Auslaufende Mietendeckel, teure Wohnungen für die „soziale Durchmischung“ und Autobesitz als Voraussetzung: Sarah Kumnig macht sich Gedanken darüber, wie sozial das Stadtentwicklungsgebiet Seestadt tatsächlich ist.
Spätestens seit den Protesten der LobauBleibt-Bewegung gegen die geplante Stadtautobahn ist der soziale Wohnbau wieder in aller Munde. Er musste als Grund für die Räumung der Baustellenbesetzung am ersten Februar herhalten. Bürgermeister Michael Ludwig und Verkehrsstadträtin Uli Sima wischen alle Argumente gegen den Bau der Stadtstraße von Klima-Aktivist:innen und Verkehrswissenschafter:innen mit Verweis auf die Notwendigkeit zur Schaffung bezahlbaren Wohnraums vom Tisch. Doch wie „sozial“ ist der Wohnbau im Stadtentwicklungsgebiet Seestadt wirklich? Und wie steht es um die aktuelle Wohnpolitik der Stadt Wien im Allgemeinen?
Sozialer Wohnbau nur mit Auto?
Die Seestadt Aspern gilt als eines der größten Stadtentwicklungsgebiete Europas. Über 10.000 neue Wohnungen sollen dort im Norden Wiens errichtet werden, rund 4.000 davon stehen bereits. Die Wiener Stadtentwicklung setzt für die Fortsetzung des sozialen Wohnungsneubaus eine neue vierspurige Straße voraus, anstatt den öffentlichen Verkehr entsprechend auszubauen. Ein Widerspruch nicht nur zu dem kürzlich präsentieren Klimafahrplan, laut dem der motorisierte Individualverkehr in Wien bis 2030 um fast 50 Prozent reduziert werden soll. Es widerspricht auch dem grundlegenden Verständnis von sozialem Wohnbau: Wohnungen, die den Besitz eines Autos voraussetzen, können nicht als „sozial“ bezeichnet werden. Doch nicht nur das Mobilitätskonzept entscheidet darüber, ob Wohnbau wirklich sozial ist, sondern auch die Ausgestaltung des Wohnungsbaus selbst.
Mietpreisregulierung auf Zeit in der Seestadt
Wien ist weltberühmt für den sozialen Wohnbau. Meist schmücken Bilder vom Karl-Marx-Hof oder einem anderen prunkvollen Gemeindebau diese Erzählung. Doch seit den 1990er Jahren verabschiedete sich die Stadt Wien zunehmend von der Strategie, den leistbaren Wohnungsbestand im öffentlichen Eigentum weiter auszubauen und lagerte diese Versorgungsaufgabe an private Akteur:innen aus. Seither wird sozialer Wohnungsneubau von gemeinnützigen Bauträgern in Form von geförderten Wohnungen errichtet. Meist werden sie als „Genossenschaften“ bezeichnet, obwohl fast die Hälfte davon gemeinnützige Kapitalgesellschaften sind.
Inzwischen vergibt die Stadt vermehrt auch an gewerbliche, also profitorientierte Bauträger Wohnbauförderung und öffentliche Grundstücke. Sie müssen zwar Obergrenzen für Mietpreise einhalten, allerdings nur temporär. Dieser kurzsichtige Ansatz ist auch in der Seestadt angelegt. Bis 2015 wurden dort etwa 2.600 geförderte Wohnungen gebaut. Bei über 1.600 davon handelt es sich allerdings um Wohnungen der sogenannten „Wohnbauinitiative“, bei der Mietpreise nur für zehn Jahre gedeckelt sind. Anschließend dürfen gewerbliche Bauträger bei Neuvermietung beliebig hohe Mieten verlangen. Die Möglichkeit, über öffentliches Grundeigentum langfristig leistbaren Wohnraum abzusichern, wurde damit billig verkauft.
Privatisierung sozialer Wohnungen
Ein Regulativ, das dieser Entwicklung von sozialem Wohnbau hin zu einer „sozialen Zwischennutzung“ entgegenwirkt, ist das Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetz. Dieses schreibt gemeinnützigen Bauträgern vor, Mieten anhand ihrer tatsächlichen Kosten für Errichtung und Erhaltung der Gebäude zu berechnen. Gewinnmöglichkeiten sind somit beschränkt und Mietpreise dauerhaft günstiger. Also ein abgesicherter sozialer Wohnungsbestand?
