Idlib, ein Gebiet im Nordwesten Syriens, ist einer Militärkampagne durch das syrische Regime und Russland ausgesetzt. Wie sich die Zivilbevölkerung und Aktivist*innen dagegen organisieren und welche Rolle die europäische Außenpolitik spielt, berichtet Ansar Jasim von Adopt a Revolution.
Die heutige Region „Idlib“ gilt als letztes Gebiet in Syrien, das von oppositionellen Gruppen kontrolliert wird. Es streckt sich von Nord-Hama, der Stadt Idlib, West-Rif-Aleppo und dem Umland von Lattakia und hat viele Grenzen. Sie führen dazu, das eine Flucht aus der Region faktisch unmöglich ist.
Denn zum einen grenzt es an vom Regime und und seiner Armee kontrollierte Gebiete. Im Umland von Aleppo sind das beispielsweise iranische und schiitisch afghanische Söldner, die vom Iran angeworben wurden. Im Norden grenzt es an Rif- Aleppo, die Region Afrin, die unter türkischer Besatzung steht. Östlich davon besteht eine kleine YPG- kontrollierte Enklave, um die viel umkämpfte Stadt Tell Rif’at. Die ungefähr 90 Kilometer lange Grenze mit der Türkei ist durch eine Grenzmauer abgeschirmt, drei Meter hoher Beton. Der nächste Grenzübergang in die Türkei in Lattakia steht unter Kontrolle des syrischen Regimes.
Wer lebt in Idlib?
In Idlib leben fast dreieinhalb Millionen Menschen – auf einer Fläche, die nicht einmal so groß ist, wie das Bundesland Salzburg. Dort leben, zum Vergleich, gerade einmal eine halbe Million Menschen.
In Idlib hat sich die Situation dabei in den letzten Jahren zugespitzt. Fast ein Drittel der Einwohner*innen sind Binnenflüchtlinge, die bereits zwangsvertrieben wurden oder geflüchtet sind. Die Region, die seit Jahren Zerstörung und Krieg und keine nennenswerte ökonomische Entwicklung erlebt, musste das auffangen. Dass diese Gemeinden dennoch weiterhin funktionieren und immer wieder mit Vertreibung und weiteren Flüchtlingen umgehen, liegt an einer selbstorganisierten und humanitären Versorgung.
Kreation von „Idlib”
Im Februar 2019 brachte Hai‘at Tahrir Al-Sham (HTS), ein Gruppe, die aus Al-Qaeda hervorgegangen ist, Idlib unter seine Kontrolle. HTS geht massiv gegen Kritik vor, erst im November 2018 ermordete sie mutmaßlich zwei Journalisten. Dennoch unterstützen die meisten Bewohner*innen HTS nicht. Die zivile Infrastruktur ist nicht von HTS, sondern selbst-organisierten Gruppen zur Verfügung gestellt. Sie haben unter anderem Schulen, Universitäten und Krankenhäuser aufgebaut. Besonders in Städten wie Kafrnubul und Maarat An-Numan, die sich durch wöchentliche Demonstrationen gegen das Regime und teilweise täglichen und über Monate anhaltenden Protest gegen dem HTS-Vorgänger Nusra-Front hervortaten, haben einen Raum für eine sich entwickelnde progressive Zivilgesellschaft geschaffen. Genau jene Akteur*innen werden jetzt besonders intensiv bombardiert.
Denn die Kriegsparteien und die internationale Gemeinschaft verkennen die Kämpfe gegen die HTS. Anhaltende Bombardierungen und Vertreibung werden von Russland und dem Regime als Terrorismusbekämpfung bezeichnet.
