Der Brexit und die linke Ratlosgikeit

Spätestens seit der Brexit-Deal von Theresa May im britischen Parlament durchfiel, weiß niemand, wie es nun weitergeht. Auch die Linke nicht, sie bietet keine Alternative an. Solange sie nicht noch radikaler versucht, die Gesellschaft des Vereinten Königreichs zu verändern, wird das so bleiben, meint Richard Seymour.

Er ist kein Liebkind der Linken, wir haben ihn nicht auf die Welt gebracht. Der Brexit war das Ergebnis einer Auseinandersetzung innerhalb der konservativen Partei, in der sich die schlimmste Seite durchgesetzt hat. Sie konnte sich durchsetzen, weil es beim Referendum keine linke Option gab. Die Wut – eine soziale Wut, die eine legitime Grundlage hatte – die manche Brexit-UnterstützerInnen antrieb, entlud sich so auf rechte Weise und wurde verknüpft mit Anti-Migrations-Propaganda und Abschottungspolitik. Die Linke beschränkte sich auf die Verteidigung des Status Quo, versprach eine reformierte EU und beschädigte sich damit selbst.

Keine öffentliche Meinung

Es ist keine Überraschung, dass Theresa May ihre Brexit-Abstimmung verlor. Sie leidet noch immer unter ihrem schlechten Wahlergebnis bei den Neuwahlen 2017. Kein Labour-Abgeordneter wird sie, die schwache Premierministerin, unterstützen. Dabei war das doch der Grund, warum May überhaupt Neuwahlen wollte: Sie wollte ehemalige UKIP-WählerInnen zurückgewinnen, Labour einen Dämpfer versetzen und so einen Keil in die strauchelnde Partei unter Jeremy Corbyn treiben. Wäre ihr das gelungen, hätte May wohl jeden Deal der Welt durch das Parlament gebracht. Doch es kam anders. Die Labour Party stellte im Wahlkampf erfolgreich die Klassenfrage in den Mittelpunkt und verhinderte damit eine konservative Mehrheit. Jetzt ist May von der nordirischen Partei DUP und den Parteirechten abhängig. Deshalb hatte sie bei der Brexit-Abstimmung keine Chance.

Der Brexit hat aber nicht nur keine parlamentarische Mehrheit. Es gibt auch in der Bevölkerung schlicht keine Mehrheit für irgendeinen möglichen Ausgang dieser Episode. Aktuelle Umfragen zeigen, wie gespalten die Öffentlichkeit ist. Es ist, wie Bourdieu einst sagte: „Die öffentliche Meinung gibt es nicht“. Nicht jede Meinung ist gleich, manche sind überzeugter als andere, manche stärker, manche haben mehr Einfluss. Ihre praktische Bedeutung liegt schlicht darin, dass politische Führung bedeutet, Stimmungen zu kanalisieren und so aus diffusen Strömungen einen Block zu formen.

Das Unmögliche fordern

Die Tories sind entlang von Klassenlinien gespalten: Während ihre WählerInnen aus der ArbeiterInnen- und der Mittelklasse eher einen harten Brexit unterstützen, ist die bürgerliche Rechte für den sanftest möglichen. Und die Linke? Sie spaltet oder einigt sich eher an anderen Fragen als am Brexit. Sie ist in der besonders schwierigen Lage, dass sie den Status Quo nicht verteidigen, aber auch keine linke, rebellische Alternative anbieten kann. Ein „linkes Remain“ ist eine Status-Quo-Position, der Lexit hat kein überzeugendes Programm.

Den Slogan der „Reform“ zu beschwören heißt noch nicht zu wissen, wie sie funktionieren soll und „Kritik“ ist etwas anderes als ein Transformationsprogramm. Slogans, Kritiken und auch Programme wiederum brauchen soziale Kräfte, die sie umsetzen können. Schließlich reden wir davon, entweder die EU zu reformieren – eine Institution, die noch schwieriger zu verändern ist als ihre Mitgliedsstaaten – oder den britischen Kapitalismus im Rahmen eines EU-Austritts zu reformieren. In beiden Fällen wäre eine radikale Neuordnung des gegenwärtigen, scheiternden Gesellschaftsvertrages nötig. Dafür braucht es organisierte Communities im ganzen Land, die in der Lage sind, für eine solche gesellschaftliche Neuordnung zu argumentieren und sie in die Tat umzusetzen.

Eine Lösung, die keine ist

Aber momentan sieht der linke Brexit, der bestenfalls möglich wäre, so aus: Ein mehr oder weniger humaner Wandel, der von oben herab durchgeführt wird, die schlimmsten ökonomischen Verwerfungen verhindert und eine gewisse Bewegungsfreiheit bewahrt. Dabei wird der britische Kapitalismus sich auch danach noch immer um die EU drehen. Sie wird weiterhin der Koloss sein, der die Regeln vorgibt.

