Das Comeback des Jeremy Corbyn

Labour lag 20 Punkte hinten, jetzt hat sie die Tories Umfragen zufolge eingeholt. Wie Corbyn das trotz innerparteilichem Widerstand geschafft hat und welche Chancen er als Premierminister hätte, hat Feyzi Ismail Daniel Fuchs erzählt.

Heute wird in Großbritannien gewählt. Nach einer Aufholjagd liegt Labour unter Jeremy Corbyn in den letzten Umfragen gleichauf mit den Tories von Theresa May. Warum die jüngsten Terroranschläge daran nichts geändert haben, wie der 68-jährige Corbyn gerade die Jungen begeistert und weshalb Labour auch bei einem Sieg vor der Spaltung stünde – über all das hat Daniel Fuchs in London mit der linken Aktivistin Feyzi Ismail gesprochen.

Vor einigen Wochen lag die Labour Party in Umfragen 20 Prozentpunkte hinten, heute hat sie die konservativen Tories quasi eingeholt. Wie war das möglich?

Feyzi Ismail: Jahrzehntelang waren die Tories und Labour kaum noch zu unterscheiden. Jetzt gibt es mit Jeremy Corbyn einen aufrichtigen sozialistischen Kandidaten, der für eine echte Alternative steht. Wer einen Bruch mit dem Bisherigen möchte, hat jetzt eine Wahl.

Mit ihrem Wahlprogramm hat Labour gezeigt: Wir haben konkrete Vorschläge ausgearbeitet und durchgerechnet, jetzt könnt ihr entscheiden: Wollt ihr zum Beispiel höhere Steuern für große Konzerne? Obwohl das einfach gesunder Menschenverstand ist, ist es auch ein radikaler Bruch. Das ermöglicht es vielen Menschen, sich zumindest die Umrisse einer anderen Gesellschaft vorzustellen. Der Zynismus in den liberalen Medien ebenso wie in großen Teilen der radikalen Linken wurde durch Corbyns Kampagne weggefegt.

Umgekehrt haben die Tories sich völlig verschätzt. Mit ihrer Kombination aus Überheblichkeit und Verachtung für die Bevölkerung sind sie extrem unpopulär geworden. Im Laufe der Kampagne hat Corbyn immer mehr Vertrauen in der Bevölkerung gewonnen und Theresa May immer mehr verloren.

Dazu kommt: Über zwei Millionen Menschen haben sich seit der letzten Wahl neu als WählerInnen registrieren lassen. Davon sind mehr als 1,5 Millionen unter 35 Jahre alt. Bei jungen Menschen ist Corbyn extrem populär.

Jugendliche gelten eigentlich als politikverdrossen, auch in Großbritannien. Jetzt sagen zwei Drittel von ihnen in Umfragen, sicher zur Wahl zu gehen, und 67 Prozent davon geben an, Labour zu unterstützen. Woher kommt dieser Enthusiasmus?

Meiner Meinung nach war die These von der politikverdrossenen Jugend immer schon falsch. Sie sind nicht teilnahmslos, es gab einfach niemanden, den sie wählen wollten. Das ist jetzt anders.

Heutige junge Menschen haben auch nicht die Niederlagen der 1980er Jahre erfahren. Sie haben nicht erlebt, wie Margaret Thatcher den Bergarbeiterstreik niedergerungen hat. Zugleich sehen sie, dass ein radikaler Bruch notwendig ist, denn es geht um ihre Zukunft. Corbyns Kampagne macht ganz konkrete Lösungsvorschläge, aber sie gibt den jungen Menschen auch ein größeres Gefühl der Inspiration.

Wer heute unter 25 ist, ist mit der Idee aufgewachsen, dass alle PolitikerInnen gleich sind. Sie sind korrupt, verschlagen, unehrlich. Und plötzlich taucht dieser Typ auf, der ehrlich, bescheiden und zugänglich ist und die richtigen Dinge sagt. Der sich um Themen kümmert, die jungen Menschen wichtig sind: die Abschaffung der Studiengebühren, die Förderung von Sport und Popkultur. Corbyn ist bei einem Konzert der Libertines aufgetreten, die Grime-Szene unterstützt ihn. Da ist eine Art Jugendkultur entstanden.

Du hast bereits das Wahlprogramm angesprochen. Es dreht sich vor allem um soziale Themen: höhere Mindestlöhne, bessere Ausstattung des Gesundheitssystems, Abschaffung der Studiengebühren. Was sind aus deiner Sicht die wichtigsten Forderungen im Programm?

