NÖ-Wahl: Der rote Tiefschlaf

Der 29. Jänner 2023 wird als der Tag in die Geschichte Niederösterreichs eingehen, an dem die alles erstickende Dominanz der ÖVP einen historischen Dämpfer erhielt. Boris Ginner über das ÖVP-Desaster bei der NÖ-Wahl, die Gründe für den FPÖ-Erfolg und die Dauerlethargie der Sozialdemokratie.

Mit dem Ende der ÖVP-Allmacht muss Niederösterreich nun vom demokratiepolitischen Mittelalter in die Jetztzeit geholt werden. Keine absolute Mehrheit mehr, minus zehn Prozentpunkte und auch keine Alleinregierung mehr: Der ÖVP ist es erstmals nicht mehr geglückt, ihre dürftige Bilanz mit Showpolitik, Wahlpropaganda und Materialschlachten zu überdecken.

Marketing und Realität lagen in Niederösterreich immer besonders weit auseinander. Vor Wahlen rücken stets Heerscharen von Regionaljournalist:innen aus, um im dichten Intervall Spatenstiche, Kreisverkehr-Eröffnungen und andere feierliche Anlässe von ÖVP-Abgeordneten abzuklappern. Ausgerechnet jene ÖVP-Landespartei, die den Rechtsanspruch auf flächendeckende Kinderbetreuung verhindert hat und eine der schwächsten Versorgungsraten in Sachen Kinderbetreuung vorzuweisen hat, plakatierte landauf, landab „Kinderösterreich“.

Ortskerne und Kleinbauern und -bäuerinnen geopfert

Lichtet sich der blau-gelbe Nebel der Inszenierung, erblickt man ein infrastrukturell ausgedünntes Bundesland: verwaiste Ortskerne und leerstehende Innenstädte, in denen Geschäfte, Wirtshäuser und Bars vor sich hinsterben, aber dafür wuchernde Parkplatz-Betonwüsten rund um Einkaufszentren an Ortsrändern. Leistbarer, sozialer Wohnbau? Auch hier ist das Land säumig. Lieber spekulierte man mit Wohnbaugeldern am Finanzmarkt – mit verheerendem Schaden, für den bis heute niemand zur Rechenschaft gezogen wurde. Aus dem ÖVP-Versprechen einer „Landarzt-Garantie“ von 2018 wurde eine Versiebenfachung der Zahl unbesetzter Praxen.

Die ausgedünnte ländliche Infrastruktur, von Postfilialen, Polizeiposten, Bezirksgerichten bis hin zum Kahlschlag bei den Regionalbahnen, verschlechtert die Lebensqualität vieler Orte. Immer mehr Gemeinden versinken in Schulden und müssen beim Land um Bedarfszuweisungen betteln.

All das ist einer jahrzehntelang regierenden Volkspartei zuzuschreiben. Mit einem starken Fokus auf Personen-Direktwahl (in Niederösterreich gilt „Person vor Partei“, wer also SPÖ und Mikl-Leitner gewählt hat, stimmte für die ÖVP), mittels Hofberichterstattung der wenigen Medien im Lande (Raiffeisen- und Kirchen-Blatt NÖN sowie der ORF NÖ, der lange Propagandamedium war), aber auch dank eines perfekt geölten Parteiapparats, hielt die ÖVP diese Dominanz aufrecht.

Doch selbst in Niederösterreich ist die ÖVP nicht frei von Widersprüchen. Bauernbund-Spitzen im Trachtenanzug reden gerne der kleinstrukturierten Landwirtschaft das Wort, während sie gleichzeitig Großgrundbesitz, Agrarkonzerne und adelige Gutserben fördern. „Vorspannmechanismus“ nennt Josef Krammer, langjähriger Leiter der „Bundesanstalt für Bergbauernfragen“, diesen Missbrauch kleiner Bauern und Bäuerinnen für die Interessen der Agrarkonzernen. Die Linke muss auch das Thema Landwirtschaft ernster nehmen. Denn an einer Umkehr in der Landwirtschaftspolitik in Richtung regionale Vermarktung führt auch aus Klimaschutzgründen kein Weg vorbei.