Die andere Option, ein zweites Referendum, ist eigentlich keine. Aditya Chakrabortty hat Corbyn diese Möglichkeit sehr umsichtig nahegelegt. Er plädiert für ein zweites Referendum, in dem Labour vehement für ein Remain eintreten sollte. Aber wie? Chakrabortty selbst sieht die Risiken eines Ausftands der Basis und einer möglichen Spaltung der Partei. Ich würde sagen, dass die Probleme noch tiefer liegen. Selbst wenn es gelingen würde, eine Mehrheit für eine Abstimmung im Parlament zu finden, und es möglich wäre, eine faire Abstimmung abzuhalten, wie soll Labour eine linke Kampagne für einen Verbleib in der EU fahren? Chakrabortty will eine überzeugendere Version der Kampagne von 2016, in der die Partei die „soziale“ Seite der EU in den Vordergrund rückt. Aber es gibt einen Grund dafür, warum das schon vor zweieinhalb Jahren nicht gereicht hat.

Die drohende Katastrophe

Es könnte sogar noch schlimmer kommen als damals. Denn Chakrabortty erwähnt das Thema Migration nicht. Im ersten Referendums hatte sich die Parteiführung um Corbyn für die Bewegungsfreiheit ausgesprochen, während die VertreterInnen der „Parteimitte“ gar nicht darüber sprachen oder härtere Rhetorik in der Migrationsfrage und scharfe Grenzkontrollen forderten. 2019, nach zwei Jahren in denen es die Partei nicht geschafft hat, sich klar zum Prinzip der Bewegungsfreiheit zu bekennen – ein Fehler aus meiner Sicht – ist es schwer vorstellbar, wie Labour sie nun vehement im Rahmen einer Remain-Kampagne verteidigen soll.

Die offizielle Position von People‘s Vote, die sich für eine Neuaustragung des Referendum starkmachen, ist, dass es auch in der EU möglich wäre, die Migration einzuschränken. PolitikerInnen wie der ehemalige Labour-Innenminister Alan Johnson, Ex-Premier Tony Blair oder der konservative Remainer Ken Clarke wollen diese Frage zum Thema machen. In einem zweiten Referendum würden sie MigrantInnen aus Nicht-EU-Ländern zum wahren Problem erklären und fordern, dass die EU mehr gegen sie tun muss.

Eine Kampagne auf dieser Grundlage wäre eine absolute, demoralisierende, rassistische Katastrophe. Sie würde eine Vielzahl an leidenschaftlichen Remain-UnterstützerInnen abschrecken und die Linke spalten. Profitieren würden die rechten NationalistInnen. Und am Ende würde die Mehrheit entweder wieder für den Brexit stimmen und damit Jacob Rees-Mogg stärken, oder Remain würde derart knapp siegen, dass nichts geklärt wäre. Und was dann? Ein drittes Referendum, das dann aber wirklich entscheidet?

Um die Beliebtheit kämpfen

In dieser Situation gibt es keine einfachen Siege zu erringen. Das Problem ist nicht einfach auf Fehler einer Parteiführung oder einer politischen Strömung zurückzuführen. Es ist kein Problem, das aus aus mangelndem politischen Willen oder fehlender Kreativität entstanden wäre. Die Entscheidung für den Brexit war das Ergebnis einer Pattsituation in den politischen Institutionen, einer Krise des neoliberalen Kapitalismus und des langfristigen Wiederauflebens des rassistischen Nationalismus. Letzterer ermöglicht die Verdrängung der politischen und ökonomischen Krisen, indem er den Traum der Wiederherstellung nationaler Größe anbietet. Bis jetzt hat Labour versucht, diese Verdrängung umzukehren und statt über Nation wieder über Klasse zu reden. Aber der Schaden ist angerichtet. Um damit wirklich erfolgreich zu sein, braucht es Zeit und eine sehr viel kämpferische Position in Fragen des Rassismus und der Migration – auf die Gefahr hin, damit kurzfristig an Popularität einzubüßen.

Es gibt langfristige Tendenzen innerhalb der britischen Gesellschaft, die die Erosion von nationalistischen und rassistischen Blöcken andeuten. Aber es bräuchte eine starke politische Führung, um das auszunutzen und damit die Politik dieses Landes neu auszurichten. Eine solche Bewegung müsste von organisierten Mitgliedern der Labour Party ausgehen, denn viele in der Partei- und Gewerkschaftsführung haben daran gar kein Interesse.

Aber diese Bewegung fehlt eben. Deswegen stehen wir, wo wir jetzt stehen: Gezwungen, zwischen  schlechten Alternativen zu entscheiden, die uns die verschiedenen Teile der politischen Rechten vorgeben.

 

Dieser Text erschien im englischen Original auf Richard Seymours Patreon-Seite

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