Nuit debout: Warum Frankreichs Jugend Tag und Nacht protestiert

Nuit debout, die Nacht auf den Beinen: Unter diesem Motto gehen seit Wochen über eine Million Menschen in Frankreich gegen die Politik der Regierung auf die Straße. Woher kommt die Bewegung, was will und was kann sie erreichen? Benjamin Birnbaum berichtet aus Paris.

Eigentlich wollte die französische Regierung ihre Angriffe auf die Rechte von ArbeiterInnen leise durch das Parlament winken. Doch das ging gründlich schief. Seit zwei Monaten erschüttern heftige Proteste, Demonstrationen und Streiks das ganze Land und eine Bewegung hält öffentliche Plätze unter dem Slogan „Nuit Debout“ – wörtlich: „Die Nacht über auf den Beinen“ – besetzt. Noch nie war eine formal linke Regierung mit einer linken Massenprotestbewegung konfrontiert.

Auslöser war eine geplante Reform des Arbeitsrechts. Sie sieht vor, dass Unternehmen Gewerkschaften umgehen und den Kündigungsschutz für ArbeiterInnen schwächen können. So würde etwa ein kurzfristiges Sinken des Börsenkurses als Kündigungsgrund genügen. Im Falle einer unrechtmäßigen Kündigung soll die gesetzliche Entschädigung gekürzt werden. Außerdem sieht der Gesetzesvorschlag vor, den Normalarbeitstag von sieben auf zwölf Stunden zu verlängern und den Überstundenzuschlag von 25 auf zehn Prozent zu zu reduzieren. So haben es Regierungschef Valls und Präsident Hollande – beide von der sozialdemokratischen Parti Socialiste – geschafft, den unbeliebten Slogan des früheren rechten Präsidenten Sarkozy „mehr arbeiten, um mehr zu verdienen“ in etwas noch unbeliebteres zu verkehren: „mehr arbeiten, um weniger zu verdienen“.

Zunehmend autoritäre Herrschaft

Neben diesem Frontalangriff auf die Rechte der ArbeiterInnen hat die aktuelle Bewegung ihre Ursachen aber auch in der zunehmend neoliberalen und autoritären Politik der Regierung in den letzten Jahren. So wurden die gesetzlichen Sozialabgaben von Unternehmen 2013 und 2014 um insgesamt 65 Milliarden Euro gekürzt. Im Sommer 2015 wurden Gesetze erlassen, die als Vorläufer der aktuellen Vorschläge gesehen werden können. Sie brachten eine Aushöhlung des ArbeitnehmerInnenschutzes und erlauben es Unternehmen jetzt schon, das Arbeitsrecht zu umgehen. Maßnahmen zugunsten der ArbeiterInnenklasse sucht man vergeblich. So ist es nicht verwunderlich, dass die Regierung zunehmend auf autoritäre Maßnahmen setzt. Deshalb verließen die Grünen schon 2014, als Manuel Valls zum Premierminister ernannt wurde, die Koalitionsregierung. Die Grüne Parteichefin Cécile Duflot erklärte damals: „Valls steht für eine Synthese aus Neoliberalismus und Autoritarismus“. Tatsächlich hatte der frühere Innenminister Valls durch die brutale Zerstörung der Wohnräume von Roma und Sinti Bekanntheit erlangt. Valls rechtfertigte dies durch seine Aussage, Roma und Sinti könnten sich nicht in die französische Gesellschaft integrieren.

Als Paris und Umgebung im Oktober 2015 von mehreren Anschlägen erschüttert wurden, nützte die Regierung die Gelegenheit um den Ausnahmezustand auszurufen. Dadurch wurden Grundrechte massiv eingeschränkt und die Gewaltenteilung der bürgerlichen Demokratie zugunsten der Exekutive ausgehebelt. Demonstrationen wurden verboten, Hausdurchsuchungen ohne richterlichen Beschluss durchgeführt und Bürger_innen ohne Verurteilung unter Hausarrest gestellt. Laut Amnesty International hat der Ausnahmezustand so gut wie nichts mit Terrorismusbekämpfung zu tun, seine Hauptopfer sind Umweltaktivist_innen und vor allem Muslim_innen.

