Warum „Bleiben Sie Kanzler?“ eine eigentümliche Frage ist

Wieso eine Korruptionsaffäre und ein „lupenreiner“ Kanzler in der öffentlichen Wahrnehmung kein Widerspruch sind, erklärt Mosaik-Redakteur Paul Herbinger.

„Bleiben Sie Kanzler?“ wird Sebastian Kurz von Martin Thür im Fernsehen gefragt. Damit spricht Thür die Frage aus, die gerade allen auf der Zunge liegt. Was er nicht ausspricht ist, was viele bei der Frage empfinden: Sie ist irgendwie eigentümlich, die Frage. Sie fühlt sich fast rhetorisch an. Weshalb sie das tut, zeigt die Antwort von Kurz. „Ja selbstverständlich!“, sagt er. Und wir spüren es im Urin: Er hat Recht.

Ähnliche Gefühle kommen auf, wenn die ‚Experten‘ im Rundfunk mit ihren politischen Einschätzungen plausible Aussagen treffen, die sich gleichzeitig aber wie leere Versprechen anhören. Zum Beispiel der Weinzettl, der meint: „Also wenn das so stimmt, wie’s auf diesen über hundert Seiten dargelegt … würde … man muss im Konjunktiv bleiben, würde diese Affäre ein System der Inseratenkorruption offenlegen, in einer Deutlichkeit das es einem – man muss es so sagen – die Spucke wegbleibt.“ Oder der Filzmaier, der behauptet, wenn an dem Verdacht der Staatsanwaltschaft was dran ist, wird die Causa weit größere innenpolitische Folgen haben als Ibiza. Alles sehr plausibel – außer das mit den Folgen. Irgendwie fühlen sich die nicht glaubhaft an.

Es ist nicht so, dass irgendwer das massive System von Inseratenkorruption für unplausibel halten würde. Die rechtswidrige Verflechtung von Politik und der armseligen Medienlandschaft in Österreich auf Kosten öffentlicher Gelder ist Teil des Alltagswissens im Land. Wenn es immer wieder mal auffliegt, erfahren wir nichts was wir nicht eh schon wussten, außer vielleicht die neuen Namen der Tagesbeschuldigten. Spätestens seit Ibiza wissen es sogar die im Ausland. Was kein ‚Experte‘ anspricht und was die Frage „Bleiben Sie Kanzler“ so eigentümlich macht ist, dass wir die Korruption der ÖVP (immer und überall gilt die Unschuldsvermutung) ohne Probleme als kollektives Wissen mit dem Image des lupenreinen Kanzlers und seinen Konsorten versöhnlich aufrecht erhalten können. Und der Grund dafür ist, dass nicht unser Wissen über die Korruption und Propaganda der ÖVP zählt, sondern die eines Anderen. Genauer gesagt, eines großen Anderen.

Der große Andere und die Sache mit dem Bier

In der Lacan’schen Psychoanalyse findet sich eine Denkfigur, aktualisiert und popularisiert durch Slavoj Žižek und Mark Fisher, die helfen kann, diesen scheinbaren Widerspruch denkbar zu machen.

Folgende Situation: Zwei Personen treffen sich auf ein Bier. Beide wissen, dass die jeweils andere Person kein Geld für das Bier hat, das sie gerade trinken. Weil jedoch keine der beiden diesen Umstand gegenüber der anderen Person ausgesprochen hat, können sie sich den ganzen Abend so verhalten, als wüssten sie nichts. Fröhlich trinken beide Biere, um am Ende des Abends ‚überrascht‘ festzustellen, dass die jeweils andere Person nichts auslegen kann. Hätte irgendwer mal ausgesprochen „du hast ja auch kein Geld da“, würde das Ganze nicht mehr funktionieren. In beiden Situationen wissen beide Personen immer genau dasselbe. Niemand hat Geld. Warum also können die beiden in der einen Situation den Abend betrunken beenden und in der anderen nicht? Hier kommt der große Andere ins Spiel.

Wenn die beiden gegenüber der anderen Person aussprechen, dass niemand Geld hat, verraten sie einander nichts Neues. Aber sie verraten es dem großen Anderen, der bislang nichts davon wusste. Der große Andere ist (zu) kurz gesagt eine kollektive Fiktion. Bis es jemand ausspricht, herrscht die kollektive Fiktion, dass keine der beiden von dem leeren Geldbörserl der anderen Bescheid weiß. Sobald es aber ausgesprochen wird, weiß auch der große Andere Bescheid und die kollektive Fiktion verändert sich.    

