Sieben Dinge, die wir von Jeremy Corbyn lernen können

Auch in Österreich freuten sich viele über den Wahlerfolg von Jeremy Corbyn. Tatsächlich gibt es von seiner Kampagne viel für kommende Herausforderungen zu lernen, meint Hanna Lichtenberger.

Die Wahl liegt Matthew Goodwin schwer im Magen – und zwar buchstäblich. „Ich glaube nicht, dass Labour unter Jeremy Corbyn 38 Prozent erreicht. Wenn doch, werde ich fröhlich mein neues Brexit-Buch essen“, verkündete der Professor für Politikwissenschaft an der Universität Kent wenige Tage vor der Wahl auf Twitter. Labour schaffte 40 Prozent und Goodwin verspeiste zumindest eine Seite seines Buchs vor laufenden Kameras.

Goodwin steht beispielhaft für die die ökonomischen, medialen und politischen Eliten in Großbritannien. Sie alle waren überzeugt, dass Jeremy Corbyn scheitern würde und wünschten sich das großteils wohl auch. Selbst hochrangige ParteikollegInnen hofften auf eine Niederlage, um Corbyn stürzen zu können. Doch es kam anders: Labour erzielte ein historisch gutes Ergebnis. Die Partei konnte 31 der umkämpften „Battleground“-Wahlkreise gewinnen und musste nur fünf an die Tories abgeben. In Prozentzahlen liegt Labour nun weit vor sozialdemokratischen Schwesterparteien anderswo, etwa in Deutschland, Frankreich, Spanien oder Österreich.

Auch hierzulande fieberte ein beachtlicher Teil der diversen Linken mit Corbyn mit. Selbst wenn sich nicht alles Eins zu Eins umlegen lässt, können wir vieles von seiner Kampagne lernen.

1. Wir müssen soziale Fragen offensiv in den Mittelpunkt stellen

Gedrucktes Labour-Wahlprogramm
Foto: Dave Levy

Wendepunkt des Labour-Wahlkampfs war die Präsentation des Programms. Auf 128 Seiten enthält es sowohl Corbyns Kernthemen wie auch Kompromisse mit dem blairistischen Parteiflügel.

Neben einem Vorschlag für einen weichen Brexit umfasst das Programm eine Fülle von arbeitsrechtlichen und sozialpolitischen Forderungen: das Verbot von „Null-Stunden“-Verträgen, vier neue Feiertage, die Erhöhung den Mindestlohns auf 10 Pfund pro Stunde für alle über 18 Jahre oder das Verbot unbezahlter Praktika. Auch eine Begrenzung von ManagerInnengehältern unter bestimmten Bedingungen und die Rückverstaatlichung von Post und Bahn sind enthalten. Dazu kommen etliche Punkte zur Absicherung der staatlichen Gesundheitsversorgung NHS und zum öffentlichen Wohnbau.

Diese Forderungen betreffen das Leben der meisten Menschen direkt. Corbyn gelang es in seinen öffentlichen Auftritten, immer wieder auf das Programm zu verweisen. Er stellte soziale Themen in den Mittelpunkt und benannte, wer die Schuldigen der Misere im Sozialsystem sind, wer von der derzeitigen Politik profitiert („the few“ oder „the rich“). Corbyn ging nicht in die „Mitte-Falle“, sondern benannte Klassenwidersprüche. Statt sich auf die Tory-Themen Brexit, Führungskompetenz und rassistische Hetze unter dem Schlagwort der „Sicherheitspolitik“ einzulassen, setzte er eigene Schwerpunkte – und überzeugte damit.

2. Wer Bewegung von unten erzeugt, muss die Medien nicht fürchten

Mädchen mit VoteLabour-Schild
Foto: Andy Miah

Davor hätte wohl selbst die Kronen-Zeitung Skrupel: Die Titelseite der Boulevardzeitung The Sun zeigte am Wahltag einen karikierten Jeremy Corbyn in einer Mülltonne und nannte ihn einen „Freund von Terroristen“. Das war kein Einzelfall: Quasi alle TV-Sender, Zeitungen und Radios diskutierten ausführlich, ob Corbyn führungsunfähig, eine Gefahr für Großbritannien oder ein Kommunist sei. Premierministerin Theresa May weigerte sich gar, mit ihrem Herausforderer im Fernsehen zu diskutieren.