Humanitäre Situation
Seit Ende April rückt zudem das syrische Militär vom Süden vor – und setzt auf eine Politik der verbrannten Erde. Die Stadt Kafr Naboudeh wurde buchstäblich dem Erdboden gleichgemacht. Gemeinsam mit der russischen Armee nimmt sie zudem seit Mai auch die zivile Infrastruktur ins Visier. Drei IDP-Einrichtungen, 20 Krankenhäuser und 25 Schulen brannten aus. 400.000 Schüler*innen, die kurz vor ihrem Prüfungen standen, mussten diese aussetzen.
Die Region versinkt im Chaos. 300.000 Menschen sind mittlerweile auf der Flucht und brauchen Unterkunft. In einem Gebiet, das seit 2011 immer wieder Flüchtlingsströme erlebt hat, und seit 2017 der Hauptzufluchtsort für Zehntausende aus anderen Gegenden Syriens geworden ist, kann man sich nur vage vorstellen, was das bedeutet.
Viele Menschen haben unter ihren Häusern oder in ihren Wohnvierteln Bunker (aus)gebaut. Das aber bietet das seit der Benutzung Bunker-sprengender Bomben keine sichere Option mehr. Medienaktivist*innen dokumentierten mehrere Fälle, in denen ein Schutzort zum Massengrab geworden ist. Der Journalist Akram Al-Ahmad erzählt, dass „wir nun Löcher in die Erde graben, in das immer nur ein Familienmitglied reinpasst. Das verteilen wir im Garten ums Haus. Somit können wir wenigstens sicherstellen, dass bei einem Angriff nicht alle sterben.“ Weiterhin kümmert sich die Civil Defense, auch bekannt als White Helmets, um die Verletzten und Verschütteten, um die Versorgung.
Zivilgesellschaftliche Organisation
Während Russland und Syrien die Region bombardieren, versagt der Westen seine Unterstützung. Auch Deutschland und Frankreich haben auf die Machtübernahme der HTS reagiert und im Jänner 2019 ihre Finanzierung von humanitären Akteur*innen weitgehend eingestellt. Die lokalen Organisationen, die die Menschen mit Essen und Trinken versorgen, versuchen ihr Möglichstes. HTS hat weder die Kapazitäten noch Interesse am Schicksal der Zivilist*innen, berichten Aktivist*innen. Sie versuchen es dennoch vorzutäuschen. In Atareb zwingen sie die lokalen Organisationen in ihrem Namen, die Lebensmittelpakete zu verteilen. Mehr Legitimität verschafft das HTS nicht.
Umso wichtiger, dass die internationalen Geldgeber nicht einfach panisch ihre Unterstützung abziehen. Gerade jetzt müssen die Strukturen gestärkt werden. „HTS hat unglaubliche Angst vor dem Zorn der Lokalen, die würden niemals einfach eine Organisation schließen. Und zudem sind sie gar nicht fähig, bestimmte Bereiche, wie Medizin abzudecken. Es ist also absolut notwendig für die Grundversorgung der lokalen Zivilbevölkerung“, sagt Akram Al-Ahmad.
Widerstand nicht nur gegen das Regime
Dennoch sind Millionen von Menschen in Idlib mit der Bezeichnung der Region wie „Dschihadisten-Enklave“ oder „Terroristen-Hochburg“ einer extremen Dehumanisierung durch selbsternannte anti-imperialistische Linke und Mainstream-Presse ausgesetzt. Der minimale Schutz von Menschenrechten wird den Menschen in Idlib dementsprechend nicht zugestanden. Auch wenn es aus Europa schwierig ist, für die Menschen in Syrien etwas zu tun, sollten wir wenigstens an der Front zu Hause kämpfen. Die EU spielt in Syrien militärisch kaum eine Rolle, so tut sie das doch im Grenzschutz und durch internationale Geberpolitik. Dank europäischen Geldern konnte die Türkei eine sehr effiziente „Sicherheitsmauer“ entlang der gesamten türkisch-syrischen Grenze bauen. Menschen, die also vor Bombardierungen fliehen, können nirgendwo mehr hingehen – danke europäischer Außenpolitik.