Zunächst die Abschaffung der Studiengebühren. Heute zahlen Studierende im Schnitt 9.000 Pfund pro Jahr. Dann die Wieder-Verstaatlichung von Eisenbahn und Post. Zwei Drittel der Bevölkerung unterstützen sie, wie Umfragen zeigen. Eine Senkung der immens hohen Bahn-Ticketpreise hätte einen positiven sozialen Nebeneffekt. Wenn man für einen leistbaren Preis nach Manchester oder sonstwo in den Norden fahren kann, kommt das Land wieder mehr zusammen. Die Konzentration auf London und Südengland könnte aufgebrochen werden, die Menschen wieder mehr reisen. Darüber hinaus enthält das Wahlprogramm aber auch wichtige Forderungen für mehr Investitionen im Gesundheitssystem, im öffentlichen Wohnbau und der Kinderbetreuung.

Die Kampagne wirkt unglaublich kreativ und lebendig. Wie viel davon ist eigenständig und nicht von der Partei gesteuert?

Viel, sehr viel. Ich habe so ein Ausmaß an Motivation und Engagement in einem Wahlkampf noch nicht erlebt. Das merkt man an kleinen Dingen. An meiner Wohnungstür hingt vor kurzem eine handgeschriebene Botschaft: „Vergiss nicht zu wählen, diesmal ist es wirklich wichtig.“ In London gab es eine Plakataktion, die den Tory-Slogan „Strong and stable“ („stark und sicher“) aufgriff. Plötzlich hingen in der ganzen Stadt Poster mit der Aufschrift „Strong and stable my arse“ („Stark und sicher für’n Arsch“).

Auch viele Gruppen der radikalen Linken sind für Corbyn aktiv. Zu Beginn des Wahlkampfs waren viele noch kritisch, haben aber eingesehen, dass es sinnlos ist, am Rand zu stehen. Das ist ein großer Schritt nach vorne. Andere Kampagnen wie Stop the War Coalition oder die People’s Assembly Against Austerity rufen nicht offiziell für Labour auf, aber gegen die Tories oder für eine Stimme gegen den Krieg. Auch die Gewerkschaften unterstützen Corbyn, selbst solche, die nicht mit Labour verbündet sind.

In den Zeitungen erscheinen immer mehr Leserbriefe, die sich gegen die Austeritätspolitik der Tories aussprechen, die erklären, dass Corbyn eine bessere Wahl für die Unis, das Gesundheitssystem oder die Wohnungspolitik wäre.

Als die Neuwahl angekündigt wurde, dachten wir noch: Oh Gott, sieben Wochen bis zu den Wahlen, das ist viel zu wenig Zeit, um eine gute Kampagne hinzubekommen! Aber jetzt merken wir: Es könnte sich ausgehen!

Nach den jüngsten Terroranschlägen wurde erwartet, dass die Tories in den Umfragen profitieren würden. Doch Labour holt weiter auf. Wie erklärst du dir das?

Mays Reaktion war die übliche: mehr Überwachung, mehr Einschränkungen der Bürgerrechte, der immer gleiche Mist. Corbyn dagegen sagte: Der Extremismus bei uns hat etwas mit den Kriegen zu tun, die anderswo geführt werden. Und das hat er immer schon gesagt. Er ist seit Jahrzehnten in der Anti-Kriegs-Bewegung aktiv. Das Establishment behauptet, die Kriege würden unsere Bevölkerung schützen. Aber einer Mehrheit der Bevölkerung ist längst klar, dass der Terror nur enden kann, wenn Großbritannien seine Rolle in der Weltpolitik ändert.

Dazu kommt, dass Theresa May als Ex-Innenministerin für die Kürzungen bei der Polizei verantwortlich ist. Man kann geteilter Meinung darüber sein, ob wir mehr Polizei brauchen. Corbyn hat jedenfalls erklärt, dass er die Kürzungen rückgängig machen will. Sollte dagegen May die Wahl gewinnen, können wir sicher sein, dass es massive Angriffe auf die muslimische Community geben wird, willkürliche Verhaftungen, die den Rassismus weiter anfachen werden.

Die Medien hatten Corbyn scharf angegriffen, seit er den Labour-Vorsitz übernommen hat. Selbst der linksliberale Guardian erklärte ihn lange für chancenlos, jetzt empfiehlt die Redaktion seine Wahl. Woran liegt das?

Diese Teile der Medien merken, dass die gesellschaftliche Dynamik zunimmt und wollen nicht auf der falschen Seite der Geschichte stehen. Natürlich wissen wir, dass wir den Umfragen nicht allzu viel Bedeutung beimessen sollten. Aber es gibt sie, und sie haben einen Effekt auf die öffentliche Debatte und die Psychologie vieler Menschen. Die sagen sich jetzt: Oh, Labour ist doch nicht so chancenlos wie ich dachte.

