„Die kurdische Frauenbewegung ist organisierter und radikaler geworden“

Klaudia Rottenschlager sprach mit der Sozialwissenschaftlerin und Aktivistin Dilar Dirik über die kurdische Frage, internationale Solidarität und den Krieg in Syrien.

Vor sechs Jahren, in einer Jännernacht 2013, wurden die drei kurdischen Aktivistinnen Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez durch Kopfschüsse in Paris ermordet. Der Mordfall wurde nie aufgeklärt. Die französischen Behörden ermittelten auch gegen den türkischen Geheimdienst.

mosaik: Was ist das Vermächtnis der Mordopfer für den kurdischen Befreiungskampf?

Dilar Dirik: Die kurdische Frauenbewegung nimmt die Morde als einen physischen und ideologischen Angriff wahr. Es geht hier nicht nur um einen politischen Mord, es ist auch ein Femizid. Besonders das Leben von Sakine Cansız stellt eine Chronologie des kurdischen Kampfes dar. Sie ist nicht nur Mitbegründerin der PKK, sondern auch eine der Gründerinnen der kurdischen Frauenbewegung. Cansız, die schon zu Lebzeiten für ihren Widerstand im Gefängnis in Diyarbakır und ihrer Zeit in der Guerilla eine Legende war, wurde damals nicht nur getötet, um die Friedensverhandlungen zu sabotieren. Es war vor allem ein gezielter Angriff auf den Widerstand von Frauen. Von Anfang an war klar, dass der türkische Geheimdienst hinter diesem Mord steckt.

Es war ein Versuch das Herz der kurdischen Freiheitsbewegung anzugreifen, aber das hat nicht geklappt. Die kurdische Frauenbewegung ist dadurch viel radikaler und organisierter geworden. Sakine Cansız hat in den 90er Jahren in Rojava, in Syrien gearbeitet und gelebt und hat somit die Samen für die Frauenrevolution gesät. Viele Frauen, die in den letzten Jahren gegen den IS gekämpft haben, kannten sie und waren durch ihre Arbeit inspiriert. Auch für die Frauen in der Gesellschaft war ihre Vorreiterinnenrolle von historischer Bedeutung. Eine Person wie sie, die sexuelle Folter in Gefängnissen und Krieg überlebt hat, auf so niederträchtige Weise zu ermorden, zeigt was für eine große Gefahr sie für das Patriarchat darstellt.

Für kurdische Frauen ,vor allem für jüngere Generationen, heißt das, dass ihnen eine neue Form von Identität präsentiert wird. Durch den Widerstand der von solchen radikalen, militanten Frauen geleistet wurde, hat sich auch das Frau-Sein in Kurdistan verändert. Du bist nicht nur Schwester, Liebhaberin, Tochter oder Mutter, sondern du bist du selbst. Du bist eine organisierte Frau, die ihr Leben selbst bestimmen kann. So viele der Kämpfer_innen, die gegen den IS oder den türkischen Staat kämpfen, tragen die Codenamen dieser drei ermordeten Frauen – Ronahi, Rojbin und Sara.

Du arbeitest in der internationalen Vernetzungsarbeit der kurdischen Bewegung. Was bedeutet Solidarität für dich?

Die kurdische Frauenbewegung sagt immer, dass unser Kampf ein universeller Kampf ist. Das heißt nicht, dass in unterschiedlichen Kontexten auf dieser Welt die Kämpfe keine unterschiedlichen Formen annehmen können. Jedoch sind sich die Systeme gegen die wir kämpfen oft sehr ähnlich oder miteinander verschränkt. Gerade weil Kurdistan damals von den Kolonialmächten auf vier verschiedenen Nationalstaaten aufgeteilt wurde, hat das eine internationale Dimension. Eine Lösung der kurdischen Frage, muss also auch eine internationale sein. Somit kommen wir auch zum Internationalismus zurück.

Wir müssen aufhören immer von Solidarität zu sprechen als wäre das etwas, das wir einander schulden. Wir müssen anfangen, gemeinsam zu kämpfen. Die Kämpfe anderer gegen Rassismus, Kolonialismus, Kapitalismus und Sexismus sind auch meine. Aber linke Bewegungen sind im Moment sehr fragmentiert und schwach. Vor allem wenn wir uns die ökologische Lage der Welt anschauen, den Krieg im Jemen und den Krieg in Syrien.

Im Nordosten Syriens erkämpften kurdische Einheiten im Zuge des syrischen Bürgerkrieges Autonomie für die Region Rojava. 2016 erklärte sich Rojava zur demokratischen Föderation. Das Gebiet liegt an der südlichen Grenze der Türkei. Das türkische Militär ging seit Winter 2016 wiederholt gegen Rojava vor und brachte unter anderem die Stadt Afrin unter ihre Kontrolle.

Was ist deine derzeitige politische Einschätzung zur Situation der kurdischen Gebiete in Nord-Syrien, vor allem unter dem bevorstehenden Abzug der US-Bodentruppen?

Es war von Anfang an klar, dass ein Experiment und eine Erfahrung in Rojava nicht in Isolation bestehen kann. Das war ein gewaltiger Krieg, der so vielen Menschen in Syrien und im Irak das Leben gekostet hat. Von Anfang an haben die Leute in Rojava gesagt, dass dieser Ort so nicht ohne die Demokratisierung von Syrien bestehen bleiben kann.

