Ostgrenze: Die Folgen der Geflüchtetenpolitik von Polen und der EU

Die humanitäre Katastrophe und das Leid der Flüchtenden im Grenzgebiet zwischen Polen und Weißrussland sind die Folgen der rechten polnischen Regierung, der Arbeit von Frontex und der Haltung der Europäischen Union, schreibt der Soziologe Gavin Rae.

An den Grenzen der Europäischen Union entwickelt sich erneut eine humanitäre Katastrophe. In den letzten Wochen sind mindestens acht Flüchtende bei dem Versuch, von Weißrussland nach Polen zu gelangen, ums Leben gekommen. Die Zahlen dürften weitaus höher liegen. Gruppen von Flüchtenden aus Afghanistan, dem Irak, Kurdistan und Syrien wurden in Wäldern und Sümpfen entlang der Grenze zwischen den beiden Ländern zurückgelassen. Es fehlt ihnen an Nahrung, Wasser, Kleidung und Unterkünften, und die Situation verschlechtert sich mit dem nahenden Winter. Sie sind Opfer eines politischen Konflikts, den sie nicht verursacht haben.

Flüchtende als Spielball der Regierungen

Tausende Flüchtende sind in den letzten Wochen in Weißrussland angekommen, mit der Erwartung von dort in die Europäische Union weiterreisen zu können. Die weißrussischen Behörden unter Präsident Alexander Lukaschenko rächen sich so für die polnische- und die EU-Unterstützung der weißrussischen Oppositionsbewegungen. Die polnische Regierung beschuldigt Weißrussland mittlerweile, einen „hybriden Krieg“ gegen Polen zu führen. Dabei hat die polnische Regierung der belarussischen durch ihre unmenschliche Behandlung der Flüchtenden in die Hände gespielt. Sie hat so erst ermöglicht, Polen als einen Staat darzustellen, der Menschenrechte missachtet.

Die polnische Regierung hält seit 2015 an ihrer harte Haltung gegenüber Flüchtenden fest. Damals weigerte sich die neue Regierung von „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS), die zuvor vereinbarte Quote für die Aufnahme von Geflüchteten als Mitgliedstaat der EU zu akzeptieren. Bereits während des Wahlkampfs 2015 behauptete der Vorsitzende der PiS, Jarosław Kaczyński, Flüchtende würden Krankheiten ins Land bringen. Dieses Mal geht die Regierung noch weiter.

Ausnahmezustand an der Grenze zu Polen

Berichten zufolge haben die polnischen Sicherheitskräfte Flüchtende, darunter auch Kinder, illegal über die Grenze nach Belarus zurückgedrängt. Hunderte von Soldaten sind im Einsatz, entlang der Grenze errichteten sie einen Stacheldrahtzaun. Ende August hat Präsident Andrzej Duda den Ausnahmezustand in der Region entlang der polnischen Grenze zu Weißrussland verhängt. Einige verfassungsmäßige Rechte (z. B. öffentliche Versammlungen) wurden ausgesetzt. Nur diejenigen, die in dem Gebiet leben oder arbeiten, dürfen die Region betreten. Der Erlass verbietet Fotografieren des Grenzgebiets, einschließlich des Fotografierens von Wachpersonal, Polizei, Militär und Grenzinfrastruktur.

Die Europäische Union überlegt derzeit, sich an den Kosten für die Überwachung der polnischen Ostgrenze und den Bau einer Mauer zu beteiligen.

Ende September stimmte das polnische Parlament für eine Verlängerung des Ausnahmezustands. Mitte Oktober stimmten die Abgeordneten für den Bau einer neuen Mauer an der weißrussischen Grenze, deren Kosten auf über 353 Millionen Euro geschätzt wird. Und sie verabschiedeten einen Änderungsantrag, wonach Migrant*innen über die Grenze zurückgeschoben und Asylanträge bei illegaler Einreise ignoriert werden können. Die Europäische Union überlegt derzeit, sich an den Kosten für die Überwachung der polnischen Ostgrenze und den Bau einer Mauer zu beteiligen.