Jugend als Motor der Proteste

All jene, die 2012 ihre Hoffnungen in den Sozialdemokraten Hollande gesetzt hatten, wurden in den letzten vier Jahren bitter enttäuscht. Trotzdem war zunächst nicht absehbar, dass eine so gewaltige Protestbewegung entstehen würde. Als die Regierung am 17. Februar 2016 den Gesetzesvorschlag vorstellte war die Reaktion der Gewerkschaften zunächst gemäßigt. Neben verbalem Protest wurde lediglich ein Streiktag am 31. März angekündigt, wodurch der Regierung über eineinhalb Monate gegeben wurde, um die Öffentlichkeit von den angeblichen Vorteilen der Reform zu überzeugen. Doch weder die Regierung noch die Gewerkschaften hatten mit der Reaktion der Jugend gerechnet. Junge Youtube-AktivistInnen produzierten ein Video, in dem das Regierungsprojekt scharf kritisiert wurde und riefen unter #onvautmieuxqueça („wir sind mehr wert als das“) zum Protest auf. Zugleich wurde eine Internetpetition für die totale Rücknahme des Gesetzesvorschlags gestartet, die innerhalb einer Woche über eine Million Unterschriften sammelte. Im Rahmen dieses Aufschreis begannen Jugendorganisationen an Universitäten und Gymnasien zu mobilisieren und zu einem ersten Protesttag am 9. März aufzurufen. Die Universität Paris VIII wurde als erste von den Studierenden besetzt und verwandelte sich fortan in das Zentrum der Proteste. Weitere Universitäten folgten und das normale Studienprogramm wurde durch kritische Vorlesungen und Debatten ersetzt. SchülerInnen bereiteten Schulblockaden vor und auch die radikaleren Gewerkschaften (darunter die landesweit größte Organisation CGT) mobilisierten an den Arbeitsplätzen. Mit mehreren hunderttausend DemonstrantInnen im ganzen Land konnte die Bewegung mit einem großen Erfolg starten. Motor der Proteste ist die Coordination Nationale Etudiante (nationale Studierendenkoordination), die aus den Versammlungen der verschiedenen Universitäten gewählt wurde. Höhepunkt der bisherigen Proteste war der landesweite Streiktag am 31. März, an dem trotz heftigen Regens über 1,2 Millionen Menschen demonstrierten.

Nuit debout – Die Rückeroberung der Nacht

In Rahmen der Vorbereitungen des 31. März veröffentlichte die linke Zeitung Fakir unter dem Titel „Nuit debout“ den Aufruf, am 31. März nach der Demonstration nicht nachhause zu gehen, sondern öffentliche Plätze – in Paris den Platz der Republik – zu besetzen. Diesem Aufruf folgten mehrere tausend Menschen, die damit eine landesweite Besetzungsbewegung auslösten die bis heute andauert. Unter den BesetzerInnen verbreitete sich schnell die Überzeugung es sei nicht genug gegen ein Projekt zu protestieren, man müsse auch positive Vorschläge einbringen. Somit werden Tage und Nächte damit verbracht über Demokratie und soziale Gerechtigkeit zu diskutieren. Dies ähnelt der Revolution von 1830, als die Arbeiter_innen in Paris begonnen nachts über ihre Emanzipation zu diskutieren. Das hatte zur Folge, dass die Nacht nicht mehr dazu diente, die Kräfte der ArbeiterInnen für die Kapitalakkumulation zur regenerieren, sondern zur Entwicklung eines sozialistischen Projekts.

Bewegung lässt sich nicht spalten

Auch heute hat die Regierung die Besetzungsbewegung und ihr dynamisches Verhältnis zur Studierenden- und ArbeiterInnenbewegung rasch als Gefahr entdeckt. Mehrmals hat die Polizei versucht die Besetzung des Platzes in Paris zu verhindern. Dies findet in einem allgemeinen Kontext der Repression statt: Genehmigte Demonstrationen werden gewaltsam aufgelöst, hunderte Jugendliche wurden seit dem 9. März willkürlich festgenommen und/oder geschlagen, legitimiert durch den immer noch geltenden Ausnahmezustand. Jedoch bläst Polizei und Regierung in der Öffentlichkeit scharfer Wind entgegen. Mehrere Videos zeigen wie Polizist_innen auf Jugendliche einschlagen und selbst eine Polizeigewerkschaft kritisiert die von der Regierung organisierte Repression. Und auch der Versuch der Regierung, die Protestbewegung durch rassistische Kampagnen zu spalten, scheiterte. So forderte Premierminister Valls kürzlich ein Kopftuchverbot an Universitäten – ein bewährtes Mittel in Frankreich, um soziale Bewegungen zu brechen, wie die bekannte feministische Journalistin Mona Chollet jüngst bemerkte. Doch es scheint nicht zu klappen: Über 70 Prozent der Bevölkerung stellen sich aktuell gegen den Gesetzesvorschlag.

Streik als Perspektive

Mit der Besetzungsbewegung unter dem Slogan Nuit Debout hat der Kampf gegen die Arbeitsrechtsreform ein zweites Standbein neben den gewerkschaftlichen Mobilisierungen bekommen. Doch es braucht beides. Dass die Protestbewegung ihre Dynamik großteils außerhalb etablierter Institutionen entfaltet, ist zweifellos ein Zeichen gesteigerter Kampfbereitschaft. Doch die Regierung kann nur in die Knie gezwungen werden, wenn die Gewerkschaften zu einem unbefristeten Streik aufrufen. Und wer weiß, vielleicht erlebt Frankreich dann jene mächtigen Kämpfe, die das Land in der Geschichte schon so oft verzaubert haben.

Benjamin Birnbaum ist Redakteur der französischen Zeitschriften Contretemps und Période.

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