Wie die EU ihr brutales Grenzregime baut

Die EU setzt an der türkisch-griechischen Grenze die Menschenrechte für Geflüchtete außer Kraft. Mit Gewalt will sich die EU jene Menschen fern halten, die vor einem Krieg fliehen, den sie selbst befeuert. Das ist ihr Grenzregime, schreibt Klaudia Wieser.

Die Europäische Union schaut nicht nur zu. Sie ist viel mehr Akteurin in den kriegerischen Auseinandersetzungen, die in Syrien seit neun Jahren toben. Sie kooperiert diplomatisch und militärisch mit lokalen und internationalen Kräften vor Ort. Im Schatten des Krieges baut sie außerdem ihr brutales Grenzregime aus. Auch wenn sich die Mitgliedsstaaten nicht immer einig sind, der Kurs für geschlossene Grenzen ist klar. Das wird an der griechisch-türkischen Grenze gerade wieder besonders deutlich. Dort setzt die EU die Menschenrechte außer Kraft.

Nach der „Öffnung” der türkischen Grenze zu Griechenland versuchen tausende Menschen vor allem aus Syrien, Afghanistan, dem Irak am Land und Seeweg in die EU zu kommen. Sie werden zum Spielball der Politik. Mit reiner Gewalt will die EU die Menschen an der Einreise hindern. Ein vierjähriger Bub aus Syrien kentert in einem Schlauchboot mit 48 weiteren Frauen, Männern und Kindern vor Lesbos und ertrinkt. Ahmad Abu Emad aus Aleppo wird beim Grenzübertritt von der griechischen Polizei erschossen. Das ist heute die grausame Realität an den EU-Außengrenzen.

Strategiewechsel der Türkei

Grund für die aktuelle Situation ist die neue türkische Strategie. Premierminister Recep Erdoğan hindert die Geflüchteten nicht mehr, in die EU zu gelangen. Er scheint den EU-Türkei-Deal aufgekündigt zu haben. Dass die EU, aber auch Sebastian Kurz und Werner Kogler, ihm die Schuld an der humanitären Krise in der Ägäis geben ist aber zynisch. Der Deal war von Beginn in an allen Ecken und Enden zerbrechlich.

Noch vor kurzem stellte die Migrationsforscherin Valeria Hänsel die Frage, was wohl passieren würde, wenn der Deal platzt? „Ohne diese Maßnahmen würde die Gewalt, die angewendet wird, um die Fluchtmigration zu stoppen, im Inneren Europas wieder sichtbarer. Dann würde es sehr viel schwieriger, Tausende von schutzsuchenden Menschen in den ohnehin schon völlig überfüllten und stacheldrahtumzäunten Lagern auf griechischen Inseln, wie etwa auf Lesbos, festzuhalten.“ Hänsel weist auch darauf hin, dass das Schweigen der EU, das mit dem Deal gekauft wurde, Massenabschiebungen von syrischen Geflüchteten aus der Türkei in syrische Kriegsgebiete deckt. Zum Beispiel nach Idlib.

„Komm bitte nicht zurück nach Hause“

Die Zustände dort, in der Region im Nordwesten Syriens, sind katastrophal. Schon seit 2011 dient Idlib als Zufluchtsort für Vertriebene aus dem Landesinneren. Das führt dazu, dass sich mehr als drei Millionen Menschen auf einem Gebiet so groß wie Salzburg aufhalten. Wie es dort aussieht, verrät ein Brief des siebenjährigne Kinan aus Idlib an einen Freund: „Lieber Zeid, ich vermisse dich so sehr, aber bitte komm nicht zurück nach Hause. Hier herrscht totales Chaos und Zerstörung. Menschen haben die Stadt verlassen und ihre Häuser sind zerstört und verbrannt.“ Dieser Brief ist einer von unzähligen Zeugenberichten, die Medienaktivist*innen und Frauenorganisationen vor Ort unter schwersten Bedingungen sammeln und veröffentlichen. Idlib gilt nach Daraa, Homs, Aleppo und Ghuta als weitere Rebellenhochburg, in dem das syrische Regime seit 2017 Menschen zusammentreibt. Die russische Luftwaffe bombardiert sie systematisch.