Propaganda und der Kanzler

Zurück zur Politik. Bei Mark Fisher heißt es: „Tatsächlich könnte man den großen Anderen als den Konsumenten von PR und Propaganda definieren“. Wir brauchen ihn um Sachen glauben zu können, obwohl wir gleichzeitig wissen, dass sie nicht stimmen. Der große Andere glaubt sozusagen für uns der ‚offiziellen Wahrheit‘, der PR und Propaganda. Und weil er es tut, kann diese weiterbestehen, trotz dem Wissen und diversen Enthüllungen, die ihr widersprechen.

Žižek und Fisher untermauern das mit dem Beispiel der UdSSR unter Stalin: Weder die Bevölkerung noch die Parteifunktionäre hatten irgendeine Illusion darüber, dass das System schäbig und korrupt war. Jede Alltagsrealität widersprach der offiziellen Propaganda. Aber weil der große Andere nicht darüber informiert wurde, konnte die ‚offizielle Wahrheit‘ neben der widersprüchlichen Alltagsrealität aufrechterhalten werden. In diesem Fall änderte sich allerdings alles, als Chruschtschow 1956 die Versäumnisse der UdSSR zugab, der große Andere plötzlich Bescheid wusste und es unmöglich machte die kollektive Fiktion aufrechtzuhalten.

Wie steht es aber um den großen Anderen und die ÖVP? Weder die Bevölkerung, noch die Politik, noch die großen Medienhäuser (die genauso Nutznießer der Korruption sind wie die Parteien) erfahren im gegenwärtigen Skandal etwas, dass sie nicht schon längst ‚wissen‘. Alle wissen, dass das System schäbig und korrupt ist. Aber gegenwärtig erfährt der große Andere Neues. Neue Namen, neue Schauplätze der Korruption, neue Beträge, neue Formulierungen des Lyrikers Thomas Schmid.

Was der große Andere aber auch erfährt ist, dass der Kanzler sich „beim besten Willen“ nicht vorstellen oder erinnern kann, sich jemals bereichert zu haben, jemals eine Scheinrechnung ausgestellt oder erhalten zu haben. Und diese kollektive Fiktion des lupenreinen Kanzlers ist noch nicht gebrochen, sie bleibt bestehen, im harmonischen Widerspruch zu jeder neuen Enthüllung, jedem Alltagswissen des Funktionierens der österreichischen Politik. Und hierin liegt auch der große Unterschied zum Absturz des Heinz-Christian Straches.

Strache hats verraten, Kurz wird’s niemals zugeben

Als Strache im Ibiza-Video ausspricht sich die Krone kaufen zu wollen, erfahren dies nicht nur wir, sondern er flüstert es dabei auch dem großen Anderen ins Ohr – oder vielleicht hat er eher gelallt. Mit Ibiza bricht eine kollektive Fiktion und beendet kurzzeitig sogar die Kanzlerschaft von Sebastian Kurz. Dieser kam aber wieder. Und jede Vermutung, bei der ÖVP gehe es doch genauso zu wie bei der Koalitionspartei, hatte eine ganz andere Qualität als das Wissen um Strache und die FPÖ.  

Möglicherweise kommt es demnächst wieder zum Ende einer ÖVP-Regierung. Vielleicht zieht sich der Kreis notwendiger Opfer immer enger in das Nahfeld des Kanzlers. Doch klar scheint auch: Die Glaubwürdigkeit der Antwort „Ja selbstverständlich“ bleibt Kurz Kanzler (oder wird es demnächst wieder) bleibt ungebrochen, solange der große Andere keine einschlägigen Geständnisse der Schuld des Kanzlers zu Ohren bekommt. Im Dröhnen der gigantischen PR-Maschinerie der neuen ÖVP darf dieses Geständnis dann auch nicht untergehen. Österreich fehlt sowohl die ernstzunehmende Medienlandschaft, als auch die Zivilgesellschaft, um der Lautstärke der PR etwas abzutun. Lediglich das Ausmaß und die Form des Geständnisses werden entscheiden. Ansonsten bleibt die Frage „Bleiben Sie Kanzler“ eigentümlich. Auch ein Misstrauensvotum bedeutet kein langfristiges Ende für den Kanzler. Eher führt Österreich mit Kurz eine postmoderne Liebesbeziehung: Unser on-and-off Kanzler. Gerade ist es halt ‚complicated‘.     

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