So schwierig die mediale Ausgangslage auch war, so stark war Corbyns Vorteil auf der Straße. Zehntausende Freiwillige, ob Parteimitglied oder nicht, beteiligten sich an Hausbesuchen. Eine Website mit angebundener Mitfahrzentrale sorgte dafür, dass vor allem chancenreiche Wahlkreise bearbeitet wurden. Im direkten Kontakt an der Haustür gelang es, die mediale Hetzkampagne ein wenig auszugleichen.

Auch die Labour Party selbst hat sich massiv verändert. Hatte sie am Ende der Ära von Tony Blair und Gordon Brown nur noch gut 150.000 Mitglieder, sind es heute über 500.000. Hunderttausende traten ein, um Corbyn zum Parteichef zu wählen und anschließend gegen einen Putschversuch der blairistischen Parteirechten zu verteidigen. Heute ist Labour die größte sozialdemokratische Partei Europas.

Wir können daraus lernen, wie Politikverdrossenheit überwunden werden kann. Menschen bringen sich ein, wenn es wirkliche Mitbestimmung und ein gemeinsames Projekt gibt, das etwas bewirken kann. Der Linken um Corbyn muss es nun gelingen, die gewonnenen Mitglieder tatsächlich in die Basisstrukturen einzubinden, ihnen ein Mitmachangebot auch abseits von Wahlkämpfen zu machen und die Möglichkeit zu geben, Verantwortung zu übernehmen.

3. Eine Person an der Spitze braucht Rückgrat, nicht nur ein Gesicht

Jeremy Corbyn im selbstgestrickten Pulli
Foto: BBC Newsnight/Youtube

Jeremy Corbyn gilt als ein wenig schrullig. Er fährt mit dem Rad in die Arbeit, macht gerne Marmelade und trägt (von seiner Mutter) selbstgestrickte Pullover. Sein Äußeres ist ihm nicht allzu wichtig. Dafür wirkt Corbyn echt– und das macht ihn sympathisch.

Das zeigt: Das Gesicht an der Spitze einer Bewegung kann auch mal einen Fleck auf dem T-Shirt haben. Die Suche nach dem idealen Kandidaten oder der idealen Kandidatin für ein linkes Wahlprojekt ist nicht notwendig. Viel wichtiger als Perfektion und Angepasstheit sind Glaubwürdigkeit und Rückgrat. Jeremy Corbyn stimmte über 600-mal gegen die Labour-Parteilinie. Video-Zusammenschnitte zeigen, dass er seit Jahrzehnten verlässlich gegen Krieg, Ausbeutung und Sozialabbau eintritt. Er kämpfte auch dann an der Seite sozialer Bewegungen, wenn das sonst keine PolitikerInnen taten. Sie dankten es ihm nun mit ihrer Unterstützung. Diese Verankerung ist ein klarer Startvorteil gegenüber „rechten“, karrieristischen KandidatInnen der Labour-Party.

4. Der Aufbau linker Projekte braucht Geduld und den Mut zum Scheitern

Polizei führt Jeremy Corbyn von Anti-Apartheids-Protest ab

Jeremy Corbyn ist seit Jahrzehnten politisch aktiv und brachte sich in Bewegungen ein, wenn es ihm politisch notwendig erschien. Viele dieser Auseinandersetzungen gingen verloren. Nicht alle Demonstrationen, an denen Corbyn teilnahm, waren so groß wie jene gegen den Irakkrieg 2003, die ihm erstmals große Reichweite brachte.

Er verzweifelte über die Jahre nicht an den Schrecken der herrschenden Politik, sondern setzte seine Kämpfe auch dann fort, wenn er keinen unmittelbaren persönlichen Nutzen davon hatte. Der kontinuierliche Aufbau linker Vernetzung und kritischer Initiativen schafft Räume, um dann effektiv und schlagkräftig zu sein, wenn sich die Möglichkeit für eine Kandidatur oder ein Projekt mit großer Reichweite ergibt.