Es geht nicht darum, dass wir uns hier einen heiligen Ort aufbauen und der Rest des Lande zu Grunde geht. Man hat sehr früh angefangen, Kontakte zu progressiven arabischen Kräften vor Ort und im Exil aufzubauen. Aber die Tatsache, dass sich so viele Großmächte auf Syrien gestürzt haben, ist vernichtend. Sie haben nicht nur das Land unter einander aufgeteilt, sondern auch die Menschen gegeneinander aufgehetzt und alte Beziehungen zerstört.

Das Projekt Rojava ist abhängig von einer politischen Lösung für den Krieg in Syrien. Gleichzeitig hängt das damit zusammen, dass wir auf internationaler Ebene Kräfte entwickeln und Bewegungen aufbauen, die die internationalen Mächte und ihre Verstrickungen im Krieg sichtbar machen und zur Verantwortung ziehen. Durch deutsche, französische, amerikanische, britische und russische Waffen wird dieser Krieg aufrecht erhalten. Wir sprechen in der kurdischen Bewegung oft vom dritten Weltkrieg, der hier in diesem Land tobt.

Das internationale System ist nicht daran interessiert, diesen Krieg zu befrieden. Trotz des illegalen Einmarsches der Türkei im Jänner 2018 in Afrin und der systematischen Kriegsverbrechen ihrer Alliierten herrscht Stille. Seit 2013 hat man versucht, dass die Vertreter_innen Nord-Syriens an den verschiedenen internationalen Treffen beispielsweise in Genf teilnehmen. Die Türkei hat das immer wieder verhindert. Zur gleichen Zeit hat die Türkei auch innerhalb die Angriffe gegen Kurd_innen fortgesetzt. Europa, vor allem von Deutschland, hat das noch unterstützt. Eine politische Lösung des Kriegs wurde international bewusst verhindert.

Was bedeutet es für die solidarische Zusammenarbeit unter Syrer_innen, wenn die amerikanische Luftwaffe, die die kurdischen Gebiete schützt, seit Jahren massive Bombardierungen in anderen Gebieten Syriens durchführt?

Es ist wichtig zu sagen, dass die Menschen in Rojava ganz genau wissen, dass sie nicht auf die Amerikaner oder andere Großmächte vertrauen können. Ich war letztes Jahr im Mai in Manbij. Das ist eine Stadt, die sehr lange vom IS besetzt war und in der viele verschiedene Gruppen zusammen leben. Man konnte das Misstrauen unter den Menschen fast in der Luft riechen. Ich betone es noch einmal, dieser Krieg hat durch das Eingreifen so vieler internationaler Mächte von außen sehr viel zerstört, auch in Rojava.

Das Eingreifen der USA, der saudischen Regierung, des Iran, sie alle haben dazu beigetragen, dass sich das Gesicht dieses Krieges geändert hat, indem sie verschiedene Gruppen bewaffnet haben. Die Tatsache, dass Amerika seit 2012 versucht, dass das was in Rojava basierend auf revolutionären Prinzipien aufgebaut wurde, auf eine liberale Linie zu bringen, spricht Bände. Sie wollen nicht nur sektiererisch intervenieren wie in Irakisch-Kurdistan, sondern sie versuchen eine Enklave des pro-Amerikanismus zu schaffen. Das ist ein Spiel, um die Kurden gegen andere Gruppen aufzuhetzen oder umgekehrt.

Wie sieht dieses Zusammenleben im Alltag aus?

Wichtig ist, dass die verschiedenen Gruppen in ihren Nachbarschaften immer zusammengelebt haben. Sie haben unter einander geheiratet, haben voneinander gelernt und haben zusammen gearbeitet. Es ist diese Kultur, die wieder mühsam und noch jahrzehntelang aufgebaut werden muss. Man kann soviel über Rojava reden und dann verliert man aber den Blick, was dieser Krieg für andere Bevölkerungsgruppen bedeutet hat. Man kann darüber sprechen, dass die strategische Allianz mit Amerika wichtig war, weil man dem mörderischen Regime des IS etwas entgegen halten musste. Gleichzeitig muss man sich die Frage stellen, was die amerikanische Präsenz in der Region bedeutet? Es ist wichtig, dass Menschen vor Ort eine Stimmen in den Verhandlungen bekommen. Sie haben mitbekommen, was die USA ihren Nachbar_innen im Irak angetan hat. Ihnen sind die Kalkulationen von Großmächten bewusst.

Die Tatsache, dass Trumps Entscheidung des Abzugs genau zu dem Zeitpunkt kam, als die Türkei angedroht hat, ein neues Massaker anzurichten, ist fatal. Mit den Erfahrungen der ethnischen Säuberungen in Afrin die von der zweit-größten NATO-Armee der Türkei durchgeführt wurden, werden jetzt wohl strategische Gespräche sowohl mit den USA als auch mit der syrischen Armee stattfinden. Im Moment sieht es so aus, dass auch französische Truppen in Nord-Syrien stationiert bleiben. Die regionale Selbstverwaltung wird das tun, was die meisten Menschen schützen wird. Wenn das bedeutet, dass sie mit dem gleichen Diktator, der nicht nur sie unterdrückt und gefoltert hat, sondern auch Hunderttausende andere Syrer_innen, dann zeigt das nur, wie sehr internationale Mechanismen gescheitert sind. Die meisten Dynamiken des Krieges sind leider nicht in den Händen der Leute vor Ort. Der Vorschlag der Menschen vor Ort wäre eine Flugverbotszone, um ein erneutes Blutvergießen durch die türkische Armee zu verhindern.

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