Stuart Hall: Was wir vom außergewöhnlichen Intellektuellen lernen können

Heute würde der Soziologe, marxistische Intellektuelle und Aktivist Stuart Hall seinen 90. Geburtstag feiern. Ein guter Anlass, um an ihn und seine hochaktuellen Arbeiten zu erinnern. „Unsere Erinnerung an Stuart Hall ist keine Nostalgie, sondern eine Erinnerung an seinen Auftrag für die Zukunft“, meinen Natascha Khakpour, Ruth Sonderegger und Jan Niggemann.

Stuart Hall hat sich selbst als „Diaspora-Intellektuellen“ und „vertrauten Fremden” beschrieben. Denn sein Weg vom kolonialisierten Jamaika ins Zentrum des britischen Empires hat sein Erfahren, Handeln und Denken geprägt. Er war aber auch ein „organischer Intellektueller“ im Sinne Antonio Gramscis. Auf den italienischen Kommunisten, der Anfang des 20. Jahrhunderts im faschistischen Kerker die Gefängnishefte schrieb, hat sich Hall immer wieder bezogen.

Ein organischer Intellektueller war Hall, weil er Theorie und Politik zusammen gedacht hat und Lernen als Teil politischer Auseinandersetzungen begriff. Er hatte keine Scheu davor, aus widersprüchlichen theoretischen Positionen die jeweils wichtigen Punkte herauszuarbeiten und aufeinander zu beziehen. Und er wies auf die Wichtigkeit von Alltags- und Popkultur in Gesellschaftsanalysen hin. Zudem hat sich Hall immer für die Sache vieler anderer Marginalisierter stark gemacht, die wie er aus den verschiedensten Teilen des britischen Empires nach England gekommen waren.

Theorie als Werkzeug, nicht als Schlagstock

Hall argumentierte nicht nur mit strukturalistischen und poststrukturalistischen Werkzeugen. Er hat diese Tools vielmehr mit im Westen lange bekämpften oder ignorierten postkolonialen Theorieansätzen kombiniert. Wie Gramsci ging es ihm um einen hegemonietheoretischen, undogmatischen Marxismus. Das heißt auch, dass Hall wie Gramsci Probleme und Leerstellen des Marxismus nicht vertuscht, sondern systematisch bearbeitet hat.

Theoretisieren verstand er dabei als notwendigerweise kollektive und kontextbezogene wie -abhängige Praxis. So hat der schon zu Lebzeiten berühmte Stuart Hall kein einziges Buch alleine geschrieben. Er arbeitete in Gruppen und Projekten und war nie auf eine Karriere an der Universität aus. Hall verabscheute die Theoriepraxis von universitären Kolleg:innen, die „ihre Arbeitsthemen wie Schlagstöcke im Gepäck herumtragen“.

Kampfansage an die Universität

Er wollte Theorie für alle Formen der Herrschaftskritik benutzen. Deswegen bemühte er sich um die Popularisierung von kritischem Denken und eine enge Verbindung von Pädagogik und Politik. Nicht zufällig hielt er sich nach einem kurzen Aufenthalt in der Elite-Uni Oxford fortan von der britisch-imperialen Bildungsaristokratie fern.

Hall gehörte zu jener ersten Generation postkolonialer Intellektueller in London, die unablässig gegen die kolonialen Strukturen kämpfen mussten, wenn sie überleben wollten. Auch die britische Universität ist dank dieses Kampfes als koloniale Institution sichtbar geworden. Schon Halls Verweigerung des Einzelkämpfertums wurde als Kampfansage an die Universität verstanden.

Erst recht sein Selbstverständnis als ein Lehrer, dem es um das Teilen und kollektive Vermehren von Wissen geht. „Ich selbst sehe mich als Lehrer, aber das scheint den meisten Menschen nicht erhaben genug zu sein“ schreibt Hall in seiner Autobiografie „Vertrauter Fremder“.

Cultural Studies als politisches Theorieprojekt

In Birmingham baute Stuart Hall das bis heute berühmte Center for Contemporary Cultural Studies (CCCS) mit auf. Cultural Studies als Gesellschafts- und Kulturwissenschaften verstehen sich als „politisches Theorieprojekt“ und wollen im Gegensatz zu verstaubtem Disziplinen-Denken lernend, eingreifend und wandlungsfähig sein.

