auch die mit den Taliban rivalisierenden Mujahedeen wurden in den Kampf miteinbezogen. Nachdem sie gestürzt wurden, zogen sich die übriggebliebenen Taliban in die Grenzregion zu Pakistan zurück, wo sie bleiben und sich offensichtlich auch neuformieren konnten.

Wer genau sind denn die Taliban?

Ideologisch gibt es wenig Unterschied zwischen Taliban und Mujahedeen. Den Taliban gehören auch andere Ethnien wie Usbeken, Tadschiken und eine kleine Anzahl Hazara an. Aber die meisten von ihnen, etwa 60 bis 70 Prozent, sind Pashtunen. Sie sind eine Zusammensetzung aus ehemaligen Mujahedeen, religiösen und politischen Fundamentalisten, die sich zu einer radikalen Gruppe zusammengeschlossen haben. In Pakistan leben viele afghanische Flüchtlinge, die von den Taliban rekrutiert und ausgebildet wurden, in den Schulen religiöse und ideologische Überzeugungen vermittelt bekommen und wie Instrumente nach Afghanistan geschickt werden. Es gibt unterschiedliche Einteilungen innerhalb der Taliban: Die Kämpfer, jene die wirtschaftliche Interessen verfolgen, andere die politische Strategien entwickeln und ganz im Hintergrund sitzen die Anführer, deren Identität oft geheim bleibt und selbst unter den Taliban nur wenigen bekannt ist. Die Sprecher, die in Medien auftreten und nach außen zu sehen sind, übermitteln nur die Botschaften. Die Befehle kommen von anderen.

Wie ging es nach dem Sturz der Taliban in Afghanistan weiter?

Nach dem Rückzug der Taliban wurde in Afghanistan eine, zumindest dem Schein nach, demokratische Republik errichtet. Hamid Karzai wurde Präsident. Auf der Afghanistan-Konferenz in Bonn im Jahr 2001 wurde ein Stufenplan beschlossen. Dieser sah eine umfassende Entmachtung der Taliban sowie die Demokratisierung und Befriedung Afghanistans vor. In einem gebrochenen und zerrissenen Land wie Afghanistan konnten aber keine tatsächlich demokratischen Wahlen stattfinden.

Was nützt es, wenn Frauen an Bildung teilhaben dürfen, aber in 20 Jahren kaum Schulen oder Universitäten gebaut wurden, die sie hätten besuchen können?

Bewaffnete Kämpfe und Konflikte fanden weiterhin statt. Milliarden Dollar für den Wiederaufbau des Landes kamen nicht bei der Bevölkerung an, stattdessen entstand ein hochgradig korruptes und ungerechtes System. Es gab keine zentrale Regierung, sondern regional unterschiedliche und schwer überschaubare Machtverhältnisse. Viele Gebiete wurden weiterhin von Machthabern beherrscht, die unabhängig von der Regierung in Kabul agierten. Hilfsgelder für den Bau von Schulen und Kliniken landeten in den privaten Taschen. Die Frustration der Bevölkerung wuchs.

Es stimmt zwar, dass Frauen wieder mehr Freiheiten hatten, aber selbst das beschränkte sich nur auf bestimmte städtische Gebiete. In den Dörfern sah es anders aus. Was nützt es, wenn Frauen an Bildung teilhaben dürfen, aber in 20 Jahren kaum Schulen oder Universitäten gebaut wurden, die sie hätten besuchen können? Diese angebliche Befreiung war nur Schein.

Die Bilder eines befreiten, geschweige denn sicheren, Afghanistans  stammen also bloß aus bestimmten Gebieten?

Ja, Bildung und andere Privilegien waren vielleicht zehn Prozent der Bevölkerung zugänglich, für den Rest des Landes änderte sich wenig bis nichts. Die Gebiete, wo die Regierung de facto machtlos war, waren selbstverwaltet. Dort hatten weiterhin fundamentalistische Kräfte das Sagen. Frauen sind dort voll verschleiert und können keine Schulen besuchen, es gibt kaum Infrastruktur oder Straßen. Wenn die Menschen medizinische Hilfe brauchen, müssen sie hunderte Kilometer mit dem Esel zurücklegen, um ein Krankenhaus zu erreichen. Viele Frauen sterben nach wie vor bei der Geburt, weil sie es nicht rechtzeitig in eine Klinik schaffen. Diese „Pseudo-Befreiung“ hat so gut wie nichts an den schwierigen Umständen für die in Afghanistan lebenden Menschen und insbesondere Frauen verändert, außer für ein paar wenige in den größeren Städten wie Kabul, Mazar-Sharif oder Herat. Afghanistan besteht aus 34 Provinzen, in den meisten von ihnen leben Frauen weiterhin in Angst.    