5. Wer die Sozialdemokratie reformieren will, muss mehr tun als abwarten

Mitglieder von Momentum
Foto: Funk Dooby

Jeremy Corbyn inspiriert viele GenossInnen, die darauf setzen, Kräfteverhältnisse in der SPÖ zu verschieben. Eine falsche Lehre wäre es, einfach abzuwarten, bis die Parteirechte Fehler macht oder wegstirbt. Was sie stattdessen von seinem Erfolg lernen können: Es braucht eine auch für Nicht-Mitglieder sichtbare Vernetzung der linken Kräfte. Und zwar anhand inhaltlicher Fragen, nicht von Länder- oder (Teil-)Organisationsgrenzen. Netzwerke wie Momentum oder Red Labour können ein Vorbild sein, um strategische Fragen effektiver diskutieren und danach öffentlich sichtbar handeln zu können.

Die Labour-Linke hat beharrlich daran gearbeitet, ihre Positionen und Opposition zu New Labour sichtbar zu machen. Nur dank dieser Strukturen gelang es Corbyn, auch gegen den Widerstand von Parlamentsklub und Parteiapparat handlungsfähig zu bleiben. Und auch wenn er immer Labour-Abgeordneter war, hat sich aber nie darauf versteift, nur in diesem Rahmen Politik zu machen. Jahrzehntelang hat Corbyn mit Verbündeten in der Linken und Bewegungen zusammengearbeitet – immer mit Blick darauf, wo sich gesellschaftliche Kräfteverhältnisse sich gerade am besten verschieben lassen.

6. Machen wir Kampagnen mit echten Menschen statt unpolitischen Agenturen

Corbyn mit KrankenpflegerInnen
Foto: Jeremy Corbyn/Facebook

Die Labour-Kampagne war begleitet von einer Reihe hoch professioneller Videos. Einige wurden vom bekannten, gesellschaftskritischen Regisseur Ken Loach entwickelt. Als ein Vorbild kann dessen preisgekrönter Spielfilm I, Daniel Blake gelten. Er zeigt, dass die Zerschlagung des Sozial- und Gesundheitssystems Erniedrigung, Belastung und Wut produziert – und außerdem, wie wichtig Solidarität ist, wie bedeutsam es ist, aufeinander zu achten und gemeinsam zu kämpfen.

Diese Botschaft stand im Mittelpunkt der Social Media-Strategie von Labour. Sie vermittelte, dass „wir“ viele sind und dass man alles schaffen kann, wenn man sich nicht spalten lässt. Die Labour-Kampagne zeigte echte Menschen und deren Geschichten. Auf Veranstaltungen waren es beispielsweise Ärztinnen/Ärzte, KrankenpflegerInnen oder PatientInnen, die über die folgenschweren Kürzungen der konservativen Regierung im Gesundheitssystem sprachen.

Lassen wir die unpolitischen Agentur-Kampagnen. Zeigen wir lieber echte Menschen, deren Leben sich durch ein linkes gesellschaftliches Projekt tatsächlich verändert.

7. Die Linke braucht traditionelle ArbeiterInnen und junge Prekäre

Eltern mit Baby und Schild "Birmingham Babies for Labour"
Foto: Jeremy Corbyn/Facebook

Auf wen soll sich ein linkes Projekt konzentrieren? Auf ArbeiterInnen in klassischen Arbeitsverhältnissen oder auf junge, prekarisierte KleinbürgerInnen? Die Antwort ist simpel: Eine breite Bewegung muss viele Lebensrealitäten aufgreifen und ihnen ein politisches Angebot schaffen. Das Labour-Programm fordert nicht nur eine linke Industriepolitik und einen höheren Mindestlohn, sondern auch das Verbot unbezahlter Praktika, von „Null Stunden“-Verträgen und die Abschaffung der Studiengebühren an öffentlichen Universitäten.

Die breite Mobilisierung unter jungen, gut ausgebildeten Menschen stärkte die Labour-Party im Wahlkampf auch personell. Viele Studierende brachten sich in den Straßenwahlkampf ein, was Menschen mit Kindern und Vollzeitjobs nicht so leicht möglich ist. Wie zuvor schon Bernie Sanders in den USA gelang es auch Jeremy Corbyn, das entweder/oder zu überwinden. Wir müssen vermitteln, dass soziale Absicherung für alle in unterschiedlichen Lebenslagen möglich ist. Dazu müssen wir klar benennen, wo das Geld liegt und wer von der herrschenden Politik profitiert.

 

Hanna Lichtenberger ist Politikwissenschafterin und Historikerin in Wien. Außerdem ist sie Mitglied im mosaik-UnterstützerInnenkreis.

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