Als Teil einer gesellschaftlichen Linken wollten die Birminghamer Cultural Studies eine institutionelle Praxis entwickeln, die organische Intellektuelle hervorbringen sollte: Menschen, die Gruppen und Kollektive bei der Entwicklung eines (politischen) Selbstbewusstseins unterstützen. Als theoretisch ausgebildete und politisch eingreifende Intellektuelle im Sinne Gramscis, sollten diese Intellektuellen kritisches Denken popularisieren, übersetzen, vermitteln und verbreiten, Weltauffassungen analysieren und verändern, kurz: gemeinsames Lernen organisieren und nicht in oder hinter ihren Texten verschwinden.

In diesem Sinn hat Hall immer daran gearbeitet, dass Lehren und Forschen nicht in die Universitäten und Seminare eingesperrt wird. Das lebte Hall auch. Er gründete Vereine wie die „Sozialistische Gesellschaft“ und Zeitschriften wie die „New Left Review“, war zugleich Hauptschullehrer im armen Ost-Teil Londons. Als das CCCS weltberühmt wurde, hat Hall die Uni Birmingham verlassen, und zwar zugunsten der Open University; damals wie heute die Universität mit den niedrigsten (finanziellen) Zugangshürden in Großbritannien.

Zeitdiagnosen und politisches Vermächtnis

Stuart Hall hat über Fach- und Gruppengrenzen hinweg zeitdiagnostisch brisante Positionen entwickelt – beispielhaft sei der von ihm geprägte Begriff „Thatcherismus” genannt. In ihm verbinden sich Analysen des Scheiterns der Neuen Linken und der sozialen Bewegungen in den 1980ern, politische Kritik, Zeitgeschichte und theoretische Lehre.

Die Themen, die Hall beschäftigt haben, sind nach wie vor von höchster Aktualität: die Bedeutung von Kultur für politische Kämpfe, die Spannung von Identität und Differenz, das (post-)koloniale Verhältnis von Peripherie und Zentrum, Rassismus in kapitalistischen Gesellschaften, Repräsentationen und Kämpfe um Hegemonie. Dabei geht es stets um die historisch informierte Analyse von politischen Konstellationen der Gegenwart, in denen etwas (auf-)bricht. Hall nannte solche Konstellationen „conjunctures”.

Beispielhaft für seine analytische Scharfsichtigkeit und seinen politischen Mut im Umgang mit conjunctures ist das von ihm angestoßene Forschungsprojekt „Policing the Crisis”. Darin werden Aspekte von (nationalen) Identitäten und (repressiver) Staatsmacht in Krisenzeiten behandelt. Ende der 1970er Jahre erschienen, haben die aufgeworfenen Fragen kaum an Aktualität eingebüßt.  

Hoffnung im Herrschaftsgefüge

Hoffnung macht Halls Nachweis, dass selbst die massivsten Herrschaftsgefüge keine Garantie für ihr Andauern besitzen. Herrschaft muss Hall zufolge vielmehr mit einigem Aufwand jeden Tag neu hergestellt werden. Sie kann dementsprechend auch (im alltäglichen Leben) gebrochen, infrage gestellt oder zurückgedrängt werden. Welche Konflikte zwischen theoretischen Projekten ausgetragen werden müssen und wie politische Bewegungen auf der Grundlage ihrer Differenzen Politik machen können, ohne eins sein zu müssen, sind Fragen, die bleiben. Und an die Hall uns immer wieder erinnert.

Damit sind nur die groben Umrisse einer so analytischen wie politischen Haltung skizziert, die auch in der Unübersichtlichkeit und in den Kämpfen der Gegenwart Orientierung gibt. Stuart Hall bleibt für viele Menschen inspirierend. Von Hall kann man nicht zuletzt lernen, keine Berührungsängste zu haben und sich bewusst und systematisch über die Grenzen von Schulen und Ansätzen hinwegzusetzen. Und, dass Denken eine Praxis ist, die gemeinsam gelernt werden kann und muss.

Heute vor 90 Jahren ist Stuart Hall in Kingston (Jamaica) geboren, am 10. Februar 2014 ist er in London gestorben. Unsere Erinnerung an ihn ist keine Nostalgie, sondern eine Erinnerung an seinen Auftrag für die Zukunft – eine Zukunft „without guarantees“. Happy Birthday!

Noch nicht genug gelesen? Hier, hier und hier findet ihr Literaturtipps der Autor*innen zu Stuart Hall.

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