Haben  sich die Taliban „geändert“, weil sie zum Beispiel Signale an die schiitischen Hazara sendeten, ihre Religionsausübung anders als unter ihrer ersten Herrschaft zu respektieren?

Die Taliban von heute sind nicht dieselben wie vor 20 Jahren. Aber es gibt nach wie vor hochgradig radikale Fundamentalisten unter ihnen, die noch immer so denken und brutal agieren wollen, wie damals.

Dass die Menschen nun massenhaft versuchen zu fliehen, liegt aber nicht nur an der Machtübernahme der Taliban.

Die heutigen Taliban  geben sich moderater und behaupten, sie würden Frauenrechte dem Islam entsprechend respektieren. Von den Verwandten und Freunden in Afghanistan, mit denen ich im Austausch bin, höre ich, dass es seit ihrer Machtübernahme mehr Sicherheit vor anderen terroristischen und kriminellen Gruppen gibt, da diese die Taliban fürchten. Zudem würden sie die zivile Bevölkerung angeblich weitgehend in Frieden lassen. Es ist völlig unklar, ob da wirklich etwas dran ist. Sicher haben viele Angst davor, wie es unter der neuen Talibanherrschaft sein könnte, wenn sie sich an die Grauen vom letzten Mal erinnern. Dass die Menschen nun massenhaft versuchen zu fliehen, liegt aber nicht nur an der Machtübernahme der Taliban, sondern an der insgesamt immer aussichtsloseren Situation der Menschen in Afghanistan. Die USA wären in der Lage, alle Personen die sie evakuieren müssen, organisiert aus dem Land zu bringen. Es gibt zwei Flughäfen in Kabul.

Angeblich bevorzugten während der US-Besatzung viele Menschen das parallele Rechtssystem der Taliban gegenüber der als korrupt wahrgenommenen Justiz. Was hat es damit auf sich?

Ja das ist richtig. Wenn es Streitigkeiten um Besitz und Grundstücke gab, entschied der Richter immer zugunsten der Seite, die mehr Schmiergeld zahlen konnte und/oder bessere Kontakte hatte. Die Taliban vermittelten dann häufig, erwirkten, dass das Gestohlene zurückgegeben wurde und erarbeiteten sich so die Unterstützung der Bevölkerung.

Zu Beginn der US-Intervention in Afghanistan gab es seitens der afghanischen Bevölkerung viel Hoffnung auf Befreiung, Frieden, Demokratie, Arbeit, Bildung und Entwicklung. Die Ernüchterung kam mit der Etablierung eines hochkorrupten Systems. Dieses bereicherte ein paar wenige, ließ so gut wie nichts bei der Bevölkerung ankommen und stärkte letztendlich aufgrund fehlender Alternativen die Position der Taliban. Die Taliban wussten diese Situation gut für sich zu nutzen, indem sie sich moderater geben und als Gerechtigkeitskämpfer zur Verfügung stellen. In den ärmsten Gebieten bauten sich manche, die aufgrund der Korruption zu viel Geld gekommen waren, riesige Villen. Es gibt Berichte darüber, dass die Taliban sie nun gezielt verfolgen und enteignen.

Man hört aktuell von einigen ersten Protesten gegen die Taliban. Unter anderem auch vom Sohn des Mujahedeen-Kämpfers Massud Panjshir. Wie sind diese Ansätze zu bewerten, wie sehen Menschen in Afghanistan diese Kräfte?