Nein, leider nicht. Seit der Gesetzesnovelle 2019 muss die bereits in den 1990er Jahren eingeführte Kaufoption für gemeinnützige Mietwohnungen schon nach fünf Jahren angeboten werden. Dies führt zu einer konstanten Privatisierung. Allein im Jahr 2020 wurden knapp 1.300 gemeinnützige Mietwohnungen verkauft. Die Stadt Wien versucht dieser Entwicklung mit ihrem SMART-Wohnungsprogramm entgegenzusteuern. Für diese speziell geförderten Mietwohnungen entfällt die Kaufoption. Auch in der Seestadt gehören die kleinen, günstigen SMART-Wohnungen neben (bzw. unter) Luxusapartments zum Bild des neuen Stadtteils.
Teure Mietpreise für „soziale Durchmischung“
In der zweiten Bauphase bis 2020 wurden in der Seestadt jedoch 700 ausschließlich freifinanzierte Miet- und Eigentumswohnungen errichtet. Während gemeinnützige Bauträger hier kostendeckende Miet- und Kaufpreise anbieten müssen, darf der gewerbliche Teil der Bauträger Preise von Anfang an beliebig hoch festlegen. Als Legitimationsstrategie für diese sehr teuren Wohnungen beteuert die Stadt, dass diese Angebote die gewünschte „soziale Durchmischung“ des Quartiers herstellen würden. Doch eine gemischte Bewohner:innenschaft gibt es im sozialen Wohnbau Wiens ohnehin, da dieser nicht nur für die Ärmsten gedacht ist. Die Einkommensobergrenzen von monatlich 3.500 Euro Netto machen rund 80 Prozent der Wiener Bevölkerung formal berechtigt für sowohl Gemeinde- als auch geförderte Wohnungen. Für Haushalte mit geringem Einkommen erschweren finanzielle Eintrittshürden jedoch den Zugang zum geförderten Wohnbau. Rund 500 Euro pro Quadratmeter müssen Mieter:innen meist beim Einzug bezahlen, für eine 100-Quadratmeterwohnung sind das schnell 50.000 Euro.
Um den Wohnbau wirklich (wieder) sozial zu gestalten, gibt es also einiges an Handlungsbedarf. Trotzdem wird permanent auf ihn verwiesen, um dem Protest gegen die geplante Stadtstraße Einhalt zu gebieten. Mitten in der Klimakrise können wir es uns allerdings nicht mehr leisten, Wohnbau und Klima gegeneinander auszuspielen.
Politischer Druck auf die Seestadt
Dass die Stadt Wien bei genügend politischem Druck von unten durchaus bereit und in der Lage ist, Schritte in Richtung Gemeinwohlorientierung zu wagen, zeigt die Geschichte des Roten Wiens. Ein kluges Zusammenspiel von Mietpreisregulierung, Luxussteuer und aktiver Bodenpolitik hat es in den 1920er Jahren möglich gemacht, ein Wohnbauprojekt zu starten, das noch heute weltberühmt ist. Ja, die Rahmenbedingungen haben sich geändert. Und ja, dass die Bodenpreise seit 2019 bei zwei Dritteln allen neu gewidmeten Baulands gedeckelt sind, ist bemerkenswert und im Kontext explodierender Immobilienpreise dringend notwendig. Doch es braucht mehr langfristige und an den Bedürfnissen der Bevölkerung orientierte Ansätze der Bereitstellung von sowohl dauerhaftem sozialem Wohnbau als auch sozialer und nachhaltiger Mobilität. Die Wiederaufnahme des Gemeindeneubaus 2015 ist durchaus sinnvoll, doch die bisher fertiggestellten 120 Wohnungen sind nicht einmal der Rede wert.
Die Stadt darf öffentliche Grundstücke nicht länger an profitorientierte Unternehmen verscherbeln. Auch nicht, wenn sie uns dafür zehn Jahre „soziale Zwischennutzung“ versprechen. Wir benötigen eine Mietpreisregulierung für alle Wohnungen und eine Abschaffung der Kaufoption im geförderten Wohnbau. Das Rote Wien schuf urbane Infrastruktur, die uns noch heute, hundert Jahre später, das Leben erleichtert. Über Boden und Wohnraum im öffentlichen Eigentum lässt sich eher sicherstellen, dass diese zentralen Ressourcen dem Gebrauch der Bewohner:innen und nicht der Profitmaximierung von Unternehmen dienen. Geben wir sie nicht aus der Hand und lassen wir nicht zu, dass leistbares Wohnen und klimagerechte Mobilität gegeneinander ausgespielt werden.