Bekannte Strategien

Die für Zivilist*innen mörderische Kriegsstrategie mit Massenbombardierungen, Einsatz von Bodentruppen und Angriffe auf Infrastruktur wie Krankenhäuser, Schulen und Märkte ist für die Menschen in der Region nicht neu. Schon die US-geleitete Koalition gegen den IS wandte ähnliche Methoden an. Frankreich und Großbritannien waren aktiv mit ihrer Luftwaffe beteiligt, weitere europäische Staaten lieferten Munition, Waffen und stellten militärische Beratung zur Verfügung. Vor allem die massiven Angriffe gegen die Stadt Rakka von Juni bis September 2017 kosteten laut Amnesty International 1.600 Zivilist*innen das Leben und zerstörten mehr als 11.000 Gebäude. Die Rüstungsindustrien Deutschlands und Frankreichs profitieren nicht nur durch Waffengeschäfte mit verschiedenen Kriegsparteien, sondern auch von einem Aufstocken der militärischen Ausgaben Griechenlands.

Die EU macht ihre Grenzen also nicht einfach dicht und beobachtet, sondern sie befeuert seit Jahren Fluchtursachen in Syrien direkt und indirekt. Nach dem völkerrechtswidrigen Einmarsch der Türkei im Oktober 2019 und dem zunehmenden militärischen Engagement der Türkei in verschiedenen Regionen in Nord-Syrien eskalierent die Lage rund um Idlib erneut. Mehr als eine Million Menschen auf der Flucht. Sie harren in der Kälte in dürftigen Zelten aus und gelangen zwischen die Fronten. In die Türkei können sie nicht fliehen, die Grenze ist durch eine von EU-Geldern mitfinanzierte „Sicherheitsmauer” abgeriegelt.

Nicht mehr als ein Buzzword

Und Österreich? Die Bundesregierung will den Grenzschutz stärken und „den Menschen in Syrien helfen“. Hilfe vor Ort ist schon davor zum neuen Buzzword der Auslagerung des Problems geworden. So verhandelt die österreichische Regierung gestern über die Aufstockung der humanitären Hilfsgelder für Syrien um drei Millionen Euro. Katastrophenhilfe ist wichtig. Doch was bedeutet sie in Syrien? Das UNHCR, das die internationale humanitäre Hilfe in Zusammenarbeit mit andern Organisationen vor Ort koordiniert, muss ihre Einsätze mit den Regeln des syrischen Regimes in Damaskus abstimmen. Es ist schwierig, in nicht vom Regime kontrollierten Zonen zu intervenieren. Alternativen dazu waren bis vor Kurzem Grenzübergänge in Jordanien und im Irak, sie wurden jedoch Anfang Jänner auf Druck Russlands im UN-Sicherheitsrat für Hilfsgüter geschlossen. Es bleibt nur mehr der Weg über die Türkei.

Mark Lowcock, Leiter des Amtes der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten beschreibt die Situation als humanitäre Katastrophe. Es kann keine ausreichende Versorgung zur Verfügung gestellt werden, Babys und Kinder erfrieren in ungeheizten Zelten nahe der türkischen Grenze und Mitarbeiter*innen von Hilfsorganisationen werden oft selbst Opfer von Angriffen und müssen fliehen.

Grenzen auslagern

Die EU antwortet auf die Zuspitzung der Lage mit einem Aufstocken von Frontex-Einheiten und 700 Millionen für „Krisenmanagement” in Griechenland. Sie wird im Wissen um die Zustände im Norden Syriens alles daran setzen, die Risse im EU-Türkei-Deal zu kitten. Damit betreibt sie die Auslagerung der Grenzen weiter wie schon in Libyen und am Balkan. Was zur Zeit am Brenner, im Burgenland und an der südsteirischen Grenze noch als Grenzschutz „geübt“ wird, materialisiert sich an der kroatisch-bosnischen Grenze nicht mehr als 500 Kilometer von Wien entfernt. Gewalt gegen Geflüchtete und nach Jahren des Weges vollkommen erschöpfte Menschen steht an der Tagesordnung. Diese Maßnahmen haben zwar kurzfristig zum Rückgang von Ankünften geführt, aber die Ursachen des Problems (u.a. Profitinteressen, Rassismus und Klimawandel) können sie nicht beheben.

Keine Normalität

In der aktuellen Situation ist die Arbeit von transnationalen Bewegungen und Aktivist*innen zentral. Nicht nur halten sie die Forderung nach offenen Grenzen aufrecht, sondern leisten unglaubliche Solidaritätsarbeit und dokumentieren die Verbrechen Europas auch jenseits direkter Außengrenzen. Sie erinnern uns, dass Bilder von aus zerbombten Häusern gezogenen Menschen in Syrien und anderswo nicht normal sind. Und, dass Schlauchboote die von europäischen Grenzbeamten zum Kentern gebracht werden, nicht normal sind. Durch sie wissen wir auch, dass Widerstand möglich ist.

 

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