Ahmad Shah Massoud [bekannt für seinen Widerstand gegen die Taliban und als afghanischer „Nationalheld“, Anm.] lehnte die Taliban vehement ab und bekämpfte sie. Er hatte viel Unterstützung von außen, natürlich inoffiziell, aber er trat als Einzelkämpfer auf, der für Demokratie, Freiheit und Frauenrechte stand. In Afghanistan gibt es ein sehr reiches Vorkommen an Edelsteinen und seltenen Erden, woran viele Länder interessiert sind. Diese Akteure bekunden immer die besten Absichten, dahinter stecken aber meistens eigene Interessen. Ich als Afghane traue weder der Taliban, noch der letzten Regierung, der USA oder Massouds Sohn.

Besatzung ist Besatzung und Gewalt ist Gewalt, da gibt es keinen Unterschied.

Welche internationalen Kräften spielen momentan eine Rolle in Afghanistan?

Es gibt viele unterschiedliche Interessen an- und äußere Einflüsse auf Afghanistan, die in Stellvertreterkriegen ausgetragen werden. Die einen gaben an für Demokratie zu kämpfen, die anderen weigerten sich unter einer US-Besatzung zu leben, die sich zur damaligen Besatzung der Sowjets nur darin unterschied, dass sie mit Zustimmung des UN-Sicherheitsrats einmarschierten. Ansonsten hat sie kolonialistische, imperialistische Züge. Besatzung ist Besatzung und Gewalt ist Gewalt, da gibt es keinen Unterschied. Pakistan hat durch die Taliban einen großen Einfluss in Afghanistan und ist sozusagen eine indirekte Besatzungsmacht, die ebenfalls eigene Interessen verfolgt.

Ohne die Unterstützung der großen Weltmächte könnten sich die Taliban nicht an der Macht halten. Sie haben bereits seit einigen Jahren ein offizielles Büro in Doha, Katar, um von dort aus Verhandlungen zu führen. Es ist also naheliegend, dass Katar zu den Profiteuren der neuen Verhältnisse gehören wird, damit auch Saudi Arabien. Auch China und Russland befinden sich schon in Verhandlungen mit ihnen. Die USA und Europa werden mit diplomatischen Mitteln Bedingungen setzen, die Menschenrechte und Sicherheit für Frauen gewährleisten sollen. Ob sie wirksame Druckmittel haben werden, wird sich noch herausstellen.

Wie geht es weiter, wenn die internationale Gemeinschaft und Banken die Taliban nicht anerkennen und daher die Gelder nicht fließen um Infrastruktur, öffentlichen Betrieb, Krankenhäuser oder Schulen aufrecht erhalten zu können?

Die Situation der Zivilbevölkerung würde sich noch mehr verschlechtern, in einem Land das seit 40 Jahren im Dauerkriegszustand lebt. Klar ist, dass die Taliban die Unterstützung und Akzeptanz der Bevölkerung gewinnen müssen, um an der Macht zu bleiben. Wenn es mit den Taliban eine Zeit lang mehr Sicherheit im Land gibt, wäre zumindest der Krieg vielleicht endlich vorbei, irgendwann würde die Wirtschaft sich erholen und es könnte Investitionen geben. Ich kann mir vorstellen, dass der Reichtum an Bodenschätzen, die für die Technologiebranche sehr gefragt sind, dabei eine entscheidende Rolle spielen wird, wie die diplomatischen Beziehungen von Afghanistan sich entwickeln werden. Vielleicht wird Afghanistan ein Land mit streng islamischem Regime wie Saudi-Arabien, wo Frauen zumindest selektive Rechte haben.

Nur ein Frieden, der von innen entsteht, kann in Afghanistan erfolgreich sein.

Gibt es demnach momentan Hoffnung auf bessere Verhältnisse in Afghanistan?

Zur Demokratie ist es noch ein langer Weg. Das Land muss zu Ruhe kommen, Kinder wieder in die Schule gehen und in Sicherheit aufwachsen können, damit aus dem Inneren des Landes heraus etwas besseres entstehen kann. Afghanistan ist ein Land mit einer langen Geschichte, Kultur und Traditionen. Das Land ist multikulturell und beheimatet viele unterschiedliche Ethnien, die an ihren Werten festhalten und keine Einmischung von außen dulden. Es kann deshalb keine künstlich forcierte Transformation von außen geben. Nur ein Frieden, der von innen entsteht, kann in Afghanistan erfolgreich sein.

Das Interview wurde auf Farsi geführt und übersetzt von Mahsa Ghafari

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