Nach fast fünf Monaten Belagerung durch den so genannten „Islamischen Staat“ ist Kobanê befreit. Die Stadt ist allerdings weitgehend zerstört und benötigt dringend Mittel für den Wiederaufbau.
Seit Beginn des zweiten IS-Angriff auf den kurdischen Kanton Kobanê Mitte September 2014, wurde die kurdische Stadt an der türkischen Grenze zu einem Symbol des Widerstands gegen die Jihadisten. Während die kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG und die Frauenverteidigungseinheiten YPJ verzweifelt die Stadt verteidigten, flüchteten die meisten ZivilistInnen in die Türkei. Rund 180.000 Menschen aus Kobanê befinden sich derzeit laut kurdischen Angaben dort. Allein in der Grenzstadt Suruç, eine Kleinstadt mit knapp 58.000 EinwohnerInnen, leben derzeit über 67.000 Flüchtlinge. Das Stadtzentrum ist voller Männer aus Kobanê, die versuchen Informationen über ihre Dörfer zu bekommen oder auf der Suche nach einer Beschäftigung als Tagelöhner sind.
Die meisten der Flüchtlinge sind in Camps untergebracht, die von Organisationen der kurdischen Bewegung organisiert werden. Ein großes Camp der türkischen Regierung steht weitgehend leer. Wer hier lebt, wurde teilweise gegen seinen Willen hergebracht. Das Regierungscamp ist von einem doppelten Stacheldraht umgeben und befindet sich weit ab jeder anderen Siedlung. Die Camps der kurdischen Bewegung sind in der Stadt oder zumindest in der Nähe der Stadt. Wer hier untergebracht ist, wird nicht isoliert, sondern ist Teil der kurdischen Bevölkerung in der Region.
Im Arîn Mirxan Camp leben 3.000 Flüchtlinge, darunter 1.706 Kinder und Jugendliche unter 17 Jahren. In einem Zelt wurde eine notdürftige Schule errichtet. Lehrer aus Kobanê setzen hier ihren Unterricht auf Kurdisch fort. Die Flüchtlinge im Regierungscamp lernen Türkisch lernen und eine große türkische Fahne klar macht, wer hier das Sagen hat. Im Arîn Mirxan Camp dominiert die kurdische Bewegung. Die hier untergebrachten Flüchtlinge sind vielfach hochgradig politisiert. Im Gegensatz zu den kurdischen Flüchtlingen aus dem Nordirak, ist hier niemand zu finden, der oder die nach Europa wollen würde. Frauen, Männer und selbst Kinder, erklären stolz, so schnell wie möglich nach Kobanê zurückkehren zu wollen.
Derzeit herrscht in den Flüchtlingscamps Siegesstimmung. Zum ersten Mal seit September, haben die Kurdinnen und Kurden hier etwas zu feiern. „So schnell werden wir allerdings nicht zurück können,“ merkt die fünffache Mutter Shirin aus einem kleinen Dorf in der Umgebung von Kobanê an. „Unser Dorf wurde gestern befreit. Aber der IS ist immer noch in der Gegend und wir wissen nicht was sie alles zerstört haben. Wenn der IS einmal wirklich vertrieben ist und die Sicherheitslage in Ordnung ist, dann werden wir keinen Tag länger mehr hier bleiben.“
Die Menschen sind dankbar, dass sie von ihren Verwandten nördlich der Grenze gut aufgenommen wurden. Zweimal täglich wird Essen ins Camp geliefert. Im Jänner wurde allerdings plötzlich das Frühstück gestrichen. Sirwan aus der Stadt Kobanê weiß nicht warum und merkt an, dass es auch an anderem fehlt: „Es gibt hier keine Ärzte! Die medizinische Versorgung ist sehr schlecht. Aber wenn wir jetzt zurückgehen, dann ist es auch nicht besser. In Kobanê ist ja alles zerstört. Dort gibt es nichts mehr.“
Tatsächlich ist die Zerstörung der Stadt bereits von der türkischen Seite der Grenze aus zu erkennen. Kobanê ist ein Trümmerfeld, das völlig neu aufgebaut werden muss. In der kurdischen Bewegung wird darüber diskutiert, ob die Stadt vielleicht gar nicht wieder aufgebaut wird, sondern als Mahnmal erhalten bleiben und daneben völlig neu errichtet werden soll. Das „Wiener Spital“ von Kobanê, das der in Wien lebende aus der Stadt stammende Arzt Ezzat Afandi seit dem Frühling 2014 betrieb, ist heute zerstört und geplündert. Es ist das einzige größere Gebäude, das zumindest noch in seinen Grundmauern steht. Der Unfallchirurg des Wiener Wilhelminenspitals, der das Spital aus seinen privaten Mitteln errichtet und betrieben hatte, will sein Spital wieder aufbauen. Weil sein Privatvermögen durch den ersten Spitalsbau aufgezehrt wurde, werden dringend öffentliche Mittel benötigt.