Das Popmusik-Magazin NME hob Corbyn sogar auf die Titelseite. Der Chefredakteur erklärte, dass er seine Meinung geändert habe und Labour nun unterstütze. Sowas hört man derzeit oft. Viele Leute merken, dass das, was sie im Guardian und anderen liberalen Zeitungen gelesen haben, nicht wahr ist. Sie merken, dass viele Menschen verzweifelt sind und eine Alternative brauchen. Die leiden unter ihren Wohnbedingungen, dem kaputten Sozialsystem, den Null-Stunden-Verträgen. All das vergessen viele in der Mittelklasse gerne.

Wenn Medien auf diese Trendwende aufspringen, ist das gut. Aber wir dürfen nicht vergessen: Sie haben Corbyn zwei Jahre lang angepatzt, und werden das nach der Wahl wieder tun – auch wenn er gewinnen sollte.

Auch Vertreter des rechten Labour-Flügels, die Corbyn erst letztes Jahr aus dem Amt putschen wollten, unterstützen ihn heute öffentlich. Was hältst du davon?

In einem Wahlkampf müssen sie die Partei unterstützen. Jetzt ist nicht der Zeitpunkt, um einen Putsch anzuzetteln. Einige haben wohl eingesehen, dass sie falsch lagen, dass Corbyn tatsächlich charismatisch und populär ist.

Aber viele wollen ihn weiterhin stürzen und sie werden nach der Wahl weitermachen. Ich denke deshalb, dass es zu einer Spaltung kommt, wenn Corbyn die Wahl gewinnt oder auch nur eine absolute Tory-Mehrheit verhindern kann. Es kann nicht zwei Parteien in einer Partei geben, die sich gegenseitig bekämpfen. Die Rechte würde lieber als Juniorpartner mit den Tories regieren als mit Corbyn zu gewinnen. Manche denken laut über eine neue Zentrumspartei nach, mit Teilen der Liberaldemokraten und der Konservativen, nach dem Vorbild von Macron in Frankreich.

Selbst wenn der Idealfall eintritt und Corbyn die Wahl gewinnt, gäbe es also riesige Probleme, noch bevor er überhaupt sein Amt antreten könnte. Er müsste vermutlich eine Koalition bilden. Die dafür nötigen Deals könnten die Abgeordneten des rechten Flügels torpedieren.

Dazu kommt noch die gewaltige Aufgabe der Brexit-Verhandlungen. Welche Chancen hätte Corbyn als Premierminister überhaupt, seine Politik durchzusetzen?

Klar ist, dass der Brexit völliges Neuland für alle Beteiligten ist. Niemand weiß, wie dieser Prozess ablaufen wird oder welche Regeln in ihm gelten. Für Corbyn müssten sein Wahlprogramm und die Prinzipien dahinter der Ausgangspunkt sein für jede Verhandlung, in die er eintritt. Das bedeutet nicht, dass er keine Kompromisse schließen würde. Aber ich halte Corbyn für integer und denke nicht, dass er das gesamte Projekt aufgeben würde.

Innenpolitisch könnte der Brexit auch manches einfacher machen. Die Verstaatlichung von Post und Bahn etwa widerspricht EU-Regeln, die verpflichtenden Wettbewerb vorsehen. Die Brexit-Verhandlungen stellen alles zur Diskussion. Das ist eine Chance für die Linke, mit Mobilisierungen und Massenkampagnen neue Fragen zu stellen: Welche Art von Gesellschaft wollen wir eigentlich? Das muss von außerhalb der Labour-Partei angestoßen werden.

Was kann die Linke tun, außer Corbyn zu wählen?

Wir müssen uns darauf einstellen, dass es vehementen Widerstand gegen seine Politik geben wird. Um es brutal zu formulieren: Es wird auf einen offenen Klassenkampf hinauslaufen. Und ich denke, dass das eine gute Sache ist. Es wird eine Polarisierung der Gesellschaft geben, Millionen von Menschen werden wütend sein, wenn Corbyns Politik, die sie gewählt haben, verhindert wird.

Wir müssen Corbyn dabei unterstützen, die politischen Forderungen auch tatsächlich durchzusetzen. Es wird an den Bewegungen und Kampagnenorganisationen liegen, ob wir die Verstaatlichungen, die Abschaffung der Studiengebühren und eine offene Migrationspolitik bekommen. Es geht darum, das durchzusetzen, was das Establishment am wenigsten will: mehr Partizipation der Bevölkerung, mehr Engagement in der Politik, mehr Streitlust für unsere Forderungen. Das Establishment fürchtet weniger bestimmte politische Forderungen als die Gefahr, die Kontrolle über den politischen Prozess zu verlieren.

 

Feyzi Ismail unterrichtet an der School of Oriental and African Studies (SOAS), Universität London, und ist in den britischen Anti-Kriegs und Anti-Austerity-Bewegungen aktiv.

Das Interview führte Daniel Fuchs. Der Sinologe und Politikwissenschafter promoviert derzeit an der SOAS.

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