Die Verhängung des Ausnahmezustands bedeutet, Aktivist*innen, NGOs und Journalist*innen können weder die Vorgänge an der Grenze dokumentieren noch den dort untergebrachten Flüchtenden helfen. Die Regierung kann die Flüchtenden so weiter entmenschlichen und die Bedrohungsszenarien ausbauen. Auf einer Pressekonferenz behaupteten Regierungsminister, sie hätten Material von den Mobiltelefonen der Flüchtenden erhalten. Unter anderem pornografische Bilder und Links zu terroristischen Organisationen. Zunehmend verwendet die Regierung brutale und rassistische Kriegsrhetorik und bezeichnet Flüchtende als „Waffen“.

Katastrophe mit EU-Unterstützung

Die Europäische Union unterstützt die Maßnahmen der polnischen Regierung. Jedes Jahr sterben Tausende von Flüchtenden bei dem Versuch, in die Europäische Union einzureisen. Viele der Todesfälle fallen auf die EU-Grenzschutzagentur Frontex zurück. Die Außenminister der Europäischen Union erklärten, sie seien „solidarisch mit Litauen, Lettland und Polen, und bereit, alle Maßnahmen zu ergreifen, um sie zu unterstützen, wenn sich die Situation weiter verschlechtert“. Donald Tusk, ehemaliger Präsident des Europäischen Rates und derzeitiger Vorsitzender der größten polnischen Oppositionspartei Bürgerkoalition (KO), bekräftigte die harte Haltung der Regierung gegenüber Flüchtenden mit den Worten: „Polens Grenzen müssen wasserdicht und gut geschützt sein. Wer das in Frage stellt, hat nicht verstanden, was ein Staat ist. Beim Schutz geht es nicht um antihumanitäre Propaganda, sondern um effizientes Handeln.“

Die Propaganda hat zu einer wachsenden Feindseligkeit gegenüber der Aufnahme von Flüchtenden in Polen geführt. In einer kürzlich durchgeführten Meinungsumfrage sprachen sich fast 55 Prozent der Befragten gegen Einreisen von Flüchtenden nach Polen aus. Über 47 Prozent der Polen befürworten den Bau einer Mauer an der polnisch-weißrussischen Grenze.

Haltung der polnischen Opposition im Wanken

Die humanitäre Katastrophe an der Grenze beginnt jedoch, die öffentliche Meinung in einigen Bereichen zu verändern. Die Frage, ob der Pushback irakischer und kurdischer Familien über die Grenze richtig sei, verneinten 49 Prozent. Trotz der Regierungstreue von Tusk setzen sich einige Politiker*innen seiner Partei KO aktiv für die Unterstützung der Flüchtenden ein. Die Abgeordneten der KO stimmten außerdem gegen die Verlängerung des Ausnahmezustands und den Bau einer Grenzmauer.

Die EU verleiht Polens Haltung Legitimität.

Gleichzeitig bittet die KO die Europäische Union um Unterstützung und hat die Regierung aufgefordert, den Sicherheitskräften von Frontex zu erlauben, die polnische Ostgrenze zu überwachen. Das bisherige Vorgehen von Frontex lässt vermuten, dass dies die Situation nicht verbessern würde. Tatsächlich verweisen PiS-Politiker regelmäßig auf die Unterstützung der Europäischen Union und argumentieren, dass sie im Einklang mit deren Wünschen handeln – die EU verleiht Polens Haltung Legitimität.

Widerstand in Polen

Die Mitte-Links-Fraktion (Die Linke) im Parlament nimmt als einzige Partei eine Position gegen die Maßnahmen der Regierung ein. Sie konzentriert sich auf den Schutz der Gesundheit, des Lebens und der Rechte der Flüchtenden und spricht sich gegen Pushbacks aus. Gruppen von Aktivist*innen und NGOs (wie die Ocalenie-Stiftung) versuchen, Flüchtenden zu helfen und die Gesellschaft für ihre Notlage zu sensibilisieren. Die Mobilisierungen gegen das Vorgehen der Regierung waren zunächst klein, haben aber mit der Verschlechterung der Lage an der Grenze zugenommen.

Am Sonntag, den 18. Oktober, fanden im ganzen Land Demonstrationen statt, Tausende von Menschen marschierten unter dem Motto „Stoppt die Folter an der Grenze“. Die Demonstrierenden trugen Fahnen aus Wärmedecken, um das Leiden der Flüchtenden zu symbolisieren. Solche Aktionen sind wichtig, um den Druck auf die polnische Regierung und die Europäische Union aufrechtzuerhalten und die Bevölkerung an die schrecklichen Ereignisse an den Grenzen Polens zu erinnern.

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