Dauerlethargie der Sozialdemokratie

Profitieren konnte vom ÖVP-Absturz vor allem die FPÖ, und – mit kleineren Gewinnen – Grüne und NEOS. Die SPÖ verzeichnete trotz unbeliebter Bundesregierung und perfekter Themenlage rund um Teuerung, steigende soziale Ungleichheit und Gesundheit, einmal mehr eine Wahlschlappe. Mit Mikl-Leitners Worten gesprochen, steht einiges auf dem Spiel: Zum einen ist das Ende der ÖVP-Allmacht eine Riesenchance. Zum anderen ist klar: Wenn sich die (Bundes-)SPÖ nicht endlich rasch neu aufstellt, winkt womöglich ein Kanzler Kickl – oder erneut Schwarz-Blau.

Ein zentraler Grund für die SPÖ-Niederlage ist sicherlich der Zustand der Dauerlethargie seit 2017. Sie konnte weder die sozialpolitischen Verbrechen der türkis-blauen Koalition, Ibiza, die Korruptionsaffäre der türkisen Buberlpartie, noch das miserable Corona-Management nutzen, um sich als ernsthafte Alternative zur ÖVP-Regierung (egal ob mit blauem oder grünem Anhängsel) zu positionieren. Wann immer es eigentlich eine Kampfansage der größten Oppositionspartei gebraucht hätte (und die Leute sehnlichst darauf gewartet hatten), kam von der SPÖ: erst einmal nichts. Zu spät, zu zögerlich, zu wenig ambitioniert. Ohne Leidenschaft.

Die Richtung stimmt schon lange nicht mehr

Die Ibiza-Affäre wurde nicht nur nicht genutzt – die SPÖ hat sogar verloren. Bei den Nationalratswahlen 2019 erzielte sie mit 21 Prozent das schlechteste Ergebnis in der Geschichte und lag damit 16 Prozentpunkte hinter der ÖVP (!). Statt nach diesem Debakel die Konsequenzen zu ziehen, ließ die Wahlverliererin ausrichten: „Die Richtung stimmt!“. Auf die Frage, wofür die Sozialdemokratie eigentlich stehe, antwortete die Parteichefin kurz nach der Wahlschlappe im ORF-Report, man werde das jetzt erarbeiten – symptomatisch. Selbst die Corona-Pandemie, eigentlich zugeschnitten auf die Parteichefin, konnte sie nicht nutzen. Und jetzt versagt die Partei auch bei einem klassischen Verteilungsthema: der Teuerung und dem Kampf gegen die immer krassere Ungleichheit.

Weit und breit ist von ernsthaften Vorbereitungen auf eine Machtübernahme nichts zu spüren. Wo ist das rote Schattenkabinett? Wann werden mit Expert:innen Konzepte ausgearbeitet und massenwirksam verkauft? Wo bleibt die strukturelle Erneuerung des Parteiapparats? Es ist seit Jahren dasselbe Problem: Schwache Parteiführungen umgeben sich mit loyal Ergebenen, bunkern sich ein und entwickeln einen Tunnelblick. Kritik nehmen sie persönlich- und kompetente Genoss:innen als Konkurrenz und Gefahr wahr. So kommt es zu einer „Negativselektion“ – das personelle Aufgebot ist Ergebnis dessen. Schlimmer noch als das mangelnde Problembewusstsein der Parteiführung ist die Untätigkeit der restlichen Akteur:innen, die in der Partei ein Wörtchen mitzureden haben. Es scheint, als habe man sich mit dem (eigentlich leicht abwendbaren) Untergang abgefunden.