Allerdings ist nicht nur Geld von Nöten, sondern auch ein Korridor für Hilfsgüter. Die Grenze nach Kobanê war die ersten Tage nach der Vertreibung der IS-Kämpfer teilweise für JournalistInnen geöffnet. Danach riegelten die türkischen Grenzbehörden die Stadt wieder ab. Hilfslieferungen kommen nur sehr mühsam, teilweise nach mühsamen Verhandlungen mit den türkischen Behörden, teils über nächtliche Schmuggelpfade in die Stadt. Bis heute weigert sich die Türkei die Grenze zu öffnen. So bleibt die wichtigste Forderung des Premierministers von Kobanê Enver Muslim: „Ohne eine Öffnung der Grenze zur Türkei können wir die Stadt nicht wieder aufbauen. Wir brauchen dazu auch die Unterstützung Europas, finanziell und politisch!“
Militärisch haben die Einheiten der YPG/YPJ mit verbündeten Peshmerga und FSA-Einheiten mittlerweile fast den gesamten Kanton Kobanê zurückerobert. Im Osten stoßen sie derzeit gerade auf die arabische Stadt Tal Abyad vor. Dies deutet darauf hin, dass die kurdische Strategie derzeit darauf abzielt, den IS von möglichen Nachschubwegen aus der Türkei abzuschneiden und einen Korridor zwischen den Kantonen Cizîre und Kobanê zu erkämpfen. Damit wäre man nicht mehr ausschließlich von einer Grenzöffnung durch die Türkei abhängig, sondern könnte über die Cizîre auch in den Irak kommen. Allerdings wäre auch dies kein sicherer Zugang zu Kobanê. Immerhin spitzt sich in den letzten Wochen der innerkurdische Konflikt zwischen der in Rojava regierenden PKK-Schwesterpartei PYD und der in Irakisch-Kurdistan regierenden PDK Masud Barzanis weiter zu. Aktueller Streitpunkt dieses langjährigen Konfliktes ist die Zukunft des ezidischen Shingal im Irak. Dort bekämpfen derzeit Einheiten der PDK-Peshmerga, der PKK/HPG und der PYD/YPG, sowie von zwei unterschiedlichen ezidischen Kampfverbänden mit Nähe zur PKK und zur PDK den IS. Noch bevor der IS aus diesem Gebiet vertrieben ist, sind bereits Machtkämpfe um die zukünftige Verwaltung Singals im Gange.
Der Vorstoß nach Tal Abyad könnte allerdings ein Ablenkungsmanöver sein. Ebenso interessant wie die Verbindung zwischen den beiden Kantonen nach Osten, wäre auch die Region um die Stadt Jarablus im Westen von Kobanê. Im Gegensatz zu Tal Abyad, ist die Region um Jarablus nicht ausschließlich arabisch, sondern von einer gemischten kurdisch-arabischen Bevölkerung geprägt. Seit die IS-Kämpfer im Jänner 2014 die Stadt erobert hatten, drehten sie die von hier aus erfolgte Wasserversorgung von Kobanê ab. Sollte es den kurdischen Einheiten gelingen hier gemeinsam mit den in Azaz stationierten Einheiten der Islamischen Front (IF), den IS von der türkischen Grenze zu vertreiben, wäre Kobanê auch über Azas wieder erreichbar. Das Verhältnis zwischen YPG und IF ist zwar nicht gut, allerdings gibt es zumindest einen Waffenstillstand. Der weiter westlich gelegene kurdische Kanton Afrin ist nur über den Grenzübergang bei Azaz, der von der Türkei weiter offen gehalten wird, erreichbar. Wenn der IS aus der Region um Jarablus vertrieben würde, würde dieser Zugang auch für Kobanê möglich werden.
In welche Richtung auch immer der Vormarsch der YPG/YPJ und ihrer Verbündeten geht, militärische Erfolge stellen erst die Grundlage für den wesentlich schwierigeren Wiederaufbau der Region dar. Dieser und die Rückkehr der Flüchtlinge werden noch wesentlich länger dauern als die militärische Bekämpfung des IS. Ohne Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft wird dies nur schwer zu bewerkstelligen sein.
Thomas Schmidinger ist Lektor am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien und im MA Lehrgang für Interkulturelle Soziale Arbeit an der FH Vorarlberg. Er ist Generalsekretär der Österreichischen Gesellschaft zur Förderung der Kurdologie, Vorstandsmitglied der in Kurdistan tätigen Hilfsorganisation LeEZA und hat im Herbst das Buch „Krieg und Revolution in Syrisch-Kurdistan“ veröffentlicht.