NÖ-Wahlsiegerin FPÖ

Wer selbst mit Passivität glänzt, überlässt das Feld einem FPÖ-Chef, der sich sehr geschickt als Systemalternative präsentiert. Herbert Kickl hat es gut verstanden, sich bereits in Zeiten der Corona-Pandemie als Antithese zur Bundesregierung zu positionieren. Er sammelt die Unzufriedenen und steht für „Anti-Establishment“. Wieder einmal gelingt es ausgerechnet jener Partei, in deren Parlamentsklub es vor gut betuchten Notaren nur so wimmelt, sich als Underdog und Protestpartei für die „normalen Leute“ darzustellen. Wer der Regierung und „dem Mainstream“ eine verpassen möchte, wählt aus Protest blau – nicht rot.

In punkto Corona-Politik gelang es der FPÖ, den vor allem in den Landgemeinden erheblichen Widerstand gegen die (letztlich abgeblasene) Impfpflicht abzuholen. Gerade dort, wo die Impfquote niedrig war, verlor die ÖVP besonders kräftig Richtung FPÖ. Teilweise 20 Prozentpunkte (etwa in Waidhofen/Ybbs und diversen Landgemeinden des westlichen Mostviertels). Mit der Ablehnung der Russland-Sanktionen, besetzen die Blauen eine Position, die wohl in der Bevölkerung und auch unter SPÖ-Wähler:innen eine Mehrheit hat. Kickl mimt erfolgreich den „Bürgerschreck“ gegen eine als abgehoben wahrgenommene Elite, er ist Gegenpol zum bürgerlich-liberal-grünen Mainstream. Da sind die Worte des Bundespräsidenten, er werde Kickl niemals als Kanzler angeloben, nur Wasser auf seine Mühlen.

Für gesunden Zorn statt individualisierte Aufstiegsversprechen

Der Sozialdemokratie gelingt es seit Jahren immer weniger, jene Menschen zu erreichen, für die sie eigentlich gegründet wurde: Arbeiterinnen und Arbeiter, sozioökonomisch Nichtprivilegierte, Menschen, die hart schuften müssen, um über die Runden zu kommen. Gerade in SPÖ-Hochburgen bleiben Wähler:innen zu Hause. Sie sind aufgrund fehlender österreichischer Staatsbürgerschaft gar nicht erst wahlberechtigt oder wandern Richtung Blau ab. Zu dieser zunehmenden Entfremdung von der eigentlichen Wähler:innenbasis trägt auch Rendi-Wagners bildungsbürgerlicher Diskurs vom Bildungsaufstieg bei. Statt Verteilungspolitik zu machen, gesunden Zorn auf die bestehenden Verhältnisse zu vermitteln und systemgemachte Missstände zu beheben, damit gar nicht erst „aufgestiegen“ werden muss, individualisiert sie soziale Probleme. Unbeabsichtigt, aber doch, schwingt dabei Verachtung gegenüber all jenen mit, die diesen Aufstieg nicht „schaffen“.

Wie es in Niederösterreich und im Bund weitergeht, wird stark davon abhängen wie SPÖ und FPÖ nun die Schwäche der ÖVP, seit Jahrzehnten Epizentrum der konservativen Macht im Staate, nutzen werden. Dies muss bereits im Zuge der Verhandlungen über die neue Landesregierung gelingen. SPÖ und FPÖ sollten der ÖVP das entscheidende Finanzressort abringen, Investitionspakete in die ländliche Infrastruktur (Stichwort Kinderbetreuung, Regionalbahnen) zur Bedingung machen und „echte“ Ressortzuständigkeiten erkämpfen. Andernfalls vergibt man eine historische Chance.

Für die SPÖ gilt: Um die Macht der ÖVP zu brechen und der FPÖ eine echte Alternative entgegenzusetzen, sind Personalwechsel auf Landes- und Bundesebene bestenfalls ein vorsichtiger erster Schritt.

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